Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.08.2006. In der FAZ schreibt Stefan Chwin eine Verteidigung des immer schon zweideutigen Günter Grass. Die FAZ erklärt auch, dass sie sich in punkto Veröffentlichungszeitpunkt für das Interview mit Grass vereinbarungsgemäß verhalten hat. In der SZ konstatiert Sonja Margolina eine Abkehr der russischen Intellektuellen vom Westen. Die NZZ beklagt die immer schärfere Verfolgung von Journalisten in der Türkei. SZ und Welt gehen vor zehn unfassbaren Liedern von Bob Dylan in die Knie.

FAZ, 25.08.2006

Der polnische Schriftsteller Stefan Chwin nimmt es Günter Grass nicht übel, dass er erst so spät über seine Zeit in der Waffen-SS gesprochen hat. Vielleicht hat es ihn nicht einmal überrascht. "Grass ist ein geheimnisvoller, ein bei aller Vitalität in sich gekehrter Mensch, und ich habe niemals versucht, ihn zu verstehen. Es war mir lieber, daß er so blieb wie seine Bücher: verworren, unklar, zweideutig. Oskar Matzerath ist keineswegs ein positiver Held, und 'Die Blechtrommel' ist kein 'sauberes' Buch. Ich spürte darin immer etwas Ungutes. Genau deshalb schätzte ich es. Wahre Literatur spielt mit der Wahrheit und der Moral, wie man mit dem Feuer spielt."

Elke Heidenreich steigert sich in einen wahren Zornesrausch, nachdem sie beim Festival in Glyndebourne Händels "Julius Cäsar" gesehen hat. "In der deutschen Oper sitzen die Kenner, und die dulden keine Freude. Es muss zerquält sein. Wehe, neue Musik zeigt Tonalität, wehe, alte Musik wird nicht ganz ernst genommen. Das möchte ich bei uns mal sehen, daß Kleopatra zu Händel erotisch tanzt, dass Cäsar und Ptolemäus ein Ballett hinlegen, das den Eiertanz der Macht zeigt, zwei schwerbewaffnete Countertenöre girren in Menuettschritten umeinander herum, und es ist unsäglich komisch, tief bedrohlich und zugleich atemberaubend elegant und sinnlich. Und nie, nie zerstört es die Musik. Die Musik muss immer ernst genommen werden, das ist oberstes Gesetz in der Oper. In Glyndebourne weiß man das. In Deutschland könnte man es wieder lernen, dann wären die Opernhäuser nicht so leer."

Weitere Artikel: Günter Kowa beschreibt den komplizierten Stadtumbau in Aschersleben. Auf der Designseite bespricht Andreas Rossmann die Ausstellung "Entry Paradise" in der Zeche Zollverein. Und Ulf von Rauchhaupt erklärt uns, was Bang-Design ist.

Auf der Medienseite meldet Michael Hanfeld, dass die Öffentlich-Rechtlichen "nur" eine Gebühr von 5,52 Euro im Monat für einen Computer erheben wollen und nicht wie ursprünglich geplant 17,03 Euro. Proteste gibt's trotzdem. Außerdem findet sich auf der Medienseite eine interessante Stellungnahme zu einem Beitrag im NDR-Medienmagazin Zapp, die zeigt, dass der Veröffentlichungszeitpunkt für das berühmte Interview mit Günter Grass Gegenstand einer festen Absprache zwischen FAZ und Grass' Verleger Gerhard Steidl war. (War das Interview also der Preis für die Veröffentlichung der Schmuckbeilage mit Leseprobe und Rötelzeichnungen, für die ganzseitige FAZ-Anzeige im Spiegel und die ganzseitige Steidl-Anzeige in der FAZ?, fragt sich der literaturhistorisch interessierte Perlentaucher.)

Auf der letzten Seite porträtiert Eleonore Büning den Oberspielleiter, Chefdramaturg, Regisseur, Intendanten und "scharfzüngigsten Kritiker-Kritiker" der Opernwelt Joachim Herz. Andreas Kilb verfolgte ein Gespräch in der Berliner Akademie der Künste über den Fall Handke und auch Grass (hier das etwas seltsame Liveblog der Akademie zum Abend). Und die Regisseurin Jasmila Zbanic erklärt im Interview, warum der Goldene Bär für ihren Film "Grbavica - Esmas Geheimnis" den vergewaltigten Frauen in Bosnien geholfen hat: "Zwei Monate vorher hatte ich versucht, mit einigen Ministern darüber zu sprechen, aber man gab mir das Gefühl, völlig unwichtig zu sein. Plötzlich, nach dem Preis, war alles anders. Es ist seltsam, wie Macht funktioniert: Der Preis wurde plötzlich Macht. Inzwischen sind die vergewaltigten Frauen anerkannte Kriegsopfer mit einem Anrecht auf Unterstützung. Nun geht es darum, auch ein Budget für sie zu erkämpfen."

Besprochen werden "Don Giovanni"-Aufführungen in Salzburg und Innsbruck, Matthias Glasners Film "Der freie Wille" und Bücher, darunter James Kakalios' "Physik der Superhelden" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 25.08.2006

Kritische Journalisten und Schriftsteller sind in der Türkei juristisches Freiwild, beklagt Günter Seufert. "Das neue Strafgesetzbuch der Türkei ist wie geschaffen für Prozesse dieser Art. Es wurde im September 2004 auf Drängen der EU erstellt, die Ankara im Oktober dann bescheinigt hat, den politischen Kriterien von Kopenhagen zu genügen. Im Mai 2005 gründlich verschärft, zieht der Strafkodex heute Schriftstellern und Journalisten, Künstlern und Akademikern engere Grenzen als irgendwo in Europa. Von Anfang 2005 bis Ende Juni 2006 wurden Prozesse gegen 49 Bücher und ihre Verfasser angestrengt, im Durchschnitt alle 11 Tage einer."

Weiteres: Margrit Klingler Clavijo stellt den indischen Lyriker Dilip Chitre vor, der seit den achtziger Jahren regelmäßig Deutschland besucht. Besprochen werden das bunt gemischte Musikfestival "Septembre musical" in Montreux-Vevey, ein Auftritt von Robbie Williams in Bern und zwei Ausstellungen zur Schweizer Architektur in Berlin.

Ausschließlich Rezensionen auf der Filmseite. Besprochen werden Jasmila Zbanics Film "Grbavia", Jason Reitmans Satire "Thank you for smoking" und Michael Manns Film "Miami Vice".

Mit seinen Soaps beherrscht Syrien zumindest die arabischen Wohnzimmer, berichtet Mona Sarkis auf der Medien- und Informatikseite. Die Zensur ist dabei oft toleranter als die Zuschauer. "Zumindest, wenn es um religiöse Befindlichkeiten geht, schieben muslimische Gesellschaften oft größere Riegel vor als die eigenen Regime. Die behördliche Toleranz schwindet hingegen im Nu bei klaren Anspielungen auf reale Personen, etwa bei der Thematisierung von Korruption. Oder bei Kritik an Hafez al-Asads Vermächtnis. Terrorismus ist ein erlaubtes Thema, vorausgesetzt, man zeichnet die Charaktere rabenschwarz. Tabuisiert wird auch Sexualität. Beispielsweise dürfen Ehepaare nicht in einem Raum mit geschlossener Tür gefilmt werden, weil die Darsteller nicht real miteinander verheiratet sind."

Weiteres: S.B. analysiert das boomende Tourismusgeschäft im Internet und warnt davor, dass Suchmaschinen bei solcherlei Anfragen von Linkspam verseucht sind. Der alle vier Jahre vergebene Nevanlinna Preis für mathematische Höchstleistungen in der Informatik geht an Jon Kleinberg für seine Beiträge zur Netzwerkanalyse, meldet "gsz.". Kristian Widmer beschreibt, wie Schweizer Unternehmen durch crossmediale Verpackung Journalisten und Filmemacher für ihre Werbung einspannen.

Welt, 25.08.2006

Das Schauspiel Stuttgart ist von Theater heute nach dreißig Jahren wieder zum besten deutschsprachigen Theater gekürt worden, nachdem vor einigen Monaten schon die Staatsoper und das Ballett abräumten. Für Reinhard Wengierek, der vor allem den neuen Intendanten Hasko Weber für den Erfolg verantwortlich macht, ist jetzt nicht die Zeit für feine Zurückhaltung. Denn "damit spielt das weltgrößte Dreisparten-Institut (1200 Mitarbeiter), das die Schwaben mit Stolz und ohne Geiz hingebungsvoll pflegen und lieben, ganz oben. Man darf also ungeniert und, zugegeben, auch ein bisschen hingerissen sagen: Stuttgart spielt, alles in allem, auf Weltniveau."

Michael Pilz geht vor Bob Dylan und seinem Album "Modern Times" regelrecht in die Knie. "In zehn unfassbaren Liedern widmet sich der 65-Jährige den letzten Dingen. Ein Nomade singt, krächzt und erzählt in zehn Kapiteln über Liebe, Tod und den entleerten Himmel."

Weiteres: Manuel Brug versucht sich von Salzburgs Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler im Interview erklären zu lassen, wie Sponsoren zwar immer präsenter, aber nicht einflussreicher werden. Andre Mielke unterhält sich mit Christine Westerman, Moderatorin der inzwischen zehnjährigen WDR-Talkshow "Zimmer frei!". Gemeldet wird, dass der Stadtrat sich weiterhin gegen die von den Bürgern gewünschte Elbtalbrücke sträubt.

TAZ, 25.08.2006

Dieter Kammerer fragt sich, was so "faszinierend" an den Überwachungsbildern von Videokameras ist. Verhindert haben sie ein Verbrechen ja noch nie. "Überwachungsbilder führen uns nicht nur unsere Hilflosigkeit angesichts des Unvermeidbaren vor, sie suggerieren auch Handlungsfähigkeit. Das ist ihre phantasmatische Seite. Die Bilder bewahren den Augenblick, da das Ereignis noch nicht eingetreten ist. Man möchte 'Halt!' in die Szene hineinrufen, eingreifen, hineinspringen. Dem Täter das Messer aus der Hand schlagen, die Bombe entschärfen. Also genau das tun, was die Kameras selbst nicht vermochten. (Denen verdanken wir nur die Abschiedsfotos von Selbstmordattentätern, einen letzten Gruß an die entsetzte Nachwelt.)"

Weiteres: Katrin Bettina Müller meldet, dass Theater heute die "Macbeth"-Inszenierung von Jürgen Gosch am Düsseldorfer Schauspielhaus zur Inszenierung des Jahres gewählt hat. Besprochen werden Outkasts CD "Idlewild", eine Auswahl der "Popeye" Comics von Elzie Crisler Segar und - von Max Dax in tazzwei - das neue Album von Bob Dylan.

Schließlich Tom.

FR, 25.08.2006

Reinhart Wustlich nimmt eine Passage aus Günter Grass' "Beim Häuten der Zwiebel" zum Anlass, um über die Geografie der Konzentrationslager in Europa und besonders über die vielen kleinen Außenstellen der KZs zu meditieren, die heute auf keiner Karte mehr verzeichnet sind. "Aber es sind auch und gerade die 'kleinen Namen' der Verfolgungsgeschichte, die alle - wie bei Günter Grass - mit Biografien und Familiengeschichten verbunden sind, insbesondere mit der unterdrückten oral history, mit der Geheimhaltung, mit den vergrabenen Geschichten."

Weitere Artikel: Elke Buhr ist begeistert von der Ausstellung "Das achte Feld" in Köln. Ursula März resümiert das Berliner Akademiegespräch zum Casus Handke. Florian Kessler unterhält sich mit Ingomar von Kieseritzky, der Stadtschreiber von Bergen-Enkheim wird. Hans-Jürgen Linke denkt in "Times mager" darüber nach, dass die Berufsbezeichnung des Schauspielers auch für Fußballer angewandt wird, die eine Schwalbe hinlegen. Besprochen wird Mozarts Requiem unter Philippe Herreweghe im Kloster Eberbach.

Perlentaucher, 25.08.2006

Robin Detje veröffentlicht im Perlentaucher (eigentlich in Theater heute) die Erwägungen des gefallenen Theaterkritkers D. über die heutige Theater und Medienlandschaft: "Zeitungsverlage suchen heute für ihre Redaktionen keine widerspenstigen Individualisten mehr, sondern treue Konzernsoldaten, die sich kontrollieren lassen. Nicht das Ziel, aber die Folge dieses Strukturwandels war die Entmachtung des D. Es nützt den Betreibern dieses Strukturwandels, wenn die durch ihn Benachteiligten sich an ihrem Abstieg selbst die Schuld geben, weil politische Vorgänge dann nicht als solche erkennbar werden, was sie kritisierbar machen und den Vorteil der Modernisierer schmälern könnte."
Stichwörter: Detje, Robin, Zeitungsverlage

SZ, 25.08.2006

Bisher war bekannt, dass Günter Grass einen Brief an den Bürgermeister der Stadt Danzig, Pawel Adamowicz, geschrieben hat, aber nicht, dass er darin auf eine Mail Adamowicz' reagierte, in der Grass gefragt wurde, warum sein Bekenntnis so spät kam. Adamowicz schreibt darüber auf Seite 2 des politischen Teils: "Ich habe ihn gebeten, uns Danzigern zu erklären, wie es kam, dass er Angehöriger der Waffen-SS wurde, und warum er so lange geschwiegen hat. Die Mail mit diesen Fragen habe ich am vergangenen Samstagabend abgeschickt. Ich gestehe, dass ich fast die ganze Nacht danach nicht geschlafen habe. Wird er antworten oder nicht? Und wenn er schreibt, wird er sich dann mit ein paar klein dosierten Absätzen begnügen? In dieser Nacht habe ich Antworten auf die uns umtreibenden Fragen in dem Lieblingsbuch meiner Jugendzeit gesucht, in der 'Blechtrommel'."

Im Feuilleton konstatiert Sonja Margolina eine Abkehr der russischen Intellektuellen vom Westen und macht dafür auch jene "westlichen 'Geschäftspartner'" verantwortlich, "die es verstehen, ihre moralische Verkommenheit, Kleingeistigkeit und intellektuelle Leere mit demokratischen Werten zu veredeln". Vorbilder sucht man sich jetzt anderswo: "Auf die Verlierer der neuen Weltordnung üben jene Weltakteure eine magische Anziehung aus, die keinerlei normative Forderungen an andere Staaten stellen, zugleich aber schwindelerregende Erfolge vorweisen, wie etwa China. Das chinesische Wunder führt vor Augen, dass es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Erfolg und 'westlichen' Werten gibt: fehlende Freiheiten und korrupte Institutionen mindern das Glücksversprechen nicht."

Weitere Artikel: Die erste Aufmacherseite ist einem ewigen Kandidaten für den Literaturnobelpreis gewidmet: Bob Dylan. Willi Winkler bespricht seine neue Platte. Und Johannes Waechter feiert Bob Dylans Internetradiosendung "Theme Time Radio Hour", in der er Woche für Woche seine Lieblingsplatten vorstellt, als Kunstwerk ganz eigener Art. Hans-Jörg Heims berichtet, dass die Krupp-Stiftung der Stadt Essen ein neues Folkwang-Museum spendiert. Günter Kowa erinnert an den Luther-Widersacher Kardinal Albrecht von Brandenburg, dem die Stadt Halle eine bedeutende Ausstellung widmet. Lothar Müller resümiert recht polemisch ein Gespräch in der Berliner Akademie der Künste, in dem man sich unter Vorsitz von Klaus Staeck gegen Handke und für Grass aussprach. Gemeldet wird, dass "die Offensive Israels die libanesischen Welterbestätten weniger stark in Mitleidenschaft gezogen" habe als befürchtet.

Besprochen werden Mozarts "Mitridate" in Salzburg, Spike Lees Dokumentarfilm über Katrina und die Folgen "When the Levees Broke" und Bücher, darunter Othmar Plöckingers "Geschichte eines Buches - Adolf Hitlers 'Mein Kampf'" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).