Heute in den Feuilletons

Funkeln ins Unerlaubte

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.06.2012. In der FAZ feiert Herta Müller die Erzählung "Ein Wiederkommen" von Georges-Arthur Goldschmidt. Hans Magnus Enzensberger kann in der Welt mit dem Begriff des "Geistigen Eigentums" nicht viel anfangen, mit den Piraten aber auch nicht. Die SZ hofft unterdessen mit Blick auf Geschäftemacher wie Perlentaucher und Google auf den Schutz "journalistischen Eigentums", gibt einem Leistungsschutzrecht aber wenig Chancen. In der NZZ fürchtet der Theologe Jan-Heiner Tück ein Zurückweichen der katholischen Kirche vor den antisemitischen Pius-Brüdern.

Welt, 02.06.2012

Mit dem Begriff des "Geistigen Eigentums" kann Hans Magnus Enzensberger nicht allzu viel anfangen, mit den Piraten aber offenbar auch nicht, wie sich im Gespräch mit Ulrich Wickert herausstellt: "Den Begriff des geistigen Eigentums kann man durchaus infrage stellen. Was heißt denn das? Muss der Schutz erst 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers wegfallen? Es gibt auch Ausnahmen. Es gibt Zitatrechte. Es gibt Schulbücher, alles Mögliche. Ich bin kein Dogmatiker. Ich kann auch nicht sagen, dass ich da gleich in Existenzangst verfalle. Es ist mehr eine Frage der Mentalität. Diese Piraten-Mentalität hat etwas Schäbiges, Kleinkariertes. Das gefällt mir nicht."

Weitere Artikel in der Literarischen Welt: Klaus Harpprecht liest Annette Seemanns Kulturgeschichte Weimars. Besprochen werden unter anderem "72 Jungfrauen", ein satirischer Roman des Londoners Bürgermeisters Boris Johnson, Georges-Arthur Goldschmidts Erzählung "Ein Wiederkommen", Wilfried Huismanns investigative Reportagen über den World Wildlife Fund (der nach dem Buch ziemlich gerupft dazustehen scheint) und Bücher über Techniken des Cyberkriegs.

Im Feuilleton schreibt der Autor David Wagner einen Nachruf zu verlängerten Lebzeiten des Flughafens Tegel. Marko Martin besucht Gerhart Hauptmanns Villa Wiesenstein mit verstaubenden Reliquien eines großen Dichterlebens. Matthias Heine würdigt Matthias Lilienthal, dessen segensreiches Wirken am HAU die Theaterwelt noch vermissen wird. Michael Pilz feiert die wundersame Wiederauferstehung Bobby Womacks (hier ein Making-Of-Video zu seiner ersten Platte seit 1994). Und Andreas Seibel trifft sich mit dem Hirnforscher Michael Madeja zum Tischgespräch.

Weitere Medien, 02.06.2012

(via Jezebel) In der afghanischen Provinz Takhar wurden nach einem Bericht CNN 160 Mädchen im Alter zwischen 10 und 20 Jahren vergiftet, weil sie zur Schule gingen. Vermutlich waren die Klassenzimmer mit einer giftigen Substanz ausgesprüht worden. Die Mädchen, die unter Schwindelgefühlen, Kopfschmerzen und Erbrechen litten, wurden in ein Krankenhaus gebracht. Die meisten wurden nach einigen Stunden wieder entlassen. Laut CNN war es der zweite Vorfall dieser Art innerhalb einer Woche.

Auf Spiegel online erzählt Wenzel Storch, warum er von seiner Kunst kaum leben kann: Nachdem er zehn Jahre an seinem Film "Reise ins Glück" gebastelt hatte, wollten ihn im Kino "gerade mal 16.000 Leute" sehen, obwohl er in den Printmedien ganz groß besprochen worden war: "eine zwölfseitige Fotostrecke in Geo, sechs Seiten im Rolling Stone, vier Seiten in der Titanic, zwei Seiten in Spex und dazu je eine Seite im Spiegel und in der Zeit - da sollte man doch meinen, die Kinos platzen aus allen Nähten. Danach hatte ich vom Filmen, das heißt von zeitraubenden, mehrjährigen Projekten, erst mal die Nase voll. Allerdings habe ich 2009, als vorläufigen Abschluss, noch einen Videoclip gedreht: "Altes Arschloch Liebe" für Bela B. Der hatte dann, allein auf MySpace, mehr Zuschauer als alle meine Filme zusammen. "

TAZ, 02.06.2012

Steffen Grimberg überlegt, ob mit Uwe Vorkötters Absetzung als Chefredakteur von Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitungdie defizitäre FR künftig wieder unabhängiger von der Berliner Zeitung oder ganz eingestellt wird. Pikante Hintergrunddetails der Personalie weiß er zudem zu berichten: So spiele auch die Springer-Aversion von Verlagsleiter Alfred Neven DuMont eine Rolle. "Als im vergangenen Jahr in den DuMont-Blättern ein großes Döpfner-Interview erschien - von Vorkötter höchstpersönlich geführt - soll 'King Alfred' außer sich gewesen sein. Erst in den letzten Wochen soll man wieder miteinander gesprochen haben. Das Ergebnis ist nun bekannt."

Weitere Artikel: Ingo Arend philosophiert mit documenta-Chefin Carolyn Christov-Barkargiev über Kunst und Ausstellungskonzepte. René Martens berichtet von erhöhtem Diskussionsbedarf bei der Mitgliederversammlung der VG Wort am kommenden Wochenende nachdem der Verwertungsgesellschaft vorgeworfen wird, jahrelang Geld zu Ungunsten der Urheber verteilt zu haben (mehr dazu hier). Tania Martini stellt den Occupy-Vordenker David Graeber vor, dessen Buch über Schulden sich in Deutschland schon stolze 30.000 mal verkauft habe. Warum das mit Occupy trotzdem nichts wird, verrät der Protestrocker Billy Bragg Thomas Winkler im Gespräch: Das sei "ein Haufen verfickter Hippies", für die er dann aber doch auf Wunsch die "Internationale" singe. Erik Wenk stellt kulturwissenschaftliche Computerspielstudien an der Universität Potsdam vor. Dirk Knipphals erfährt aus einem Skript aus einer Vorlesung von Robert Gernhardt, dass Günter Grass sich mit Gedichten schon immer schwer tat.

Besprochen werden das neue Album von THEESatisfaction sowie Bücher, nämlich Matthias Senkels Roman "Frühe Vögel", der es Elisabeth Forster nicht leicht macht, und der Laptopprekariats-Roman "Gehwegschäden" von Helmut Kuhn (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

NZZ, 02.06.2012

Der Wiener Theologe Jan-Heiner Tück fürchtet, dass in der katholische Kirche die Tendenzen zur Infragestellung des Zweiten Vatikanischen Konzils immer stärker werden. So wolle der Kardinal Walter Brandmüller jene Dokumente relativieren, die von der Aussöhnung mit den Juden und Religionsfreiheit sprechen, um die antisemitischen Pius-Brüder wieder in den Schoß der Kirche zurückzuholen: "Der Preis für die Aussöhnung mit der Piusbruderschaft wäre zu hoch, wenn die Erklärungen 'Nostra Aetate' und 'Dignitatis humanae' ins Zwielicht gerückt oder gar zurückgenommen würden. Wäre Letzteres zu befürchten, hätten Katholiken allen Grund zum Protest."

Besprochen werden die Ausstellung "Deftig barock" im Kunsthaus Zürich und Bücher, darunter John Burnsides Roman "In hellen Sommernächten" (mehr hier).

Für Literatur und Kunst besucht Andrea Köhler die alt-neue Barnes Foundation in Philadelphia. Nike Wagner hält eine Lobrede auf Wolfgang Rihm. Navid Kermani betrachtet in der Kolumne "Bildansichten" den "Liebeszauber" eines unbekannten Kölner Meisters (links). Auch hier werden Bücher besprochen, darunter ein Briefband Saul Bellows (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 02.06.2012

Herta Müller bespricht Georges-Arthur Goldschmidts Erzählung "Ein Wiederkommen", die unter anderem das unmögliche Heimweh des Waisen und Heimatlosen nach Deutschland schildert: "Arthur Goldschmidts Sätze funkeln ins Unerlaubte, wandern zwischen Trance und Analyse." (Hier eine Leseprobe aus der Erzählung.)

Weitere Artikel: Gina Thomas meditiert zum sechzigsten Kronjubiläum der Queen über die Wege Großbritanniens von der verarmten Nachgriegsnation zu einer Klassengesellschaft, in der nicht mehr Herkunft, sondern Geld zählt. Paul Ingendaay schickt einen deprimierten Bericht aus dem krisengeschüttelten Spanien ("Spanien in diesen Wochen, das ist ein Land im Sinkflug. Man weiß nur noch nicht, wie hart es landet - und ob auf dem Acker oder im Sumpf") Marcus Jauer kommentiert die Meldung, dass Klassenbücher in Berlin künftig elektronisch geführt werden, mit SMS an die Eltern bei der geringsten Verfehlung der Schüler, als Bild für eine aufkommende Überwachungsgesellschaft. Nils Minkmar liest ein Buch des New York Times-Redakteurs David E. Sanger, das erzählt, wie die CIA per Computervirus die iranischen Atomanlagen außer Gefecht setzte - eine Strategie, die von Präsident Obama ausdrücklich unterstützt wurde. Jürgen Dollase geht für seine Gastrokolumne bei dem Zweisterne-Koch Jordi Cruz in Barcelona essen. Auf der Medienseite schildert Josef Oehrlein das schwierige Leben der Journalisten in Argentinien unter Präsidentin Kirchner. Auf der letzten Seite erzählt Rainer Schulze, dass die Ausrichtung der Europamannschaft in der Ukraine auf Kosten der ärmeren Schichten des Landes geht.

Besprochen werden der Start der Madonna-Welttournee in Tel Aviv, Rolando Villazons "Liebestrank"-Inszenierung mit ihm selbst in Baden-Baden, eine Fotografie-Ausstellung aus dem Bestand des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt und Bücher, darunter der Roman "Ustrinkata" des viel gefeierten Schweizer Autors Arno Camenisch.

In Bilder und Zeiten sucht die Tiermalerin und Schriftstellerin Anita Albus nach untergründigen Beziehungen zwischen Marcel Prousts "Recherche" und den Forschungen des Insektenkundlers Jean-Henri Fabre. Ulrich Schacht besucht Ingmar Bergmans Anwesen auf der Insel Farö. Rainer Meyer schildert die Freuden des Oldtimer-Rennens Mille Miglia in Italien.

Auf der Schallplatten-und-Phono-Seite bespricht Alban Nikolai Herbst eine Maurizio-Kagel-CD. Auf der letzten Seite unterhält sich Christiane Teewinkel mit der Geigerin Isabelle Faust.

Für die Frankfurter Anthologie liest Gert Ueding Hofmannsthals zweite Terzine über die Vergänglichkeit.

SZ, 02.06.2012

Mit Blick auf Geschäftemacher wie Perlentaucher und Google gräbt Heribert Prantl im Medienteil tief in den Annalen der Medien-Rechtsgeschichte und kommt zu dem Ergebnis: Die Forderungen nach einem Leistungsschutzrecht für Zeitungen sind keineswegs neu. Und wie im 19. und 20. Jahrhundert haben sie auch im 21. wenig Aussicht auf Erfolg (wie auch der Perlentaucher schon weissagte), "schon weil die Schwierigkeiten bei der Konstruktion eines praktikablen Leistungsschutzrechts zu groß sind und eine gesellschaftliche Akzeptanz der Kostenpflichtigkeit bloßer Links nicht vorhanden ist. Wenn das geistige Eigentum konsequent geschützt wird und geschützt bleibt, kann man auf ein zusätzliches Leistungsschutzrecht verzichten." Das "journalistische Eigentum" beginne jenseits der bloßen Information.

Im Feuilleton erklärt Neil Young im Gespräch, warum er sein neues Album "Americana" auch im kompressionfreien Blu-ray-Format veröffentlicht: "Die vollständige Musik lässt sich nur auf Vinyl und eben auf Blu-ray hören. Andere digitale Medien bieten dagegen nur einen Bruchteil der Daten, die wir aufgenommen haben. (...) Insofern sind es auch nicht die illegalen Downloads, die die Industrie bedrohen, sondern die technische Qualität des Produkts, das sie anbietet." Anhören kann man sich das Album auf Youngs Website in einer von ihm selbst erstellten Videocollage:



Weiteres: "Geistfeindliches Ressentiment" wirft Thomas Steinfeld einer neuen empirischen Studie vor, die bewiesen haben will, dass literarische Klassiker keinen Einfluss mehr haben. Cornelius Wüllenkemper fasst die auf dem deutsch-französischen Verlegertreffen in Berlin geäußerten Positionen zur Digitalisierung der Literatur zusammen. Das in Bochum und Essen derzeit aufgeführte Widerstandstheater gerinnt allen guten Absichten zum Trotz zu "Zeremoniell und Ritual", gähnt Vasco Boenisch. Stephanie Drees berichtet vom Performing Arts Festival in Oldenburg. Kristina Maidt-Zinke erlebt bei den Tagen Alter Musik in Regensburg ein "Wunder an Pracht und Präzision". Martina Knoben inspiziert in Oberbayern neue, artgerechte Laufställe für Kühe. Tobias Kniebe gratuliert Alain Resnais zum 90. Geburtstag. Außerdem gibt es zwei Sonderseiten zur Ruhrtriennale.

In der SZ am Wochenende besucht Harald Eggebrecht den Geigenbauer und Holzspezialisten Andreas Pahler im bayerischen Westerholzhausen. Julian Hans referiert die Geschichte der nationalen Identitätsfindung der Ukraine. Harald Hordych und Alex Rühle führen ein kerniges Gespräch mit dem wie stets anekdotenfreudigen Sepp Maier über die Tücken des Torwart-Daseins.

Besprochen werden der Trakl-Film "Tabu", die Ausstellung "Ein Wunsch bleibt immer übrig" im Museum Ludwig in Köln und Bücher, darunter eine neue Biografie über Samuel Finley B. Morse (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).