Mord und Ratschlag

Die Fähigkeit, Schmerzen zuzufügen

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
16.05.2018. In ihrem literarischen Thriller "Pik-Bube" verneigt sich Joyce Carol Oates elegant vor Edgar Allen Poe und  den dunklen Mächten des Genres. Naomi Alderman dreht in ihrem feministischen Page-Turner "Die Gabe" mit schlagender Konsequenz die Kräfteverhältnisse zwischen den Geschlechtern um.

Es ist unmöglich, über das Werk der amerikanischen Autorin Joyce Carol Oates den Überblick zu behalten. Nahezu im Jahrestakt legt Oates ein neues Buch vor und wechselt dabei zwischen allen Genres. In ihren großen Epen der achtziger Jahre sezierte sie die Begierden und die Heuchelei der amerikanischen Ostküsten-Dynastien, in ihrer Novelle "Schwarzes Wasser" beschrieb sie bereits 1992 einschlägig, wie fatal mächtige Männer für junge Frauen sind. Sie schreibt Jugendromane, Essays übers Boxen und übers Sterben und immer wieder Geschichten subtilen Horrors. Sie liebt die Meister des literarischen Grauens, und mit ihrem düsteren Thriller "Pik-Bube" verneigt sie sich mit großer Eleganz vor Edgar Allen Poe, Ambrose Bierce und Bram Stroker. Gewidmet hat sie den Roman dem New Yorker Buchhändler und großen Krimi-Verleger Otto Penzler. Man wünschte sich, auch deutsche SchriftstellerInnen würden das Genre so ernst nehmen.

"Pik-Bube" lehnt sich an Edgar Allen Poes Erzählung "The Imp of the Perverse" an, in der Poe die Verlockung des Verbotenen beschreibt und aus der Oates ihrem Roman ein Zitat voranstellt: "Wir stehen am Rand eines Abgrundes. Wir starren in den Schlund, uns wird übel und schwindlig. Unser erster Impuls ist, vor der Gefahr zurückzuweichen. Unerklärlicherweise bleiben wir." Bei Oates ist es der mittelmäßige Schriftsteller Andrew J. Rush, der das Unheil nicht nur kommen sieht, sondern geradezu lustvoll heraufbeschwört. Rush ist kommerziell erfolgreicher Thriller-Autor, auch wenn es an ihm nagt, dass die New York Times noch nie einen Roman von ihm besprochen hat und seine erwachsenen Kinder etwas verächtlich auf sein Werk blicken.

Die Bücher gewähren Rush ein komfortables Leben im vornehmen Harbourton in New Jersey, wo er mit seiner lieben Frau Irina im aufwendig umgebauten Mill Brook House residiert. Das Style Magazine war schon da. Rush bildest sich viel darauf ein, auf seinen Klappentexten der "Stephen King für Bildungsbürger" genannt zu werden, er besteht auf einem "optimistischen Ende", und Frauen werden in seinen Büchern -"abgesehen von ein paar Noir-Einsprengseln" - mit Anstand behandelt. Wenn intellektuelle Literatursnob über seine pedantisch konstruierten Bücher die Nase rümpfen, dann weiß er, dass sie niemals in der Lage wären, ein eigenes Werk zu verfassen. Rush ist ein grauenvolles Exemplar an Selbstgefälligkeit.

Offenbar selbst ein wenig abgestoßen von seiner Biederkeit, beginnt er unter dem Pseudonym "Pik-Bube" vulgäre, frauenverachtende Thriller zu schreiben, in denen zu viel Blut fließt, als dass es am Ende wieder aufgewischt werden könnte. Immer wieder blitzt nun auch die Gehässigkeit auf, mit der er seine Frau betrachtet, die liebe Irina, die er doch so anbetet und die seinetwegen ihre eigenen Ambitionen als Lyrikerin aufgegeben hat. Und schließlich wird er aus heiterem Himmel des Diebstahl und Plagiats bezichtigt. Vom Hecate County Municipal Court zu Anhörung vorgeladen, trifft er dort auf seine Nemesis: C.W. Haider, eine Frau, in der Rush im ersten Moment noch eine Art weißhaarige Ayn Rand mit aristokratischer Ausstrahlung sieht, doch kurz darauf nur noch eine "weißwirrköpfige Hexe mit quietschiger Stimme". Die Frau ist offenkundig verzweifelt, sie präsentiert kistenweise Aufzeichnungen, Tagebücher, Notate und im Selbstverlag veröffentlichte Manuskripte. Rushs Anwalt braucht nicht lange, um den Richter vom Wahnsinn der Frau zu überzeugen. Es stellt sich heraus, dass sie auch schon Stephen King, John Updike und John Grisham verklagt hat. Was alle erheitert und erleichtert. Nach der Verhandlung erleidet sie einen Kollaps und wird erst ins Krankenhaus, dann in die Klapsmühle verbracht. Rush fühlt sich dennoch bloßgestellt. Sie hat die ganze Lächerlichkeit seiner Prosa ans Tageslicht gezerrt.

Es ist atemberaubend, mit wie viel Finesse Oates hier das Unheil seinen Lauf nehmen lässt. In Andrew J. Rush steigen all die hässlichen, gemeinen, fiesen Impulse auf, die er bisher in seine Pulp-Romane bannen konnte. Völlig fasziniert von diesen ihm zuvor unbekannten Kräften, versucht er gar nicht erst, sie zu bändigen. "Pik-Bube" ist ein literarischer Thriller, tiefsinnig und fest verankert in der literarischen Tradition, aber auch im Hier und Heute . Oates spart nicht mit Anspielungen und Referenzen, mit maliziösem Witz nimmt sie den amerikanischen Literaturbetrieb aufs Korn. Aber sie belässt es nicht dabei. "Pik-Bube" ist nicht die literarische Fingerübung einer versierten Vielschreiberin. Es ist ein grandioser Roman über Verdrängung und Unterdrückung: Über die Verdrängung von Begierden und Wahrheiten im Freudschen Sinne, aber auch über die Verdrängung als ganz reale Strategie, um Konkurrentinnen auszuschalten. Vor allem solche, die zwar über hervorragende Ideen verfügen, aber nicht über die Cleverness, daraus Kapital zu schlagen.

Joyce Carol Oates: Pik-Bube. Roman. Aus dem Englischen von Frauke Czwikla. Droemer Knaur Verlag, München 2018, 208 Seiten, 19,99 Euro

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Auch die Britin Naomi Alderman reiht sich in eine ehrwürdige Tradition ein, wenn sie Genre und Feminismus verbindet, in ihrem Fall ist es jedoch die spekulative Fiktion. Die Dystopien der großen Margaret Atwood sind das Vorbild für ihren Roman "Die Gabe", für den sich nicht nur Atwood selbst als Gewährsfrau zur Verfügung gestellt hat, sondern auch Barack Obama. Die New York Times kürte ihn sogar zu einem der zehn besten Bücher des Jahres 2017.

Als fiktiv-historischer Roman blickt das Buch aus einer fernen matriarchalen Zukunft zurück auf jene Zeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts, als Frauen in sich eine neue Kraft entdeckten, ein Gefühl, das "nach Bitterorange schmeckt" und "unter der Haut glitzert". Von einem seltsam erstarkten Nervenstrang über dem Schlüsselbein geht eine elektrische Ladung aus, die junge Mädchen wie einen Blitz auf andere niederfahren lassen können.

Zuerst spürt dieses Phänomen die vierzehnjährige Roxy, die Tochter eines englischen Gangsterbosses, die mitansehen muss, wie ihre Mutter ermordet wird. Das Mädchen selbst entkommt, sie kann den Angreifern tödliche Stromschläge verpassen. Die junge Allie spürt gar eine Berufung in sich, die Stimme ihrer wahren Mutter. Sie ist in ihrer evangelikalen Adoptivfamilie, seelisch und körperlich missbraucht, halb wahnsinnig geworden. Sie entfesselt ihre Kräfte und tötet den ach so gütigen Mister Montgomery-Taylor mit heruntergelassener Hose.

Der junge Nigerianer Tunde erlebt in einem Supermarkt, wie eine junge Frau einen älteren Mann niederstreckt, der sie dumm anmacht. Tunde avanciert gleich zum Star-Journalisten, weil er so geistesgegenwärtig war, die Szene zu filmen, vielleicht auch weil er so hübsch ist. Bald darauf posten unzählige Mädchen Filme, auf denen sie in hohen Bögen ihre Blitze durch die Luft schleudern. Jungen müssen von ihren Eltern beschützt werden, oder verkleiden sich als Mädchen, um stärker zu erscheinen.

Bald zeigt sich auch, dass die Mädchen ihre Gabe an ältere Frauen weitergeben können. So lernt die ehrgeizige Margot Cleary, Bürgermeisterin einer Metropole an der amerikanischen Ostküste, von ihrer Tochter, die neue Kraft einzusetzen. Sie erlebt einen wahren Rausch der Macht. "Sie könnte sie töten", denkt Margot in einer Sitzung mit ihren Kollegen: "Es ist egal, dass sie es nicht tun sollte und auch nie tun wird. Wichtig ist, dass sie es könnte. Die Fähigkeit, Schmerzen zuzufügen, ist eine ganz besondere Art von Reichtum." Und das Tolle: Wenn sie ihre Konkurrenten demütigt, gewinnen andere mehr Achtung vor ihr.

Die Welt gerät nach und nach in Aufruhr. In Saudi-Arabien stürzen Frauen das Königshaus. In Moldau, dem Zentrum des weltweiten Menschenhandels, befreien sich die versklavten Frauen aus ihren Kerkern und verjagen das ausbeuterische Männerregime. Unter Präsidentin Tatjana Moskalew rufen sie die Republik der Frauen aus. Und auch in Indien schlagen Frauen endlich zurück.

Kraft gibt Macht. Alderman dekliniert in "Die Gabe" die vertauschten Kraft- und Machtverhältnisse der Geschlechter in aller Konsequenz durch. Es dauert allerdings nicht lange, bis aus den eben noch so sympathisch empowerten Mädchen skrupellose Gewaltherrscherinnen werden. Die Macht korrumpiert auch Margot Cleary, die sich in Trainingscamps eine private Frauenarmee heranzieht. Und genauso schnell wie englische Ganoven sind die amerikanischen Prediger zur Stelle, wenn es gilt, körperliche Stärken und seelische Schwächen in neue Verdienstmöglichkeiten zu verwandeln. Die religiöse Allie und die Gangster-Tochter Roxy werden sich zusammentun und den drogengestützten Kult um Mother Eve begründen. Die Frauen drehen voll auf. Sie beginnen zu rauben, morden und vergewaltigen. Nur einige RomantikerInnen fragen sich, ob das schwache männliche Geschlecht nicht etwas mehr Fürsorge und Freundlichkeit in die Welt bringen würde.

Alderman erzählt die Geschichte in einem Countdown von zehn Jahren bis zur großen Verheerung. Immer wieder arbeitet sie, wie sich das für spekulative Literatur gehört, unterschiedliche Textbausteine ein: Archivdokumente (über chemische Versuche im Zweiten Weltkrieg), Forumsbeiträge libertärer Webseiten, die Apokryphen des Buchs Eva oder das Buch Samuel, das die Menschheit vergeblich davor warnt, sich immer wieder neue Könige zu erwählen.

Subtil ist das alles nicht, aber manchmal schlagend. Die Geschehnisse überstürzen sich in der "Gabe" mit grotesker Geschwindigkeit, bei allem Einfallsreichtum der Autorin, sind die Figuren hanebüchen simpel gezeichnet, die Sprache schlicht. Alderman popularisiert das einst intellektuelle Genre der spekulativen Fiktion bis zur Kolportage. Doch sie dekliniert die vertauschten Geschlechterverhältnisse mit beeindruckender Konsequenz durch. Dabei führt sie jeden hübsch in die Falle, der den Roman für eine Dystopie hält: Kriegslüsterne, machtversessene, marodierende und vergewaltigende Trupps sind doch Realität, erklärt sie immer wieder. Und auch wenn Alderman die Fragen von Sex und Gender, Körper und Macht, Religion und Herrschaft nicht so feinsinnig behandelt wie es Margaret Atwood und Ursula Le Guin getan haben, so tut sie es immerhin erfrischend kritisch. Und ihre Liebe zu den Klassikerinnen ist spürbar und ansteckend. Wem "Die Gabe" zu simpel bleibt, der kann seinen Hunger auf feministische Science Fiction anderweitig stillen: Mit der grandiosen Verfilmung von "The Handmaid's Tale" zum Beispiel oder mit Ursula Le Guins Meisterwerk "Die linke Hand der Dunkelheit".

Naomi Alderman: Die Gabe. Roman. Aus dem Englischen Sabine Thiele. Heyne Verlag. München 2018. 480 Seiten, 16.99 Euro