Efeu - Die Kulturrundschau

Direkt in die, pardon, Fresse

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26.11.2016. Die Welt traut ihren Augen kaum: in Berlin soll ein Baudenkmal rekonstruiert werden - und alle sind dafür! Nicht dem Titel, wohl aber dem Anspruch der Kritiker wird Herbert Fritschs "Pfusch" an der Berliner Volksbühne gerecht. Die Presse freut sich über die erste umfassende Schau des slowakischen Konzeptkünstlers Julius Koller in Wien. Die Welt lässt sich in die assoziativ-verschwörungstheoretischen Filmcollagen von Adam Curtis hineinziehen. Und die FAZ lässt sich noch einmal von der ungeheueren Energie der Rolling Stones mitreißen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.11.2016 finden Sie hier

Bühne


Lässt es krachen: Volksbühne von innen. Foto: Thomas Aurin.

"Pfusch" lautet zwar der Titel von Herbert Fritschs Inszenierung, mit der sich der für seine Kapriolen und Dadaismen berüchtigte Regisseur von Castorfs Volksbühne verabschiedet (wiewohl er dem Berliner Publikum erhalten bleibt: Vor Dercon ante portas flieht er an die Schaubühne), doch Pfusch habe er keineswegs geliefert, schreibt die heiter-melancholische Kritik. Ein "Best of Fritsch" bietet dieser Abend, meldet Katrin Bettina Müller in der taz, auch wenn vom Tiefgang anderer Fritsch-Inszenierungen etwas wenig in dieses von Trampolin- und Planschbecken-Einsätzen gestützte Stück hinübergerettet wurde: "Es bleibt der Slapstick und der ist großartig." Dennoch: Die Volksbühne igelt sich für Müllers Geschmack derzeit eine Spur zu sehr darin ein, das Verschwinden aus dem Kulturleben der Stadt zu betrauern: "Die Welt außen dringt zurzeit nicht mehr vor in diesen Bühnenraum, zumindest nicht in den Abenden ihrer großen Regiestars neben Frank Castorf. Man lässt es noch einmal krachen und dankt für die Zeit, die man hier hatte."

Ach, aber schon schön anzusehen ist dieser Abschied eben doch, meint Peter von Becker im Tagesspiegel: "Alles ist wahr und gut, macht Mut, sogar die immer wieder mit verzückten Lachgrimassen und schweißtreibender Energie mit Fingern, Händen, Hintern erzeugte Monotonie und Kakophonie auf den Klavieren." Und am Ende darf jeder aus dem Ensemble auf je eigene Weise tatsächlich "Tschüss" zum Publikum sagen: "Das war's schon, und in den Beifall hinein fällt der Eiserne Vorhang, öffnet sich nicht mehr. Stattdessen grollen im Hintergrund metallische Abbruchgeräusche. Sie sind noch mal: eine späte Botschaft."

Aller Sinnverweigerung zum Trotz deutet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung das Stück und dessen Titel im Licht des gegenwärtiges Eiertanzes in der Berliner Kulturpolitik. Und dann wird aus diesem Abend "ein sehr sinnvoller Kommentar zum Irrsinn. Deshalb: Armer Fritsch, wieder nichts geworden mit der Sinnlosigkeit − und ebenso wenig mit dem Pfusch, was die Qualität des Dargebotenen angeht. Insofern ist Fritsch, zum Glück der Zuschauer, doppelt gescheitert." Weitere Besprechungen in der nachtkritik, SZ und FAZ.

Außerdem: Beim WDR kann man die Hörspielbearbeitung von Ödön von Horváths im vergangenen Jahr wiederaufgetauchtem Stück "Niemand" nachhören.

Besprochen werden der Auftakt des Afropean Festivals in Frankfurt (FR) und Florian Fiedlers "Heidi"-Inszenierung am Jungen Schauspiel in Hannover (taz).
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Musik

Die Rolling Stones bringen ein Bluescover-Album heraus (mehr dazu plus Hörprobe im gestrigen Efeu) - ein Fest für den Classic-Rock-Experten der FAZ, Edo Reents, für den sich mit diesem - wohl durchaus letzten - Album der Band ein Kreis schließt. Schließlich waren die Stones in Sachen Blues doch "immer gelehrige Schüler", die sich auch hier sehr demütig in den Dienst der guten Sache stellen: Sie spielen "voller Hingabe oder Engagement, Herzblut oder Passion. ... Kein Stück wird hier 'verbessert' oder 'verkompliziert', aber jedes teilt seine ungeheure Energie unmittelbar mit. Jede Slide-Note sitzt, und wenn Jagger seine sagenhaften Lippen an die Mundharmonika hält, ist es, als peitschte einem der Chicagoer Wind direkt in die, pardon, Fresse."

Dass zu den glühendsten Stones-Verehrern nun ausgerechnet auch ein gewisser Donald Trump zählt, macht jenen fast sympathisch, meint Jochen Hieber ebenfalls in der FAZ: "Trump ist - anders übrigens als die Rolling Stones selbst - ein Rebell gegen jenes Establishment geblieben, dessen kapitalistische Regeln er mit großer Ego-Energie befolgte und dem er nun politisch die Stirn bot." Für die SZ plaudert Torsten Groß mit Drummer Charlie Watts. Und für den Tages-Anzeiger hat Christoph Fellmann eine Playlist mit den Originalversionen der auf dem Album gecoverten Songs zusammengestellt.

Weiteres: In der NZZ meldet Hans Jörg Jans, dass der Orchestra della Svizzera italiana das Aus droht. Im Guardian geht Simon Reynolds dem Erfolg von The Weeknd auf den Grund.

Besprochen werden das neue Album von Warpaint (FR), die Frankfurter Konzerte von Xavier Naidoo (FR) und Die Heiterkeit (FR) sowie die Berliner Konzerte von Peaches (Berliner Zeitung) und den Sleaford Mods (taz).
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Film


Fasziniert berichtet Patrik Schmidt in der Welt von "HyperNormalisation", dem neuen Film des britischen Dokumentarfilmers Adam Curtis, der sich mit dem Einzug des "perception management" in die Politik befasst: "Curtis' Filme entstehen als Collagen aus unterschiedlichstem Bildmaterial. Rohstoff sind die Archive der bald hundert Jahre sendenden BBC... Teils sind es drastische Abbildungen der Gewalt. Teils sind es Fundstücke voll grotesker Komik. Oft sind es lange Einstellungen von eigentümlicher Schönheit. Auch in 'HyperNormalisation' finden sich solche Momente. Am eindrücklichsten in der Aufnahme eines kreisenden ägyptischen Armeehubschraubers, dessen Silhouette von den Laserpointern tausender Feiernder auf dem Tahir-Platz ausgeleuchtet wird. Ein schwerfälliger Wal am schwarzen Himmel, der sich durch nachtsichtgrünes Plankton schiebt."

Weiteres: Wie unter anderem der Tages-Anzeiger meldet, ist der Weichzeichner-Fotograf und Softsex-Regisseur David Hamilton gestorben. Für den Standard hat Dominik Kamalzadeh mit Ken Loach gesprochen, in der SZ berichtet Susan Vahabzadeh von ihrem Treffen mit Loach. Besprochen werden Liwaa Yazjis Dokumentarfilm "Haunted" über den Bürgerkrieg in Syrien (online nachgereicht von der FAZ).
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Kunst



Als "Ausstellung des Jahres" adelt Almuth Spiegler in der Presse die erste umfassende Schau über den slowakischen Konzeptkünstler Julius Koller (1939-2007) im Wiener Museum moderner Kunst, die erstmals die "ganze Bandbreite von Kollers utopischer Widerstandshaltung erkennen" lässt: "Er wollte nicht nur das Leben, sondern auch die Avantgardekunst in seiner Heimat trotz Repressionen und Zensur positiv gestalten, neue 'kulturelle Situationen' schaffen. Zudem arbeitete er sich an seiner Gegenwart, am täglich Erlebten ab. Jeden Tag stand er auf, kaufte sich um die 30 Zeitungen, ging nach Hause, leerte sein Postfach und begann alles miteinander zu verarbeiten, zu kommentieren, auszuschneiden, zu collagieren, zu ordnen, zu sammeln. Diesen Archivalien ist etwa ein Drittel der Schau gewidmet, Grandioses findet man hier, etwa ein Papiersackerl mit Coco-Cola-Werbung, das er 1969 aus Wien mitgebracht hat, wie er auf dem Blatt vermerkte, auf das er es fein säuberlich, in bester Warhol'scher Manier, als eigenständiges Kunstwerk aufgeklebt hatte."

Schön, dass sich endlich mal eine Ausstellung daran macht, von Francis Bacons Fratzen und Gestalten abzusehen und sich den sonderbaren Räumen zu widmen, in denen der Künstler diese platziert, freut sich Catrin Lorch in der SZ. Die Staatsgalerie Stuttgart wagt nun genau das, zum großen Gewinn der Kritikerin: "Die Vorstellungskraft von Francis Bacon begnügte sich offensichtlich nicht damit, seine Gemälde - wie Bühnen - mit Figuren zu bestücken. Die von ihm konstruierten Räume haken nach ganz eigenen Gesetzen in den Längen- und Breitengraden dieser Welt ein."

In der Berliner Zeitung wiederum freut sich Ingeborg Ruthe, dass Gabi Ngcobo die nächste Berlin Biennale kuratieren wird: Die Aktivistin bekenne sich "zur offenen, experimentellen Form, um mit Kunst Fragen an die sich rasant verändernde Welt von heute zu stellen - und auch Antworten zu finden."

Besprochen werden George Condos Ausstellung in der Sammlung Berggruen in Berlin (taz) und eine Ausstellung über die Bilderwelt der Weihnachtsgeschichte im Liebieghhaus in Frankfurt (FAZ).
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Architektur


So viel Einigkeit war nie bei einem Rekonstruktionsvorhaben eines Architekturdenkmals, stellt Dankwart Guratzsch in der Welt fest: Für den Plan eines Wiederaufbaus von Karl Friedrich Schinkels Bauakademie fand sich in kürzester Zeit ein breiter Konsens - was nicht zuletzt an der Einzigartigkeit des Gebäudes liegt: "Was die Fachwelt an Schinkels Bauakademie fasziniert, das ist ihre Eigenschaft als Rasterbau, der nicht eine, sondern vier völlig gleichförmige Fassaden - und deshalb (nach Erik Forssman) gar keine besitzt. Neu war auch die Ausführung in Rohziegeln, wie sie Schinkel gerade erst in England kennengelernt hatte, die Einteilung in gleich hohe Etagen und jeweils acht regelmäßige Achsen, die eine Hierarchisierung des Bauwerks, etwa durch ein piano nobile oder eine Mittelpforte, nicht zuließ, der Verzicht auf ein Satteldach, die Ausstattung mit großen Fenstern, neben denen die in dasselbe Format gestauchte Eingangstür fast wie ein Mauseloch wirkt." (Bild: "Die Bauakademie" von Eduard Gaertner, 1868)

Weiteres: In den letzten Jahren sind in Schanghai zahlreiche Museen und Ateliers entstanden, berichtet Oliver G. Hamm in der NZZ. Im Tagesspiegel bespricht Bernhard Schulz die Ausstellung im Ephraimpalais über die Geschichte des Berliner Schlosses.
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Literatur

Der spanische Dichter Marcos Ana ist am Donnerstag im Alter von 96 Jahren in Madrid gestorben. In der FR schreibt Martin Dahms einen Nachruf auf Ana, der während unter Franco 23 Jahre als politischer Häftling inhaftiert war: "Im Gefängnis war aus Fernando Macarro der Dichter Marcos Ana - ein Pseudonym gebildet aus den Vornamen seiner Eltern - geworden. Während er noch in Haft saß, wurde in Brasilien ein erster Band mit Gedichten veröffentlicht, die er in die Freiheit hatte schmuggeln können. 'Sagt mir, wie ein Baum ist', schrieb er. 'Rezitiert mir einen Horizont ohne Schloss und ohne Schlüssel, wie die Hütte eines Armen. Sagt mir, wie der Kuss einer Frau ist.'"

Weitere Artikel: Für die taz hat Annabelle Seubert ein großes Gespräch mit Popautor Benjamin von Stuckrad-Barre geführt. Im großen FAZ-Wochenendtext aus dem literarischen Leben befasst sich der Lyriker und Literaturwissenschafter Jan Volker Röhnert mit Christian von Massenbachs autobiografischen Schriften aus dem 19. Jahrhundert. In der NZZ beschreibt Andres Wysling, welchen Einfluss der spanische Dichter Federico García Lorca auf das Werk Leonard Cohens hatte. Jan Koneffke gratuliert Ludwig Fels in der FR zum morgigen Siebzigsten.
 
Besprochen werden die Neuübersetzung von Prousts "Recherche" (taz), William H. Gass' "Mittellage" (taz), und Jean Hatzfelds "Plötzlich umgab uns Stille" (FAZ). Außerdem liegt der FAZ heute eine Literaturbeilage bei.

Mehr aus dem literarischen Leben auf: 


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