Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2003. In der FR weist Jürgen Habermas die Antisemitismusvorwürfe gegen Ted Honderichs Buch "Nach dem Terror" mehr oder weniger zurück. Die SZ attestiert dem Buch "verblasene Selbstherrlichkeit". Die NZZ erinnert an Theodor W. Adornos "plötzlichen Hinschied" in den Schweizer Bergen vor 24 Jahren. Die FAZ will keinen Schlussstrich unter die Geschichte der RAF ziehen. Die taz porträtiert den Zeichner Fernando Bryce.

FR, 06.08.2003

Gestern attackierte Micha Brumlik den Suhrkamp-Verlag, mit "Nach dem Terror" des kanadisch-britischen Philosophen Ted Honderich ein zutiefst antisemitisches Buch veröffentlicht zu haben (siehe hier). Heute verteidigt Jürgen Habermas seine Empfehlung für dieses Buch. Er räumt zwar ein, dass es sich um ein recht "hemdsärmeliges Pamphlet" handelt, findet aber, dass es Brumliks Vorwurf des Antisemitismus nicht rechtfertige, nur ein bisschen vielleicht. "Allerdings gibt es auch verallgemeinernde Sätze, die mich bei der Lektüre aufstöhnen lassen: 'Als Hauptopfer von Rassismus in der Geschichte scheinen die Juden von ihren Peinigern gelernt zu haben'." Für Honderich spricht laut Habermas: "Der Text verrät das Gerechtigkeitspathos eines alten Sozialdemokraten, der schon lange über die konkreten Folgen einer monströs ungleichen Verteilung irdischer Güter für die Lebenszeiten, Lebenschancen und Lebensgeschichten jener ausgepowerten und erschöpften Bevölkerungen in den marginaliserten Teilen dieser Welt nachgedacht hat."

Harry Nutt stützt dagegen Brumliks Vorwürfe, wobei er sich nicht nur an Honderichs "beiläufigem Antisemitismus", sondern auch an seinen moralischen "Plattheiten", etwa wenn dieser schreibt: "Ich für meinen Teil habe keinen ernsthaften Zweifel, um den prominenten Fall zu nehmen, dass die Palästinenser mit ihrem Terrorismus gegen die Israelis ein moralisches Recht ausgeübt haben." Dazu befindet Nutt: "Die Sehnsucht nach moralischer Eindeutigkeit führt geradewegs in die Rechtfertigung des Terrors. Derlei ist wohl kaum noch als flapsiger Politjargon oder einschlägige Flugblattrhetorik zu verharmlosen."

In einem weiteren lesenswerten Text erzählt Michael Lüders, wie man eigentlich Ayatollah wird und was man dann so macht. Der irakische Imam al-Sistani zum Beispiel beantwortet vor allem besorgte Anfragen gläubiger Schiiten, wie sie sich gegenüber den amerikanischen Soldaten verhalten sollen. "Da fragt zum Beispiel ein Händler: 'Was mache ich, wenn ein amerikanischer Soldat in meinen Laden kommt und eine Flasche Coca-Cola kaufen will?' Imam al-Sistani: 'Du verkaufst dem amerikanischen Soldaten, was immer er zu kaufen begehrt. Dann aber fragst Du ihn, ebenso höflich wie nachdrücklich, wann er denn gedenke, unser Land wieder zu verlassen.'

Ulf Erdmann Ziegler hat beim Schlendern durch die Giardini von Venedig erfahren, warum die Biennale auf die Nationenpavillons nicht verzichten wird: "Sie sind vielleicht eine groteske Version des globalen Dorfes, aber sie sind dessen Urfassung, verlängert in die Gegenwart. Es bleibt ein nahezu unübertreffliches Kunstvergnügen, sie zu besichtigen." Christian Holl schwärmt von dem Bahnhof in Worb bei Bern, den Beat Mathys und Ursula Stücheli für das Büro smarch entworfen haben. In Times mager erzählt Petra Kohse von den Nachbarn in ihrer dänischen Ferienhaussiedlung.

Besprochen werden Bücher: Andrea Lees Erzählungsband "Vollmond über Mailand" und Roger Behrens' Alphabet des Adornitischen Denkens (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 06.08.2003

Das ist originell. Im Jahr des hundertsten Geburtstags erinnert Ludger Lütkehaus an den "plötzlichen Hinschied Theodor W. Adornos" am 6. August 1969 im Wallis. "Die Umstände von Adornos Tod im Wallis rühren ganz eigene Gefühle und Reminiszenzen auf" schreibt Lütkehaus. "Die Vorstellung von Adorno, dem 'doctor subtilissimus' der 'Kritischen Theorie', als Bergfex hat einen ungewohnten Reiz. Indes nannte er sich selber trotz dem 'Wiesengrund' in seinem Familien-Doppelnamen, den Thomas Mann dankbar für Adornos kompositorische Hilfe in seinem 'Doktor Faustus' zu Ehren gebracht hat, einen 'Bergmenschen'. Jahr für Jahr ging er in die Schweizer Alpen. Für den Sommer 1969 hatte er den Aufenthaltsort im berühmten 'Hotel Waldhaus' dem von Georg Lukacs glossierten 'Grand-Hotel Abgrund', in Nietzsches Sommerfrische Sils-Maria mit dem Wallis vertauscht." Und im Wallis erlag er dann, wegen der für Herzkranke misslichen Höhenluft, einem Infarkt.

Weitere Artikel: Monica Carbe erliegt für einen "Schauplatz Ankara" dem "spröden Charme" der türkischen Hauptstadt, die durchaus auch ein Literaturleben kennt. Alexandra Stäheli bereitet uns auf die Filme des Festivals von Locarno vor. Und Andrea Köhler greift die Antisemtismusvorwürfe gegen Mel Gibsons (noch gar nicht gezeigten) Film "The Passion" auf.

Besprochen werden eine Ausstellung über den Architekten John M. Johansen (mehr hier) in Den Haag, eine Ausstellung über John F. Kennedy in Berlin und eine ganze Menge Bücher, darunter Peter Esterhazys "Verbesserte Ausgabe" und Novellen von Jehoschua Kenaz.

SZ, 06.08.2003

Ijoma Mangold bringt uns in der Debatte um Ted Honderichs Buch "Nach dem Terror" ein, das Micha Brumlik gestern in der FR als antisemitisch attackiert hat (mehr hier), zunächst einmal auf den Stand, um dann zu dem Buch zu bemerken: "Natürlich gehört es zum Antisemitismus heutzutage dazu, dass er seinen Namen nicht nennt. Und auch Honderich behauptet in einer Fußnote der deutschen Ausgabe eigens, ein Befürworter der Gründung des Staates Israel zu sein. Wie auch immer: Antizionistisch ist dieses Buch gewiss. Und ob es den Sachverhalt des Antisemitismus erfüllt, kann man als Frage fast zurückstellen, weil sich sein Buch ohnehin als ein moralisch-intellektuelles Monster in Szene setzt." Und das alles, so Mangold, in einem Gestus von "verblasener Selbstherrlichkeit".

Weitere Artikel: Harry Lachner lobt das ambitionierte Jazz-Label "Blue Series", das mit einer "intelligente Kombination von elektronischer Klangmanipulation, Club-Beats, Rap und freier Improvisation" aufwartet. Peter Rumpf berichtet, wie Conny Froboess mit der Berliner Architektenkammer das Strandbad Wannsee retten will. Hanns C. Löhr beklagt, dass das barocke Stadtschloss von Coswig den Spekulanten und damit dem Verfall preisgegeben wurde. Stefan Koldehoff entlockt der angebliche Fund von Filmaufnahmen mit Vincent van Gogh nur ein müdes Gähnen. Udo Zimmermann schreibt einen Nachruf auf Elisabeth Hartmann. Und auf der Medienseite befindet Klaus Ott, dass sich ProSieben endlich mal Gedanken über seine Inhalte machen sollte.

Besprochen werden Joel Schumachers New Yorker Parabel "Nicht auflegen" und zwei Aufführungen beim Wiener Klangbogenfestival: Gerhard Schedls "Julie & Jean" und Mozarts "Idomeneo", die neue Platte von 3 Shades of Blues und Bücher, darunter Virginia Woolfs Tagebücher von 1931 bis 1935, Manfred Fuhrmanns Erzählung "Aus der Bahn geworfen", Julia Schreiners Studie zu Melancholie und Suizid in deutschen texten "Jenseits vom Glück" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 06.08.2003

Andreas Fanizadeh porträtiert den in Peru geborenen Zeichner Fernando Bryce, der aus historischen Dokumente moderne Kunst macht, wobei ihm Vorlagen aus dem Spanischen Bürgerkrieg ebenso dienen wie Texte von Walter Benjamin. Wie Bryce dazu kam, erzählt Fanizadeh so: "In Berlin hatte Bryce 1995 eine Abfolge von Spekulatiusplätzchen gemalt. Für ihn waren die Kekse auch Spiegel einer bäuerlich-mittelalterlichen Kultur in Deutschland. Bryce fertigte etwa zwanzig Bilder an und stellte sie aus. Erstaunt musste er aber feststellen, dass man die ockerfarbenen Spekulatiusbilder in Berlin der Maltradition des untergegangenen Inkareichs zuordnen wollte."

Tobias Rapp wundert sich, dass Afrobeat-Pionier Fela Kuti (mehr hier) erst in diesem Sommer der Hit der New Yorker Kunstszene geworden ist - "war Fela Kuti doch genauso der politische Aktivist, der die Machenschaften der multinationalen Konzerne geißelte, die verschiedenen nigerianischen Diktatoren seiner Zeit kritisierte und dafür mehrfach ins Gefängnis geworfen wurde. War er doch auch der Sektengründer, der seinen eigenen Ministaat Kalakutta Republic mitten in Lagos gründete, mit dem Shrine einen sagenumwobenen Nachtclub betrieb, in dem er Abend für Abend auftrat und auf dessen Bühne er 1979 in einer großen Zeremonie seine 27 Tänzerinnen ehelichte."

Weitere Artikel: Harald Peters unterhält sich mit dem bisher mit Musikvideos bekannt gewordenen Regisseur Jonas Akerlund über dessen ersten Film "Spun", in dem es um die Chrystal-Speed-Szene von Los Angeles geht. Jenni Zylka hat sich mit dem Antihelden Werner Enke ("Zur Sache, Schatzchen!") im gediegenen Kudammcafe getroffen, um über die alten Zeiten und sein Buch "Enkes Sprechmännchen" zu plaudern.

Auf einer Tagesthemenseite lässt Simone Hilgers-Bach den Jesuitenpriester Klaus Luhmer erzählen, wie er am 6. August 1945 den Abwurf der Atombombe über Hiroschima erlebte. Auf der Medienseite berichtet Reinhard Wolff von einer gelungenen Anti-Asylkampagne der norwegischen Regierung, die russische und ukrainische TV-Teams dafür bezahlte, abschreckende Filme über das Land zu drehen.

Und schließlich Tom.

FAZ, 06.08.2003

Am Samstag hatte Christoph Stölzl im Berliner Tagesspiegel dafür plädiert, die die geplante RAF-Ausstellung abzusagen. Jürgen Kaube staunt vor allem über Stölzls Argument, "Geschichtswissenschaft, Publizistik und Kunst" hätten bereits alles zur Aufklärung über die RAF beigetragen. "Darin steckt die interessante Implikation, dass Stölzl offenbar die Forschung zu und die öffentliche Befassung mit einem historischen Thema für beendbar hält. Es wäre hilfreich, hätte Stölzl als Mann vom Fach außer der Geschichtsschreibung der RAF, deren Möglichkeiten für ihn schon erschöpft sind, ein weiteres Beispiel für erledigte Vergangenheit genannt. Urteile wie 'Dies hier ist nun die letzte Bismarck-Biografie' oder 'Mit dieser Fernsehsendung über die Gestapo erübrigen sich alle weiteren', dürfen jedenfalls untypisch genannt werden."

Weitere Artikel: Heinrich Wefing schildert noch einmal ausführlich die Debatte (mehr hier) um Mel Gibsons Jesus-Film, die "in eine hässliche Sackgasse" geraten sei: "Gibson raunt von einem jüdischen Komplott gegen ihn, während jüdische Organisationen vor dem vermeintlichen Antisemitismus warnen, den 'The Passion' propagiere." Christoph Albrecht war in Berlin bei der Tagung des internationalen Verbands der bibliothekarischen Einrichtungen (IFLA). Andreas Rosenfelder untersucht Sinn und Zweck des Kuratoriums, dass der Universität Bielefeld zu mehr "Eigenständigkeit" verhelfen soll. In seiner Kolumne aus Venedig erzählt Dirk Schümer, wie billig der Venezianer Boot fährt. Jürgen Tietz stellt die neue Sparkassenzentrale Münsterland Ost vor, die Dieter G. Baumewerd entworfen hat.

Auf der Medienseite berichtet Michael Seewald, dass Haim Saban nun doch neuer Mehrheitseigner bei ProSieben-Sat.1 geworden ist, nachdem er im Juni mit einer erste Offerte gescheitert war. Auf der letzten Seite betrachtet Joseph Hanimann Frankreichs regionale Kunstsammlungen. Dietmar Polaczek schreibt ein Selbstporträt Silvio Berlusconis, und Christian Geyer sinniert über Julian Nida-Rümelins "Ja zur Quote deutschsprachiger Musik".

Besprochen werden eine Ausstellung mit Edvard Munchs Lübecker Werken im Behnhaus Lübeck und eine Aufführung von Mozarts "Cosi fan tutte", die Enrique Mazzola mit "haarsträubendem Tempo" dirigiert, in der Kunstwerkstatt Montepulciano.