9punkt - Die Debattenrundschau

Non-Dits der Mehrheitsgesellschaft

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.04.2024. Appeasementpolitik hat schon die Römer nicht vor den Hunnen geschützt, warnt in der FAZ der Althistoriker Mischa Meier mit Blick auf Putin. Welt, FAZ, SZ und taz sind sich nach den Kommunalwahlen in der Türkei einig: Erdoğans Götterdämmerung hat begonnen. Zeit online sieht einen neuen Faschismus in Europa heraufziehen. Die Rechten durch Regierungsbeteiligung zu entzaubern, hat schon in Österreich nicht funktioniert, warnt die taz. Wo sind eigentlich die Freunde des Globalen Südens, wenn es um die von Islamisten und korrupten Regimen verursachten Krisen in Afrika geht, fragt die Welt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.04.2024 finden Sie hier

Europa

Appeasement oder das Einfrieren eines Konflikts hat schon 447 n. Chr. nicht funktioniert: Die Hunnen fielen trotz aller Zugeständnisse im römischen Osten ein, warnt der Althistoriker Mischa Meier in der FAZ mit Blick auf Putin: "Das hunnische Machtgebilde war im Kern nichts anderes als eine Kriegerkoalition, die von Einnahmen lebte, die im Wesentlichen durch Raub und Erpressung erreicht wurden. ... Die Hunnen und insbesondere ihre Herrscher waren zur Kriegführung verdammt, weil es ihrem Machtgebilde an den strukturellen Voraussetzungen für eine friedliche Koexistenz mit seinen Nachbarn mangelte. Wer hier nachgab, einseitig Frieden suchte oder sich darum bemühte, Konflikte einzufrieren, hatte unweigerlich das Nachsehen. ... Russland, das man treffend als 'Tankstelle mit Atomwaffen' bezeichnet hat, gehört aktuell in diese Kategorie ..."

"Der Konflikt mit Putins Russland wird eine Generationen-Aufgabe", meint der SPD-Abgeordnete Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, der in der Welt für eine europäische Abschreckungsstrategie plädiert, denn Russland sei "zurzeit wieder im Vorteil und setzt auf eine jahrelange Abnutzungsstrategie. Es wäre jedoch ein schwerer Fehler, die weiße Fahne zu hissen. Europa hat die finanziellen und industriepolitischen Ressourcen, die Ukraine wieder in eine Position der Stärke zu bringen, wenn wir es nur wollen. Falls die Unterstützung vonseiten der USA weiterhin komplett ausfällt, sollte die EU ein gemeinsames Schuldenaufnahmeprogramm nach dem Vorbild des Corona-Wiederaufbauprogramms beschließen, um die Ukraine-Hilfe langfristig zu finanzieren."

"Der Niedergang der AKP ist unübersehbar", kommentiert Deniz Yücel in der Welt die Kommunalwahlen in der Türkei: "Die AKP ist im Niedergang, Erdogan hat eine Niederlage erlitten. Ihn sollte man trotz dieses Wahlergebnisses nicht abschreiben, auch über 2028 hinaus nicht - ungeachtet dessen, dass die Verfassung keine dritte Amtszeit als Staatspräsident erlaubt. Sofern sein Gesundheitszustand dies irgendwie zulässt, dürfte Erdogan einen Trick finden, diese Hürde zu umgehen. Es gibt keine Macht, die ihn davon abhalten könnte. Was er aber nicht umgehen kann, und darin liegt die über die Türkei hinausweisende Botschaft dieser Wahl: Kein autoritäres Regime währt so lange, wie es Autokraten gerne glauben. Anders als Diktaturen beziehen Autokratien ihre Legitimität aus Wahlen. Sie können die Gewaltenteilung abschaffen, Kritiker verfolgen, den Staatsapparat ihren persönlichen Zielen unterwerfen. Doch wenn auch alle unfairen und rechtswidrigen Mittel nicht mehr helfen, dann ist tatsächlich Ende."

"Der wohl wichtigste Grund für das schwache Abschneiden der Regierungspartei ist die hohe Inflation von derzeit 67 Prozent", meint in der FAZ Friederike Böge zu den Wahlen in der Türkei. "Mehr als die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung lebt vom Mindestlohn. Er liegt inzwischen unterhalb dessen, was laut dem Gewerkschaftsverband nötig ist, um eine Familie gesund zu ernähren. Viele Türken kommen nur noch über die Runden, indem sie immer neue Schulden machen. Viele wollen auswandern."

"Am Sonntag hat Erdogans Ende begonnen", konstatiert auch Raphael Geiger in der SZ mit Blick auf den Wahlsieg Ekrem Imamoglus bei der Istanbuler Oberbürgermeister Wahl: "Was Erdogan treffen muss: Viele seiner eigenen Leute haben ihn verlassen. Die vielen, mit deren Stimmen er sich den Staat unterworfen hat, die Justiz, die Armee. Das schaffte er, der Außenseiter aus dem Armenviertel, stets mit den Stimmen einer Mehrheit seines Volkes. In der Putschnacht damals gingen sie für ihn auf die Straße, manche in den Tod. Und jetzt? Hat seine AKP im Vergleich zu den Wahlen vergangenes Jahr Millionen Wählerinnen und Wähler verloren, ein Massenschwund" Und auch Jürgen Gottschlich sieht in der taz "Erdogans Götterdämmerung" anbrechen.

In Schottland tritt heute unter dem neuen Premier Humza Yousaf ein neues Gesetz gegen "Hate Speech" in Kraft, das in ganz Britannien für viel Belustigung, aber auch scharfe Kritik sorgt. Bei der Polizei werden 400 Meldestellen für "Non Crime Hate Speech" eröffnet, bei denen man sich melden kann, wenn ein Mitbürger Missliches sagte. Die schottische Polizei überwacht. Und sie warb mit diesem Video für ihre neue Politik.



Bei Unherd äußert die Feministin Kathleen Stock scharfe Kritik (deren Name auch in Deutschland bekannt wurde, weil sie ihre Uni wegen ihrer "Transphobie" hatte verlassen müssen, unsere Resümees): "Es ist schon eine Ironie, dass so viele heute zu glauben scheinen, Biologie sei sozial konstruiert, die Bedeutung von Hass aber sei natürlich und feststehend. Tatsächlich ist das, was als adäquater Ausdruck einer bestimmten Emotion gilt, zumindest teilweise kulturell bedingt, und heutzutage scheint die Kategorie des Hasses sehr viel weiter gefasst zu sein als früher. Früher wurde er durch Gewaltausbrüche gegenüber fremden Gruppen und durch die Verwendung aggressiver Schimpfwörter zum Ausdruck gebracht. Im heutigen Schottland scheint er jedoch gemessen an Aussagen wie 'die Entscheidung, sich als 'nicht-binär' zu identifizieren, ist genauso gültig wie die Entscheidung, sich als Katze zu identifizieren' - so eine Äußerung des konservativen MSP Murdo Fraser, die anschließend von der Polizei als nicht strafbarer Hassvorfall registriert wurde, ein Urteil, das er nun vor Gericht anzufechten gedenkt."

In Zeit online ist auch Jochen Bittner eher mulmig bei dem schottischen Gesetz: Den Schutz der Meinungsfreiheit brauche es "nirgendwo so sehr wie auf eben jenen umstrittenen Debattenfeldern. Werden diese zu Zweifelsräumen über das Erlaubte, dann sagt man lieber weniger. Das schadet nicht nur dem gesellschaftlichen Fortschritt, sondern auch der liberalen Demokratie." Schottlanbd steht mit der Idee jedenfalls nicht allein da, auch in Berlin gibt es Meldestellen, mehr hier.

Die Österreicher haben Erfahrung im Umgang mit rechten Parteien, da könnte man von lernen, empfiehlt der Wiener Rundfunkregisseur René Rusch in der taz und widerspricht Marc Felix Serrao, der kürzlich in der NZZ vor einer "Ausgrenzung" der AfD gewarnt hatte. Doch das Argument, man müsse die Rechten mal mitregieren lassen, dann würden sie sich schon entzaubern, habe sich in Österreich als falsch herausgestellt, schreibt Rusch: "Die FPÖ hat nach der vorzeitig gescheiterten Regierung Schüssel I noch zweimal mitregiert; jede einzelne Koalition war von Skandalen geprägt. Die letzte ÖVP/FPÖ-Koalition endete damit, dass der FPÖ-Vizekanzler Österreich im globalen Maßstab blamierte. Dass sich die FPÖ im Laufe ihrer Regierungsbeteiligungen gemäßigt hätte, behauptet heute niemand. Tatsächlich wurde die Partei zunehmend radikaler. "
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Ideen

Nils Markwardt sucht in einem sehr langen Zeit online-Essay nach einer Antwort auf die Frage, warum Rechtsextremismus überall Erfolg hat, obwohl er innerlich voller Widersprüche ist. Jedenfalls sieht er ihn auf besten Wege zu einem neuen Faschismus, denn er beschränke sich keineswegs nur "auf nationale Mythenpflege und nostalgische Beschwörung vergangener Zeiten, noch will er lediglich sogenannte traditionelle Werte konservieren. Er versteht sich ebenso als politisches Hochgeschwindigkeitsprojekt, das einen radikalen Bruch mit der Gegenwart verspricht. Sein Motto könnte wie ein alter Slogan aus dem Silicon Valley lauten: 'Move fast and break things'." Man mag sich allerdings fragen, ob eine Analyse des Rechtsextremismus fruchtet, die nur diesen in den Blick nimmt und und nicht die Widersprüche und Non-Dits der Mehrheitsgesellschaft, an denen er sich mästet.

Auch Armin Nassehi versucht im Blog des Kursbuchs, rechsextremen Ideen auf die Spur zu kommen und liest dafür das Buch "Politik von rechts" des AfD-Politikers Maximilian Krah, das er übrigens gut geschrieben findet. Krah entwickelt darin demnach die üblichen Begriffe einer ethnisch definierten Identitätspolitik. Und Nassehi schreibt dazu: "Es sollte deutlich geworden sein, dass diese Konzepte keineswegs nur etwas konservativer sind, etwas migrationskritischer oder etwas mehr an einer traditionell verfassten eigenen Identität orientiert. Es handelt sich genau besehen tatsächlich um Konzepte, die einen Bruch mit einem demokratischen Grundcomment und mit der Verfassung darstellen - denn Zugehörigkeiten werden in derselben Weise völkisch beschrieben, wie wir es bereits aus sehr extremen Traditionen kennen."
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Medien

Der Bayerische Rundfunk schafft die Kultur ab, empört sich in der FAZ die Literaturredakteurin Cornelia Zetzsche angesichts der Sparpläne: "Der BR schreddert Bayern 2, eine der erfolgreichsten ARD-Kulturwellen mit über 500.000 Hörern täglich." Aber so geht es eigentlich in der ganzen ARD: Die "zentralisiert und installiert Kompetenzcenter, das heißt, ein Sender plant für alle. Gut so, finden manche, aber was wäre, wenn es nur das Feuilleton der SZ gäbe und die FAZ oder taz überflüssig würden? Für 60 Spitzentitel, Rushdies 'Knife' etwa, gibt es nur noch ein, zwei Kritiken für die ganze ARD. Eine Kritik heißt eine Meinung, das ist das Ende einer Meinungsbildung durch Meinungsvielfalt, das Ende des föderalen Prinzips unseres Landes."
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Stichwörter: ARD

Politik

Buch in der Debatte

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Die israelische Kriegsführung in Gaza verurteilt der Historiker und Journalist Joseph Croitoru im Gespräch mit der Berliner Zeitung als in "völkerrechtlicher Hinsicht äußerst problematisch". Zudem erläutert Croitoru, der gerade ein Buch über die Hamas veröffentlicht hat, wie die Gründungscharta zunehmend in den Hintergrund rückt: "2017 veröffentlichte die Hamas ein neues Programm, auch wenn sie die Gründungscharta nicht für obsolet erklärte. In dem 'Dokument' von 2017 kämpft sie nicht mehr gegen 'die Juden' im Sinne eines Religionskriegs. Stattdessen schwingt ein postkolonialer Diskurs mit, man bekämpft die 'kolonialistischen' Besatzer. Die Hamas erhebt darin weiterhin Anspruch auf das gesamte Gebiet des historischen Palästina, signalisiert aber, dass der künftige palästinensische Staat sich auf die Palästinensergebiete, so wie sie bis 1967 bestanden, beschränken könnte. Damit deutet die Hamas an, dass sie zu einer Koexistenz mit dem israelischen Staat bereit wäre, besteht aber gleichzeitig darauf, ihn nicht anerkennen zu wollen."

In der NZZ macht der Politikwissenschaftler Stephan Grigat die europäische Iran- und Nahostpolitik mitverantwortlich für den 7. Oktober: "Es sind die Millionenzahlungen, die Waffenlieferungen und die Ausbildner aus Iran, welche die palästinensischen NGO und GO des Antisemitismus in die Lage versetzt haben, den schlimmsten Massenmord an Juden seit der Shoah zu begehen. (…) Solange es zu keiner 180-Grad-Wende in der europäischen Politik gegenüber dem den Holocaust leugnenden Regime in Iran kommt, die perspektivisch auf einen Sturz der Machthaber in Teheran setzen müsste, bleiben die Solidarisierungen mit dem angegriffenen Israel genauso billige Rhetorik wie die formelhaften Beschwörungen eines 'Nie wieder' und 'Wehret den Anfängen'."

Wo sind die postkolonialen Freunde des Globalen Südens eigentlich, wenn es um die humanitären, von Islamisten und korrupten Regimen verursachten Krisen in Afrika geht, fragt Alan Posener in der Welt: "Sie sind alle mit Gaza beschäftigt. Sie haben alle vollauf damit zu tun, Israel davor zu warnen, weiter gegen die Hamas-Terroristen vorzugehen, Israel für eine angebliche humanitäre Krise verantwortlich zu machen, die seit Monaten bevorsteht, aber nie eintritt. Merke: Elend ist nur sexy, wenn man Juden dafür verantwortlich machen kann.  Auch die anderen - die wirklichen - humanitären Krisen sind das Ergebnis von Gewalt. In fast allen Fällen sind Islamisten diverser Couleur und korrupte Regime verantwortlich. Wenn im sudanesischen Flüchtlingslager Zamzam in jeder Stunde zwei schwarze Kinder an Hunger sterben, so deshalb, weil arabisch-muslimische Milizen in Darfur seit Jahren eine rassistische Politik der ethnischen Säuberung durch Hunger betreiben."
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Kulturpolitik

Nicht nur das Berliner Stadtschloss, auch die Rekonstruktion des Turms der Potsdamer Garnisonkirche wird von Rechtsextremen unterstützt, meint in der taz der Architekt Philipp Oswalt und bezieht sich dabei auf den rechtsnationalen Oberstleutnant a. D. Max Klaar, der das Projekt schon vor dem Mauerfall unterstützte: "Im Sommer 2000 traf sich Max Klaar mit Bischof Wolfgang Huber und unterbreitete ihm seine Vision: Der Turm der Garnisonkirche solle von außen originalgetreu nachgebaut werden. Darin solle eine Kapelle als Ort der Verkündung in Verantwortung der evangelischen Kirche entstehen, die oberen Etagen sollten dagegen eine Ausstellung über den 20. Juli 1944, den Tag des versuchten Attentats auf Hitler, beherbergen - soweit er vom Potsdamer Infanterieregiment 9 ausging, dem großteils ehemalige Adlige angehörten. Als Träger solle eine Stiftung gegründet werden.  ... Es ist ein trauriges und extremes Beispiel dafür, wie rechtsextreme Ideen anschlussfähig werden für die gesellschaftliche Mitte und diese infiltrieren."
Archiv: Kulturpolitik