Efeu - Die Kulturrundschau

Eine trockene Trunkenheit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.08.2019. In Venedig erliegen die Filmkritiker dem Charme zweier französischer Filmdiven im Spätsommerlicht. Im Tagesspiegel erklärt der Dramatiker Necati Öziri, warum ihn relevantes Theater nicht mehr interessiert. In der Welt schildert Amelie Nothomb die wohltuenden Auswirkungen von Tee und Champagner aufs Schreiben. Der Standard tanzt zu den Teskey Brothers. Die Zeit wirft sich einen Afghanenmantel über.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.08.2019 finden Sie hier

Film

Hiirokazu Kore-Edas "La Vérité"

In Venedig wurde das Filmfestival mit Hirokazu Kore-Edas "La Vérité" eröffnet, der ersten internationalen Produktion des japanischen Autorenfilmers, die sich mit Juliette Binoche und Catherine Deneuve zudem noch mit Aushängeschildern des europäischen Arthouse-Films schmücken kann, während Ethan Hawke auch noch vorbeischaut. Den Kritikern hat das weitgehend gut gefallen: Der Film "ist trügerisch leichthändig komponiert", erklärt Dietmar Dath in der FAZ. "Erst wenn man die Geschichte nacherzählen muss, merkt man, wie kompliziert die Fabelmelodien zusammenhängen und in ihr tragikomisches Ganzes zusammenfließen." Was wir entnehmen können: Deneuve spielt eine Schauspielerin und die Mutter der Binoche - und über diese Schauspiel-Rolle kommt es zu allerlei Spiegelungen im Verhältnis zwischen den beiden. Vielleicht war Kore-Eda von den großen Namen ein bisschen zu beeindruckt, mein tazler Tim Caspar Boehme, der "ein wenig zu oft Momente versöhnlicher Gediegenheit" beobachtet - umso besser gefallen ihm die Szenen mit den Kinderdarstellerinnen. "Mit Lust wirft sich Deneuve in Szenen, die sie als echte Diva nie zeigen würde, auch wenn jeder das Potenzial dazu vermutet - das Es der alternden Filmgöttin", erklärt dazu Tobias Kniebe in der SZ, der allerdings findet, das Kore-Edas Vorgänger "Shoplifters" schlussendlich doch der bessere Film war. Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche erkennt derweil "optimistischere Töne" in diesem Film: "Auch visuell. Das französische Spätsommerlicht fällt äußerst vorteilhaft auf seine Hauptdarstellerinnen." Ansonsten schreibt Busche viel über die Kritik am Festival, das sich von allen A-Festivals in diesem Jahr am frauenlosesten präsentiert.

Weiteres: Immer mehr Filmproduzenten in Hongkong ordnen sich der chinesischen Obrigkeit unter, berichtet Hanns-Georg Rodek in der Welt. In der taz legt Ekkehard Knörer dem Berliner Publikum die große Frank-Borzage-Retrospektive im Kino Arsenal ans Herz. Michael Freerix empfiehlt in der taz das Onlineportal "Alltagskulturen im Rheinland", in dem sich ein historisch tiefes Archiv von Dokumentarfilmen befindet. Ulrich Amling empfiehlt im Tagesspiegel die Wiederaufführung von Abel Gance' Stummfilm "La Roue" beim Musikfest Berlin. Franziska Tschinderle berichtet in der NZZ vom Dokumentarfilmfest in Prizren in Kosovo.

Besprochen werden Sabrina Sarabis Debütfilm "Prélude" (taz, Tagesspiegel), Sophie Kluges Regiedebüt "Golden Twenties" (SZ), Nisha Ganatras Mediensatire "Late Night" (taz, Tagesspiegel), der Thriller "Die Agentin" mit Diane Kruger (online nachgereicht von der FAZ), der Science-Fiction-Film "Paradise Hills" mit Milla Jovovich und Emma Roberts (ZeitOnline), Ralph Fiennes' The White Crow" (NZZ) und Eckhard Schmidts Debütfilm "Jet Generation" von 1968 ("ein Film, der seine Geheimnisse, genau wie seine Hauptdarstellerin die ihren, nicht so ohne Weiteres preisgibt", meint Lukas Foerster auf critic.de).
Archiv: Film

Kunst

Der Freitag unterhält sich mit den Künstlern Doris Ziegler und Rainer Schade über die Ausstellung "Point of No Return" im Museum der bildenden Künste in Leipzig. Anika Meier unterhält sich für Monopol mit dem Künstler Brandon Lipchik, der als Vertreter des Post-Digital Pop gilt. Und: Monopol empfiehlt, einen Blick in die nächste Woche eröffnende Ausstellung Ai Weiweis in der Berliner Galerie Neugerriemschneider zu werfen: "Die Werke wurden nämlich von gigantischen abgestorbenen Wurzeln des in den Regenwäldern des brasilianischen Bundesstaats Bahia beheimateten Pequi-Baums abgeformt. Ai fügte fügte vor Ort mit seinem Team zwei bis drei Wurzelfragmente zu Holzskulpturen zusammen und ließ sie in China in Eisen gießen. ... Das Amazonas-Feuer, Klimawandel, die Entwurzelung eines Künstlers, Heimatlosigkeit in einer globalisierten Welt - das alles steckt in diesen Kunstwerken. Kunst ohne Politik gibt es nicht bei Ai Weiwei.

Besprochen werden eine Ausstellung der Fotografin Aenne Biermann in der Münchner Pinakothek der Moderne (SZ), ein Band mit Berlin-Fotografien von Bernard Larsson (Berliner Zeitung), eine Ausstellung im Schiller-Museum in Weimar über das "Abenteuer der Vernunft. Goethe und die Naturwissenschaften um 1800" (FAZ) und eine Ausstellung in Krefeld, dies sich - im wesentlichen mit fünf Filmen - dem Bauhaus und der Seidenindustrie widmet, eine Beziehung, die bis in die 60er andauerte, erzählt Andreas Rossmann in der FAZ.
Archiv: Kunst

Architektur

Bernhard Schulz besucht für den Tagesspiegel das umgebaute Deutschlandhaus in Berlin. Der modernisierte Bau von marte.martearchitekten sagt ihm zwar zu, schwer übel nimmt er allerdings den Umgang mit Peter Kowalskis Glasgemälde, der dem Erhalt des Eckcafes Stresemann geschuldet ist: "Ursprünglich war vorgesehen, die 'historische' Treppe ins 1. OG beizubehalten. Dort befand sich das gebäudehohe Glasgemälde, das der Künstler Peter Kowalski 1950 für eine Ausstellung 'Verlorene Heimat' geschaffen hatte und das in jedem Fall zu erhalten war. Die Architekten haben es jetzt in den schmalen Schlitz zwischen Altbau und Neubaukubus verbannt. Man kann es von keiner Stelle aus auch nur annähernd zur Gänze erkennen. Es ist dies ein leider sehr sprechendes Beispiel dafür, wie Architektenwillkür im Zusammenspiel mit denkmalpflegerischer Gleichgültigkeit einen seinerzeit hoch umstrittenen, schließlich doch gefundenen Kompromiss zu unterlaufen und ad absurdum zu führen vermag. Der Berliner Denkmalpflege war das Neobiedermeier der Eckkneipe wichtiger, und die politisch Verantwortlichen, die vor Jahren um die Gründung der Stiftung SFVV gerungen haben, sind nicht mehr in ihren Ämtern."

Und: Ulf Meyer besichtigt für die FAZ das Berliner Futurium, ein von den Architekten Christoph Richter und Jan Musikowski erbautes "Museum der Zukunft", dessen Träger "die Bundesregierung, wissenschaftliche Einrichtungen und eine Handvoll Großkonzerne aus der Chemie- und Pharmaindustrie" sind, und lernt, dass man dort künftig "die richtigen Fragen stellen" möchte.
Archiv: Architektur

Literatur

Wie kriegt man seinen Alltag als französische Bestseller-Autorin geregelt? Amélie Nothomb erklärt es im Gespräch mit der Welt: Egal, an welchem Ort der Welt sie sich befindet, sie steht um vier Uhr Ortszeit auf. "Kaum bin ich aus dem Bett gesprungen, trinke ich einen halben Liter sehr starken, zu starken schwarzen Tee, und zwar in einem Zug. Das bläst meinen Kopf weg. Dann stürze ich mich sofort auf meine Schreibhefte und beginne, mit einem einfachen Bic-Kugelschreiber zu schreiben, und zwar etwa vier Stunden lang, ohne Unterbrechung. Danach weiß ich, dass ich mein Romanwerk für diesen Tag erledigt habe. ... Den Tee-Rausch erlebe ich jeden Tag. Es ist eine trockene Trunkenheit, die mir das Schreiben ermöglicht. Eine Art hyperkontrollierter Suff. Den Champagnerrausch erlebe ich nur jeden zweiten Tag."

Im Perlentaucher greift Katharina Hacker in die Debatte um die Kriterien der Literaturkritik ein: "Manchmal ist es gut, hochfahrend zu sein, aber ich finde, es sollte immer mit einer gewissen Theatralik passieren, die das Zweifelhafte der eigenen Sache ausstellt und zu Widerspruch einlädt."

Weiteres: In einem online nachgereichten FAZ-Artikel spekuliert Mathias Mayer über Franz Kafka und Georg Trakl. Für das Zeit-Dossier fährt Moritz Aisslinger nach Dresden, um die Buchhändlerin Susanne Dagen  zu porträtieren, die einst renommiert war und heute mit der AfD sympathisiert.

Besprochen werden Roberto Savianos "Die Lebenshungrigen" (Dlf Kultur), Ulrike Draesners "Kanalschwimmer" (Tagesspiegel), Maike Albaths "Trauer und Licht - Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens" (ZeitOnline), Briefe des Soziologen Werner Sombart (Tagesspiegel), Tom Müllers "Die jüngsten Tage" (Welt), Emanuel Maeß' "Gelenke des Lichts" (online nachgereicht von der FAZ), Joseph Roths "Die Rebellion" (Standard), die Peter Rühmkorf gewidmete Ausstellung im Altonaer Museum in Hamburg (SZ), die Ausstellung "Abenteuer der Vernunft. Goethe und die Naturwissenschaften um 1800" im Schiller-Museum in Weimar (FAZ), die Ausstellung "Le Questionnaire de Proust" in der Bibliotheca Reiner Speck in Köln (FAZ) und Peter Kurzecks postum veröffentlichter Roman "Der vorige Sommer und der Sommer davor" (FAZ)
Archiv: Literatur

Bühne

Patrick Wildermann trifft sich für den Tagesspiegel mit dem Dramatiker Necati Öziri, dessen Bearbeitung von Kleists "Die Verlobung in St. Domingo" Sebastian Nübling gerade am Gorki-Theater inszeniert. "Öziri hat seiner 'Verlobung in St. Domingo' ein paar Anweisungen vorangestellt. Jede Form des Blackfacing und die Verwendung des N-Wortes sind untersagt. Mindestens die Hälfte des Ensembles soll mit 'Schwarzen Menschen und Menschen mit Rassismuserfahrung' besetzt werden. 'Ich würde das heute noch radikaler formulieren und auf das künstlerische Team ausweiten', sagt der Dramatiker. 'Weil ich nicht mehr an relevantem Theater interessiert bin, sondern an einem Theater, das einen Effekt hat'. Wie eben: die Ensemblepolitik zu überdenken."

Außerdem: Matthias Lilienthals Münchner Kammerspiele wurden Theater des Jahres, meldet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung.
Archiv: Bühne

Design

Die Luxusmode interessiert sich für den aus den 70ern berühmten und eigentlich auch ziemlich berüchtigten Afghanenmantel, erklärt Tillmann Prüfer in der Modekolumne des ZeitMagazins. Früher war er "der Pelz der kleinen Leute. Denn im Vergleich zu einem klassischen Pelzmantel waren die mit Lammfell gefütterten Mäntel stets sehr viel günstiger zu haben. So ein Kleidungsstück stand immer auch für einen alternativen Lebensstil. Nun aber ist der Afghanenmantel in der Luxusmode angekommen: Bei Céline gibt es einen mit Lammfell gefütterten Wildledermantel mit kurzen Ärmeln, bei Burberry und Gucci Mäntel mit Ärmelaufschlägen aus Fell. Dass der Lammfellmantel nun wieder so populär ist, liegt wohl auch daran, dass der Pelz der armen Leute der einzige Pelz ist, der heute noch moralisch akzeptabel erscheint."
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Stichwörter: Gucci, Celine

Musik

"Es ist so super", schwärmt Karl Fluch: Mit "Run Home Slow" haben die Teskey Brothers nach Ansicht des Standard-Kritikers "ein Album des Jahres" vorgelegt. Der Soul geht Fluch gut rein: Die Musiker "klingen nicht nach Soulstrebern, die tragen das Gefühl hörbar in sich. Und sie haben Josh Teskey. Der spielt Gitarre und singt und klingt dabei wie ein wiederauferstandener Eddie Hinton. ... Wenngleich orthodox im Southern Soul verhaftet, variiert das Album die Tempi mehr als noch am Erstling, gleichzeitig instrumentieren die Brothers nun reicher - ohne jemals Sättigungsgefühl zu erzeugen." Dazu ein Video:



Weiteres: Peter Uehling schreibt in der Berliner Zeitung über Christoph Eschenbach, der am Freitag als neuer Chefdirigent des Berliner Konzerthausorchesters antritt. Besprochen werden das neue Album von Taylor Swift (online nachgereicht von der FAZ).
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