9punkt - Die Debattenrundschau

Ihr seid so wie Telefonleitungen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.08.2023. Beim Versuch, die 'russische Welt' mit Gewalt wiederherzustellen, hat Putin sie zerstört, schreibt Timothy Garton Ash im Tagesspiegel - diese Zerstörung aber werde noch eine Weile anhalten, bevor etwas Neues möglich ist. Die NZZ fragt sich, ob die Deutschen inzwischen kapiert haben, was sie mit ihrer Russland-Liebe angerichtet haben. Die NZZ thematisiert auch den Rassismus der Maghreb-Staaten. Die taz skizziert, wie die Wagenknecht-Partei die Linkspartei ausknocken und dann selbst antreten wird: Und dabei geht's auch um Geld.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.08.2023 finden Sie hier

Europa

taz-Redakteuer Pascal Beucker präsentiert in Frage-Antwort-Form eine ziemlich faszinierend zu lesende taktische Einschätzung der kommenden Wagenknecht-Partei. Sie wird wohl erst zur Europawahl im Juni 2024 antreten, meint er: "Solange Wagenknecht & Co noch formal in der Linkspartei sind, können sie diese weiter von innen heraus sturmreif schießen, damit möglichst wenig von ihr übrigbleibt. Außerdem können sie die üppige personelle und finanzielle Infrastruktur der Linksfraktion im Bundestag für ihr Treiben nutzen." Das lange Zögern hat aber auch einen finanziellen Grund. Wenn die neue Partei erst im nächsten Jahr gegründet wird, kriegt sie mehr Staatsgeld: "Nun haben zwar alle Parteien und sonstigen politischen Vereinigungen, die mindestens 0,5 Prozent der Stimmen erhalten, einen Anspruch auf staatliche Finanzmittel. Aber nur bis zur Höhe der von ihnen selbst erwirtschafteten Einnahmen, was vor allem Mitglieds- und Mandatsträgerbeiträge sowie Spenden meint. Entscheidend dafür sind die Zahlen aus dem Vorjahr - außer bei Parteien oder Listen, die erst im Wahljahr neu gegründet werden." Die Linkspartei verlöre übrigens durch den Abzug der Abtrünnigen im Bundestag den Status einer Fraktion und wäre nur noch eine "Gruppe". "Der Hauptunterschied ist ein finanzieller: Auch eine Gruppe erhält zwar für ihre parlamentarische Arbeit eine finanzielle, technische und personelle Unterstützung - aber nur die Hälfte des Grundbetrags einer Fraktion."

Russland ist und bleibt imperialistisch, was der Welt im letzten Jahr unmissverständlich vor Augen geführt wurde, konstatiert Timothy Garton Ash im Tagesspiegel. Viele hatten nach den Reformen von Gorbatschow und der friedlichen Auflösung der UdSSR gedacht, "dies sei das Ende dieser Geschichte. Nur: Untergehende Imperien geben nicht kampflos auf. Erste Anzeichen für eine Gegenwehr gab es bereits, als die russische Armee 1992 das heute noch abtrünnige Gebiet Transnistrien am östlichen Ende des neuen souveränen Staates Moldawien besetzte und später zwei brutale Kriege zur Unterwerfung Tschetscheniens innerhalb der Russischen Föderation führte." Die Ukrainer, die sich nicht unterwerfen wollen, sagen sich deshalb von der russischen Kultur los, auch von der Literatur. "Es hätte anders kommen können: Die russischsprachige Literatur hätte durch die Arbeit ukrainischer und anderer postkolonialer Schriftsteller bereichert werden können, so wie es in der englischsprachigen Literatur durch die Arbeit südasiatischer, afrikanischer und karibischer Schriftsteller geschehen ist. Doch bei dem Versuch, die 'russische Welt' mit Gewalt wiederherzustellen, hat Putin sie zerstört." Der Westen kann hier nur mehr oder weniger zuschauen, so TGA, erst wenn Putin weg ist, könne er agieren.

Deutsche Politiker, besonders aus den Reihen der SPD, gaben nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs zu, sich in Präsident Putin getäuscht zu haben. Man hätte ja nicht ahnen können, wer da im Kreml sitzt. Och, hätte man schon, meint Benedict Neff in der NZZ, nach Lektüre der "Moskau-Connection" von Reinhard Bingener und Markus Wehner und Masha Gessens Putin-Porträt "Der Mann ohne Gesicht". Denn Putin fiel schon immer durch seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Menschenleben auf, was er mehrfach in der Öffentlichkeit bewies: "Wie konnte die deutsche Politik dies alles ausblenden? Nur aus einer Kombination vieler Faktoren: wirtschaftliches Interesse an billigem Gas, gepaart mit einem Desinteresse an geostrategischem Denken. Die deutsche Regierung war unermüdlich darin, zu erklären, dass es sich bei der Nord-Stream-2-Pipeline nur um ein privatwirtschaftliches Projekt handle - und nicht um eine geostrategische Waffe. Und die Deutschen schienen es noch mehr zu glauben, als der damalige amerikanische Präsident Donald Trump vor dem Pipeline-Bau warnte. So ist auch der deutsche Antiamerikanismus eine Komponente in dieser Geschichte: Viele deutsche Politiker trauen noch lieber Russland als Amerika. Handel durch Wandel, ein dritter Weg zwischen Ost und West - solche deutschen Selbstbeschwörungen führten mit in die Katastrophe. Ihren historischen Schuldkomplex haben viele deutsche Politiker seltsamerweise sehr einseitig auf Russland bezogen, während sie die Sorgen und Ängste der Polen, Balten und Ukrainer nicht ernst nahmen, obschon Deutschland auch diese Länder im Zweiten Weltkrieg in grausamer Weise versehrt hat. Aber was interessieren die kleinen Länder? Es spielte die deutsch-russische Achse."

Guerillataktiken und Überraschungsangriffe werden im Ukrainekrieg nicht funktionieren, einfach, weil die Überwachung dafür heute zu gut geworden ist, meint in der Welt der Militärexperte Edward Luttwak. Er sieht nur eine Möglichkeit für die Ukraine, diesen Krieg zu gewinnen: 10 oder wenigstens 5 Prozent Mobilisierung, das "wären immer noch anderthalb Millionen Soldaten. Mit einer solchen Truppenstärke könnte die Ukraine ihre Schlachten gewinnen und ihr Territorium auf die altmodische Art und Weise befreien: in einem Zermürbungskrieg, so wie in den meisten europäischen Unabhängigkeitskriegen."
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Internet

Im Welt-Interview mit Christian Meier warnt Digitalexperte Martin Andree vor einer Übermacht der Tech-Konzerne, die ihm zufolge durch ihre Macht im Internet die Demokratie gefährden. Dabei könnte man sie einfach auf ihre Plätze verweisen: "Die Plattformen sagen, sie sind eigentlich nur Infrastrukturen, so was wie Telefonnetze. Sie wollen darum keine Verantwortung für die Inhalte übernehmen, die dort hochgeladen werden. Also hätte man damals auch sagen können: Okay, ihr seid nur Intermediäre, ihr seid so wie Telefonleitungen, deswegen dürft ihr auch nur entsprechende Leistungen monetarisieren. Es wäre völlig absurd, dass ein Infrastrukturbetreiber Inhalte monetarisiert. Wir haben es aber durchgehen lassen, dass die Plattformen trotzdem Inhalte monetarisiert haben, durch den Verkauf von Werbeplätzen. Wir sind regulatorisch aufs Eis geführt worden und deswegen natürlich auch zu einem großen Teil selbst schuld sind an dieser Misere." Letztlich fordert er die Regulierung des Internets - es wäre wohl auch dem Springer-Konzern ganz recht, wenn sich Lücken auftun würden.
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Gesellschaft

Das Selbstbestimmungsgesetz dürfte in Kürze endgültig verabschiedet werden, nachdem letzte Bedenken in der Ampelkoalition beseitigt sind, berichtet  Heike Schmoll in der FAZ: "Die Änderung des Geschlechtseintrags und des Vornamens kann durch eine einfache 'Erklärung mit Eigenversicherung' beim Standesamt vorgenommen werden. Sie soll drei Monate später wirksam werden. Danach soll laut Gesetzentwurf eine einjährige Sperrfrist für eine weitere Änderung gelten. Für Minderjährige bis 14 Jahre sollen die Sorgeberechtigten eine Änderungserklärung abgeben können. Minderjährige ab 14 Jahren dürfen aber die Änderungserklärung selbst abgeben, die allerdings nur dann wirksam wird, wenn die Sorgeberechtigten zugestimmt haben."
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Stichwörter: Selbstbestimmungsgesetz

Politik

In den Maghreb-Staaten tritt der gesellschaftliche Rassismus immer offener zu Tage - katalysiert durch rassistische Aussagen des tunesischen Präsidenten, schreibt Beat Stauffer in der NZZ. Vor allem Schwarze, die aus Ländern südlich der Sahara fliehen, bekommen diesen Rassismus zu spüren. "Zum Problem werden diese Menschen vor allem dann, wenn ihnen die Ausreise nach Europa nicht gelingt und sie sich in armen Vorstadtvierteln oder improvisierten Camps niederlassen. Auch in gebildeten progressiven Kreisen werden bettelnde oder Arbeit suchende afrikanische Migranten immer häufiger als störend wahrgenommen. Doch auch die Abkömmlinge der ehemaligen Sklaven, meist 'harratin' genannt, die vor Jahrhunderten in den heutigen Sahelländern geraubt und als Sklaven in den Maghreb verkauft worden sind, leiden bis heute unter sozialer Diskriminierung. Wer eine dunkle Hautfarbe aufweist, bleibt in allen Maghrebstaaten in der untersten sozialen Schicht gefangen."

Die Wahl von Lula zum brasilianischen Präsidenten wurde vom Westen maßgeblich unterstützt. Kein Bolsonaro mehr, kein brasilianischer Trump! In den Erwartungen des Westens stecken viele Illusionen, warnt der ehemalige chilenische Finanzminister Andrés Velasco in der NZZ. Lula unterstützt international vermehrt autoritäre Staaten - wie zum Beispiel Russland. "Lula tut all das aus dem gleichen Grund, aus dem Babys an ihren Zehen nuckeln: weil er es kann. Die Regierungen mehrerer lateinamerikanischer Länder (darunter Chile, Paraguay und Uruguay) stehen seiner Haltung sehr kritisch gegenüber, sind aber nicht groß oder mächtig genug, Lula von seinem Kurs abzubringen. Die USA und führende europäische Länder finden seine Position unhaltbar. So sagte der Sprecher des amerikanischen Rates für nationale Sicherheit: 'Brasilien plappert russische und chinesische Propaganda nach, ohne sich im Geringsten um die Fakten zu kümmern.' Aber die Länder im Norden sind zu sehr mit anderen Problemen beschäftigt, um sich auch noch mit Brasilien anzulegen."

Auch als Umweltschützer ist Lula wohl nicht die Heilsfigur, als die er vielerorts im Westen gesehen wird, schreibt Thomas Fischermann auf Zeit online. Auf der Konferenz zur Rettung des Amazonaswaldes letzte Woche kündigte er jedenfalls an, den Regenwald nur gegen Geld schützen zu wollen: "Der brasilianische Präsident hält nicht damit hinterm Berg, dass er sich den Aufbau einer groß angelegten Ölförderung im Mündungsgebiet des brasilianischen Amazonas wünscht. Er schließt auch nicht aus, dass die transamazonische Nord-Süd-Autobahn BR 319, die jahrzehntelang kaum befahrbar war, wieder eine frische Asphaltdecke verpasst bekommt, so wie es vorher schon Jair Bolsonaro beschlossen hatte. Das wäre dann eine offene Einladung für Lastschlepper fahrende Holzfäller, wobei die BR 319 auch zu Gasfeldern in riesigen, bislang paradiesisch unberührten Regenwaldgebieten führt. Der Bau einer umstrittenen Gütertransport-Eisenbahn quer durch den Amazonaswald steht ebenfalls wieder auf dem Plan. ... So sind Lula da Silvas Pläne am Amazonas also zu verstehen: Wenn der Regenwald erhalten werden soll, dann als wirtschaftliches und sozialpolitisches Projekt. Andere Dinge werden auch in den übrigen Anrainerstaaten kaum durchzusetzen sein."

Morgen treffen sich die Brics-Staaten - Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika in Johannesburg. Das Treffen könnte "ein wirklich bedeutendes Ereignis sein", meint Henrik Müller bei Spon. Nur haben die fünf leider keine andere Idee, als dem Westen an jeder Misere die Schuld zu geben. Für eine neue, "rechtsbasierte Weltordnung" reicht das nicht, findet Müller. "Eine eigene Vorstellung davon, wie die Welt ihre gemeinsamen Probleme angehen soll, haben die Brics nicht. Worauf sie sich einigen können, ist vor allem, was sie nicht wollen: westliche Dominanz. Das genügte, solange sie Nutznießer der von den USA gestützten internationalen Ordnung waren. Inzwischen ist die Erosion dieser Ordnung weit vorangeschritten. Reine Obstruktion ist unter diesen Umständen keine sinnvolle Strategie mehr. Doch die Brics-Staaten verbindet wenig. Sie haben kaum gemeinsame Interessen, keine verbindenden Werte."
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Geschichte

Der in Deutschland lehrende belarussische Historiker Alexander Friedman erzählt in der taz, wie Wladimir Putin und einige ihm ergebene Historiker den Hitler-Stalin-Pakt in den letzten Jahren immer mehr als einen Sieg der Sowjetunion, sozusagen eine diplomatische Finesse Stalins, darstellten - in den von den Historikern betreuten Schulbüchern wird der Pakt inzwischen genau so gedeutet. "Und das Zusatzprotokoll, die Aufteilung Polens, die Annexion der baltischen Staaten und Bessarabiens, der Winterkrieg gegen Finnland? Sicherheitspolitische Notwendigkeit und Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit."

Die Schweiz streitet um ihren Nationalfeiertag, berichtet Urs Hafner in der FAZ. Die Wilhelm-Tell-Mythen, um die sich der bisherige 1. August rankt, scheinen nicht mehr recht zu funktionieren. Deshalb wird der 12. September vorgeschlagen, der Geburtstag der Verfassung von 1848. Doch auch dieser Bezug hat seine Tücken, so Hafner: "1848 war die direkte Demokratie, welche die DNA des Landes ausmache, wie alle politischen Lager zu bekräftigen nicht müde werden, kein Thema. Sie wurde erst später auf Druck der Linken wie der Konservativen eingeführt, zuerst in den Kantonen. Mehr als in einem sagenumwobenen Mittelalter liegen die Wurzeln der direkten Demokratie im französischen Frühsozialismus, der von Schweizer Intellektuellen aufgegriffen wurde. Das hört man in Bundesbern nicht gern. 1848 bekämpften die liberalen Eliten die direkte Demokratie. Sie fürchteten nicht nur den Einfluss des ungebildeten Pöbels, sondern auch um ihre Privilegien."

Außerdem: Der Historiker und Philosoph Konstantin Sakkas spaziert für die NZZ durch Kopenhagen auf den Spuren von Bohr, Kierkegaard und Thorvaldsen. In 15 Bänden legen Historiker die Frühgeschichte des BND vor. "Pointiert zusammengefasst" sind darin die Erkenntnisse über den politischen Einfluss des Dienstes in der Adenauer-Zeit, legt der Historiker Jost Dülffer auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ dar.
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Medien

Und so geht's zu in Österreich. Die ORF-Hauptnachrichtensendung "Zib" sendete zwei russische Fake-Videos, berichtet Florian Bayer in der taz. Angeblich zeigten die Videos, wie die Ukrainer Soldaten zwangsrekrutieren, aber in Wirklichkeit handelte es sich um die Festnahme russischer Spione. Darauf angesprochen, reagierte ORF so: "Dem ORF russische Propaganda zu unterstellen, ist absurd und richtet sich von selbst." Erst auf Druck räumte der Sender ein, einen Fehler gemacht zu haben. "Der Macher des Beitrags, Christian Wehrschütz, twitterte dazu inzwischen: 'Der Fehler wird mir eine Lehre sein, der erste in 23 Jahren Korrespondent. An der Richtigkeit des Beitrags ändert der Fehler nichts!' Wehrschütz ist seit 2013 der alleinige Ukrainekorrespondent des ORF. Bis 1983 schrieb er für die rechtsextreme Zeitschrift Aula. Seit 1991 ist er beim zur Objektivität verpflichteten ORF. Bis 2002 war er Mitglied der prorussisch auftretenden FPÖ."

Die ARD will ihre Talkshows reformieren, berichtet Aurelie von Blazekovic in der SZ. Anne Will soll sich demnach bald an ein jugendliches Publikum richten. Das könnte auch die Austauschbarkeit der verschiedenen Sendungen beenden, im Moment gibt es nicht allzu viel Variation. "Auch in der Themenauswahl geht es nicht überschneidungsfrei. 2022 war es 46 Mal der Ukraine-Krieg, 19 Mal die Energiekrise und elf Mal Corona. Die Themen der Sendungen leiten sich vom aktuellen Geschehen ab - so weit ist das verständlich. Doch muss man es so machen - fünf Talkshows, die sich im Grunde nur durch ihren Moderator auseinanderhalten lassen?"
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