Heute in den Feuilletons

Heute glücklich ohne Bedauern

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.04.2010. Die NZZ ist mit den Verzagten, und zwar sowohl Japanern als auch Verlagen. Die FAZ lupft dem Fundamentalismus der Aufklärung den Schleier. In der taz fordert Michael Brumlik den Antisemitismusforscher Wolfgang Benz auf, sich zu seinem Nazidoktorvater zu äußern. Die SZ liest Romane über Landärzte und rät Studierenden von entsprechenden Angeboten ab. Laut Mediabistro wurden mit dem Ipad schon mehr als 600.000 Ebooks heruntergeladen. In der Welt betet Mathias Döpfner zu Steve Jobs.

TAZ, 09.04.2010

Nicht entdeckt hatten wir eine Kolumne von Micha Brumlik von Dienstag, in der er den Historiker Wolfgang Benz zugleich verteidigt und kritsiert. Einerseits sieht Brumlik Benz' Parallelisierung von Islamophobie und Antisemitismus als "politisch folgenreiche Grundlagendebatte der historischen Sozialwissenschaft, die Benz durchaus mit Respekt bestehen könnte", andererseits fordert er Benz auf, sich zu den Vorwürfen gegen seinen Doktorvater Karl Bosl zu verhalten, der seit 1933 Mitglied der NSDAP war, sich noch 45 aktiv betätigte und 1964 vor einem rechtsextremen Vertriebenenbund den Tschechen "eine radikalen Endlösung des deutschen 'Problems' nach hitlerischem Modell" vorwarf. Weitere Recherchen zu Benz und Bosl im Blog von Clemens Heni hier und hier.

In Teil zwei der Debatte über die Frage, ob Plattenrezensionen weiterhin gültige Maßeinheit einer kritischen Popberichterstattung sein können, argumentiert Jörg Sundermeier, Programmleiter des Berliner Verbrecher Verlags, der Kapitalismus brauche die Warenförmigkeit der Kunst, um sie besser verwerten zu können. Deshalb müsse auch die Popkritik hinter die Konsumentenberatung zurückweichen und unterwerfe sich dabei professionellen Marktgesetzen: "Mit der Orientierung an Veröffentlichungsterminen hat sich professionelle Popkritik freiwillig zum Sklaven der Musikindustrie gemacht. Und sie hat über Jahre hinweg ihre Leser zum Konsumverhalten erzogen... Solange sich die Popkritik nicht weiter von Erscheinungsterminen und Anzeigen löst, hat ein kritisches Popverständnis außerhalb der Fanzines keinen Ort."

Weitere Artikel: Anne Peter porträtiert den Regisseur Antu Romero Nunes, dessen Inszenierung von Schillers "Der Geisterseher" beim Münchner Festival Radikal Jung zu sehen ist. Esther Bold schreibt über die junge Regisseurin Lilli-Hannah Hoepner, die mit ihrer Bochumer Inszenierung "Himmelangst" dort vertreten ist.

Besprochen wird die Kompliation "Head Over High Heels. Strong & Female 1927-1959", auf der vierundzwanzig Künstlerinnen, darunter Billie Holiday, Marlene Dietrich, Eartha Kitt, Jean Harlow und Mae West zu hören sind.

In tazzwei sind Pro und Contra zum Titelbild der aktuellen Titanic zu lesen, für das es Beschwerden beim Deutschen Presserat hagelt. Meike Laaf berichtet über das Umdenken der Netzpiraten, die nach ihrem Kampf für freie Inhalte heute ein "universelles Mikrobezahlsystem" befürworten.

Und Tom.

Aus den Blogs, 09.04.2010

Das Ding scheint zu laufen. Mediabistro meldet: "At an Apple event this afternoon, Apple CEO Steve Jobs said the company has counted 600,000 downloads of eBooks for the iPad."

Wolfgang Michal porträtiert für Carta Frank Westphal, den Erfinder des unverzichtbaren Blog-Aggregators Rivva: "Rivva, sagt man, fühle der Blog-Szene den Puls. Die Seite gruppiert thematisch verwandte Diskussionen (also den Zeitgeist) rund um die Uhr zu einer aktuellen 'News-Seite' - mit dem Unterschied, dass hier nicht Chefredakteure qua Amt, sondern Blogger durch ihre Verlinkungen entscheiden, welche Artikel auf der Titelseite landen und welche nicht."
Stichwörter: Ebooks, Jobs, Steve

FR, 09.04.2010

Sylvia Staude unterhält sich mit dem britischen Krimiautor Phil Rickman, der mit seinen Büchern um die Exorzistin Merrily Watkins versucht, das Genre des spirituellen Polizeiromans zu etablieren, der kein religiöser Krimi ist. In Times mager feiert Arno Widmann die "Faulheit unserer Spezies".

Besprochen werden das Album "Vom Vintage verweht" des Rappers Dendemann alias Daniel Ebel, eine Ausstellung über den "unbedankten" Ökonomen, Philosophen und Sozialreformer Otto Neurath im Wiener Museum für Angewandte Kunst, eine Schau von Trisha Donnellys Zeichnungen im Frankfurter Portikus, Jürgen Teipels Roman "Ich weiß nicht" und Lamya Kaddors Buch "Muslimisch, weiblich, deutsch" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Online gemeldet wird der Tod des großen Punk-Managers Malcolm McLaren.

Weitere Medien, 09.04.2010

Missbrauch des Missbauchs! kath.net meldet, dass die Zeitschrift Titanic wegen ihre jüngsten Titelblatts verklagt wird: "Der Staatsanwaltschaft in Frankfurt am Main lagen mit Stand vom letzten Freitag mindestens zwei Anzeigen gegen die verantwortlichen Redakteure für das Titelbild und die Herausgeber vor. Ihnen wird die Beschimpfung einer Religionsgemeinschaft (Paragraph 166 StGB) vorgeworfen."



Irgendwie funktioniert's nicht mit Multikulti in der weiten Welt. David Schwarz schreibt in der Jungle World über die oft drastische Homophobie in Afrika und staunt dann über die "Einhelligkeit, mit der die Homophoben in Afrika sowie deren Gegner die Wurzel allen Übels identifizieren: Der Kolonialismus sei Schuld. Gleichgeschlechtliche Liebe sei eine 'ausländische Praxis, die in unser Land importiert wurde', meint etwa Mugabe. Und die Nichtregierungsorganisation 'Gays and Lesbians of Zimbabwe' benennt 'Homophobie und nicht etwa Homosexualität als den korrupten westlichen Import' und wiederholt damit auch ein Argument zahlreicher europäischer Homoverbände."

Welt, 09.04.2010

Wolf Lepenies erinnert ohne erkennbaren Anlass an zwei intellektuelle Mittler, die Kafka nach Arabien brachten, den Schriftsteller Georges Henein (1917-73) und den Essayisten Taha Hussein (1889-1973), die zugleich antitotalitäre Intellektuelle waren. Paul Jandl erzählt, dass die Missbrauchsskandale selbst im skandalgestählten Österreich für einen ungewöhnlichen Aufruhr sorgten - und er macht deutlich, dass es schon 1995 "Versuche gegeben hat, den Vatikan zu einer transparenten Aufarbeitung der Angelegenheit zu bewegen" (War damals nicht ein gewisser Ratzinger zuständig?). Hanns-Georg Rodek erzählt, dass aus den Tweets von Kinofreunden recht frühzeitig die kommenden Abspielergebnisse von Hollywood-Filmen zu erraten sind. Thomas Abeltshauser berichtet, dass das ZDF die im Feuilleton beliebte Krimiserie "KDD" nach der jetzt anlaufenden dritten Staffel endgültig killt. Hannes Stein weist auf ein Youtube-Video des amerikanischen Senators Eric Adams hin, der schwarzen Jugendlichen rät, Gürtel in ihre Hosen zu ziehen (die auch unter deutschen Jugendlichen grassierende Mode der hängenden Hose wurde offenbar im Gefängnis geboren, wo Gürtel verboten sind).



Besprochen wird Richard Strauss' "Daphne" in der Regie von Claus Guth in Frankfurt.

Ach ja, und Welt online meldet: Mathias Döpfner war in eine amerikanische Talkshow eingeladen: "Döpfner zeigte sich von dem iPad begeistert: 'Jeder Verleger sollte sich einmal am Tag hinsetzen, beten und Steve Jobs dafür danken, dass er mit diesem Gerät die Verlagsindustrie rettet.'" Dazu fragt Cory Doctorow in seinem Blog BoingBoing: "Now that Apple is publishing newspapers, can newspapers cover Apple?"

Tagesspiegel, 09.04.2010

Ingo Metzmacher hat seit seinem annoncierten Rücktritt als Dirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters nicht zur Presse gesprochen. Nun äußert er sich im Tagesspiegel im Gespräch mit Jörg Königsdorf, der die deprimierenden Vorgänge noch einmal resümiert. "Die Kulturpolitik hat mich erst geholt und dann fallen gelassen", sagt der immer noch erboste Dirigent.

FAZ, 09.04.2010

Patrick Bahners unternimmt einen längeren geistesgeschichtlichen Ausflug, um in der Frage heraufziehender Burka-Verbotsgesetze in Frankreich zwar nicht zu einer eindeutig identifizierbaren Haltung, aber zum folgenden Schluss zu gelangen: "Wer leugnet, dass auch die säkulare Staatsanschauung versucht ist, das ganze Leben der Menschen regieren zu wollen, belegt eben durch diese aller historischen Erfahrung zuwiderlaufende Meinung, dass es ihn gibt, den Fundamentalismus der Aufklärung." (Und als nächstes hätten wir dann gern einen Gottesbeweis, bitte.)

Weitere Artikel: Warum es sinnvoll ist, Einwandererkinder sowohl die Sprache der alten wie die der neuen Heimat zu lehren, erklärt Karen Krüger. Kerstin Holm fürchtet, dass es in Russland angesichts des Terrors kein wirkliches Interesse an "irgendeiner Form von Ursachenbekämpfung" gibt, ja, dass manchem die jüngsten Anschläge sogar ganz recht kamen. Günter Paul macht uns mit der in Südafrika neu ausgegrabenen Hominidenart Australopithecus sediba bekannt. In der Glosse geht es um metaphorischen, literarischen und realen DDR-Bergbau. In seiner diesmal erstaunlich reaktionären Kolumne freut sich Eduard Beaucamp, dass mit der Affäre Hegemann nun auch die Literatur das von ihm in der Kunst gründlich verachtete "Bad Painting"-Problem bekommen hat. Niklas Maak stellt den täglich erneuerten Berliner Kunstort "Forgotten Bar" vor.

Besprochen werden die Porzellan-Ausstellung "Exotische Welten" im Leipziger Grassi-Museum, ganz kurz Louis Leterriers "Kampf der Titanen"-Remake und Bücher, darunter Ian McEwans erst im September in deutscher Übersetzung erscheinender Klimawandel-Roman "Solar" (den Felicitas von Lovenberg als "prächtige Farce" lobt) und Hallgrimur Helgasons Roman "Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 09.04.2010

Aus aktuellem Anlass erinnert Lothar Müller an Landarztgeschichten in der Literatur und macht auf mögliche unerwünschte Nebenwirkungen einschlägiger Lektüre aufmerksam: "Es kann nicht ausbleiben, dass die Bewerber für Medizin-Studienplätze ins Grübeln geraten, wenn sie sich über die Landarzt-Literatur beugen, um Aufschlüsse über ihr künftiges Berufsfeld zu erlangen."

Weitere Artikel: Andrian Kreye nimmt Abschied von der einstigen Kult-Agentur Springer & Jacobi und damit einem wichtigen Stück Zeitgeistgeschichte. Martin Thurau gibt Einblick in den Wahlkampf ums Amt des Münchner Uni-Präsidenten, bei dem der prominentere Bewerber Julian Nida-Rümelin wohl schlechtere Karten hat als Amtsinhaber Bernd Huber. Henning Klüver ist vor Ort in Turin, wo ab morgen bis zum 23. Mai mal wieder das umstrittene Grabtuch öffentlich ausgestellt wird. Alex Rühle versucht zu klären, warum es in der katholischen Kirche in Frankreich weit weniger Missbrauchsfälle zu geben scheint als anderswo. Judith Raupp schildert, wie ein fünfzig Meter hohes Unabhängigkeitsmonument im Senegal nichts als Ärger bereitet.

Besprochen werden die 14-teilige CD-Edition "Richter in Hungary" mit bislang unveröffentlichten Aufnahmen des Pianisten Swjatoslaw Richter, das MGMT-Album "Congratulations" und Bücher, darunter Hermann Kants neuer Roman "Kennung" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 09.04.2010

Die Japaner sind erschöpft, meint der Japanologe Florian Coulams, der eine ausgesprochen matte Stimmung im Land verzeichnet. Vor allem leiden die Japaner an ihrer unschlagbar hohen Lebenserwartung: "'Mut zum Leben', 'Kraft des Alters', '91. Heute glücklich ohne Bedauern', 'Gespräche über ein glückliches Alter', 'Ratschläge eines Hundertjährigen', 'Ein Leben ohne Rückzug aufs Altenteil'. Das sind Titel einiger Neuerscheinungen, die in Tokioter Buchläden ausliegen."

Kürzlich hat der Autor Ulf Erdmann Ziegler die Verlage in der FAZ aufgerufen, einen Gegenkonzern zu den allmächtigen Buchketten zu gründen. Joachim Güntner hat sich bei recht verzagten Verlagen erkundigt, was sie von der Idee hielten. "Das Ergebnis ist: Der Vorschlag fällt durch. Sympathiepunkte erntet der Autor fast überall, manchmal auch den Seufzer 'Davon träume ich seit langem'. Doch sein Konzept hält man für nicht praktikabel."

Weiteres: Christina Kleineidam besucht im indischen Miraj einen Sitarbauer. Gabriele Detterer besichtigt das von Christoph Mäckler umgebaute Augustinermuseum in Freiburg. Auf der Plattenseite huldigt Stefan Hentz dem Posaunisten Christophe Schweizer, Ueli Bernays hört das neue Album "Insomnia" der Schweizer Electronica-Formation Superterz.