Heute in den Feuilletons

"Es gab ja die Gemüse-Stasi"

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.11.2007. Zum 9. November bedankt sich Durs Grünbein in der NZZ bei den Polen für Solidarnosc und die entscheidende Drehung aus der Eiszeit. Sein polnischer Kollege Wojciech Kuczok dagegen fürchtet in der FR um sein Land nach zwei Jahren kompromittierender PiS-Herrschaft. Welt und FAZ taxieren das herrschende Ausmaß der Ostalgie. In der SZ erklärt Heribert Prantl das neue Vorratsdatenspeicherungsgesetz als Angriff auf den Journalismus.

NZZ, 09.11.2007

Zum 9. November erinnert sich der Lyriker Durs Grünbein im Interview mit Carsten Hueck an den Mauerfall - und an das Wendejahr 1980: "Es war das Jahr der Streiks in Polen. Für mich verbindet sich damit die entscheidende Drehung aus der Eiszeit heraus. Da kommt etwas in Bewegung, das habe ich erst viele Jahre später begriffen. Die Zeit der Solidarnosc, ein Jahr später das Kriegsrecht in Polen, die Abriegelung der Grenze... Da waren neue scharfe Töne zu hören. Man wusste, dass plötzlich die Front innerhalb des Ostens verlief und nicht, wie immer gesagt wurde, der Endkampf an der Westgrenze stattfindet. Das war extrem bedrückend, weil damit eine geografische Verwirrung einsetzte. Man merkte, die große, wirklich stark spürbare Emanzipationsbewegung kommt nun aus dem Osten. Ein Jahr darauf wurde sie aber durch Verhängung des Kriegsrechts wieder unterdrückt. Sie ist konkret geworden durch den Aufstand der Werftarbeiter, durch Walesa und so weiter. Ich habe deshalb auch allerhöchste Achtung vor den Polen. Ich bin ihnen ewig dankbar für diesen großen Aufstand."

Weiteres: Hansjörg Schertenleib besucht den Schriftsteller Ernst Augustin. Joachim Güntner kommentiert die internationale Konferenz des Club of Rome im Schloss des Bundespräsidenten. Jürgen Tietz besichtigt die Ausstellung der Architekten Baumschlager Eberle in der Pinakothek der Moderne in München. Auf der Musikseite freut sich Frank Schäfer über die Liedermacher Funny van Dannen, Jens Friebe und Peter Licht. Und Julian Weber empfiehlt Olaf Karniks und Helmut Philipps' off-beat-Studie "Reggae in Deutschland".

Auf der Medienseite kann Heribert Seifert nur Gutes über die anstehende ARD-Serie "Unsere 60er Jahre" sagen. "ras." referiert, was PR-Mann Sacha Wigdorovits zum Verhältnis seiner Branche zu den Medien zu sagen hat. Und Martin Breitenstein stellt Online-Dienste für Juristen vor.

FR, 09.11.2007

Der polnische Schriftsteller Wojciech Kuczok freut sich über den Abtritt der PiS, bangt aber um sein Land. "Wenn zwei Jahre der kompromittierenden Herrschaft von Ressentiment, Fremdenfeindlichkeit und nationalkatholischem Geschwätz, von Hetze, Bespitzelung und Affären die PiS-Wählerschaft nicht erschöpft, sie sogar deutlich gestärkt haben, dann heißt das, dass Polen entzweibricht. Dass ein ganzes Heer von gescheiterten, frustrierten und hilflosen Bürgern statt der Mobilisierung die Resignation gewählt hat, statt das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, lieber den anderen auf die Finger schaut, statt mutig voranzuschreiten, in die Vergangenheit zurückblickt und, sich als Einzelne verachtend, nach Wegen sucht, Nationalstolz empfinden zu dürfen."

Thomas Winkler erfährt von Rammstein-Musiker Christian Lorenz, wie es in den Achtzigern bei seiner DDR-Punkband Feeling B zuging. "Es gab ja die, wie wir sie nannten, Gemüse-Stasi. Die mit den Handgelenktäschchen, denen man es sofort angesehen hat. Und wenn die nicht dabei waren, fühlte man sich auch unbeobachtet. Ich hätte nie gedacht, dass die Stasi in den Bands selber saß. Ich war ja auch nicht kriminell, ich habe nichts Staatsfeindliches gemacht. Aber Feeling B war als Band nicht staatsfeindlich. Wir waren einfach nur eine lustige Faxenband. Was provokativ war, waren die Konzerte, zu denen 100 Punks kamen, einen Aschenbecher umkippten, Pogo tanzten und die Bierflaschen liegen ließen."

Weiteres: Bei den Münchner Medientagen geht es um die digitale Strategie des Fernsehens, berichtet Daland Segler. In der Times mager hält Christian Schlüter das iPhone für zu teuer. Besprochen werden eine Ausstellung mit den fotografischen Arrangements des Kanadiers Jeff Wall in der Deutsche Guggenheim in Berlin sowie Christian Schloyers Gedichtband "spiel - ur - meere".

Welt, 09.11.2007

Im Interview erklärt der Sozialhistoriker Gerhard A. Ritter, der über die Kosten der deutschen Einheit geschrieben hat, dass nach der Wende ein "Sonderwirtschaftsgebiet mit niedrigen Steuern" im Osten die richtige Lösung gewesen wäre. Zu ostalgischen Anwandlungen meint er: "De facto gibt es unter den Ostdeutschen Nostalgie. Aber ich habe das Gefühl, dass kaum jemand die DDR wiederhaben will. Keiner will die Reisefreiheit verlieren. In der Nostalgie steckt auch ein Stück positive Rückbesinnung. Die Spreewälder Gurken sind wunderbar, warum sollte man also westdeutsche Gurken kaufen?"

Heute erhält Daniel Kehlmann den Welt-Literaturpreis. Hannes Stein porträtiert den Autor und war mit ihm in New York unterwegs, der Stadt, in die Kehlmann gerne ziehen würde, wenngleich er sich eine Eigentumswohnung in SoHo trotz "Vermessung der Welt" nicht leisten kann.

Weitere Artikel: Martin Andree erklärt, dass sich, wenn auch mit hoher statistischer Unwahrscheinlichkeit, doch immer wieder - wie jetzt in Finnland - Irr- und Amokläufer übermäßig mit Medien-Gewalt identifizieren. Michael Pilz informiert über Neuigkeiten von und zu Robert Plant und Led Zeppelin. Johanna Schmeller zieht ein Jahr nach der Eröffnung von Münchens neuer Synagoge Bilanz. Rainer Haubrich stellt das private Galeriehaus vor, das der Architekt David Chipperfield für den Kunstsammler Heiner Bastian entworfen hat (Bilder gibt's bei Vanity Fair). Sven Felix Kellerhoff informiert über die Ergebnisse einer französischen Historikerkommission, die zum Holocaust in der Ukraine geforscht hat. Beate Depping vermeldet, dass der Ausstellungsmacher Jan Hoet das Museum MARTa in Herford verlassen wird. Den Rechte-Streit um die drei ??? kommentiert Wieland Freund. Hanns-Georg Rodek hat den Regisseur des "Drei ???"-Films Florian Baxmeyer interviewt.


TAZ, 09.11.2007

Thomas Winkler befragt die Ärzte, warum sie von der meistindizierten zur erfolgreichsten Band Deutschlands mutiert sind. Farin Urlaub: "'Das ist ein bisschen wie bei Ephraim Kishon, der auch ausgerechnet in Deutschland seine größten Erfolge feierte, weil alle ein schlechtes Gewissen hatten wegen dem Dritten Reich. Und offensichtlich hatten die Deutschen auch Punk gegenüber ein schlechtes Gewissen.' - Bela B.: 'Weil sie die ganzen Fun-Punker in Umerziehungslager gesteckt haben, wollen sie das an uns wieder gut machen. Aber vielleicht sind wir auch nur drei Typen, die wie viele Deutsche gern mit ihrer Kacke spielen. Aber sich im Gegensatz zu den meisten anderen auch trauen, das öffentlich zu sagen.'"

Weiteres: Jörg Sundermeier fragt sich, welche Maßstäbe die Initiative Deutsche Sprache und die Stiftung Lesen zur Bestimmung des schönsten Bucheinstiegs angelegt haben. Und die Teilnehmer der Münchner Medientage fragen sich laut Klaus Raab, wie weit die Digitalisierung gehen wird. Die Besprechungen widmen sich Neuauflagen von Alben von James Luther Dickinson, Chaz Jankel und Dorothy Ashby und dem Sammelband "Tanz als Anthropologie" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Die taz widmet dem Vorratsdatenspeicherungsgesetz einen Brennpunkt auf ihre Tagesthemenseiten. Jan Piegsa beschreibt die Reaktionen der Netzaktivisten und Blogger. Christian Rath stellt das Gesetz vor und berichtet über die geplante Massenklage vor dem Verfassungsgericht.

Und Tom.

SZ, 09.11.2007

Auf der Medienseite kritisiert Heribert Prantl scharf das neue Vorratsdatenspeicherungsgesetz, das die Freiheitsrechte eines jeden Bürger einschränkt, ganz besonders aber die Arbeit von Journalisten in Frage stellt: "Wer als Journalist mit der Pressefreiheit argumentiert, der steht im Verdacht, nur pro domo zu schreiben. Aber es geht hier nicht um bequemere Berufsausübung; es geht um die Grundlagen des Journalismus, um seine demokratische Funktion. Alle großen politischen Skandale der Bundesrepublik, auch und vor allem die mit strafrechtlichem Einschlag, sind von der Presse aufgedeckt worden, nicht von der Staatsanwaltschaft. Man kann sich fragen, welche dieser Skandale ruchbar geworden wären, wenn die Informanten schon damals die Speicherung ihrer Daten und den staatlichen Zugriff darauf hätten befürchten müssen."

Heute wird im Bundestag über das Gesetz abgestimmt. Hier können Sie einen offenen Brief an die Bundestagsabgeordneten verfassen oder sich an der Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz beteiligen.

Naomi Wolf, ehemalige Beraterin von Clinton und Al Gore hat in ihrem neuen Buch "The End of America: A letter of warning to a young patriot" über die Folgen der Regierung Bush den Aufstieg der Nationalsozialisten als Parallele benutzt (sie empfiehlt keinem Deutschen, dasselbe zu tun!). Im Kulturteil fürchtet Wolf im Interview um den Bestand der amerikanischen Demokratie: "Nutzen Sie Ihren gesunden Menschenverstand. Diese Regierung hat gegen den vierten Verfassungszusatz verstoßen, der gegen unrechtmäßige Durchsuchungen schützt, gegen den ersten Verfassungszusatz, der die Meinungsfreiheit garantiert, sie hat illegal einen Krieg begonnen, gefälschte Dokumente dafür benutzt, ein geheimes Gefängnissystem aufgebaut, in dem gefoltert wird, sie hat Leute entführt und gefoltert, sie hat das Parlament ignoriert, Verfügungen über den Kongress hinweg erlassen. Lauter Dinge, die sich seit 200 Jahren niemand mehr getraut hat. Angesichts dieser systematischen Demontage der Verfassung und ihrer Prinzipien, wie kann man da noch Vertrauen in dieses System haben?"

Weitere Artikel: Gar nicht so schlecht, wenn eine Stadt wie Berlin sieben Orchester hat, meint Jörg Königsdorf: "Vielleicht ist diese durch Konkurrenz erzwungene Spezialisierung ja nicht die schlechteste Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Institution Sinfonieorchester." Burkhard Müller vermutet, dass die Verwüstung der Installation "Vier Möglichkeiten für Wind und Stille" des tschechischen Künstlers Ivan Kafka im thüringischen Altenburg ein Ausdruck genau jenes Gegensatzes ist, der in der Ausstellung "Altenburg: Provinz in Europa" des dortigen Lindenau-Museums thematisiert wird. Die Menschen verursachen die großen Katastrophen mittlerweile selbst, lernt Jörg Häntzschel auf einer New Yorker Konferenz. Stefan Koldehoff verrät, dass einige Galeristen bei Auktionen die Werke ihrer eigenen Künstler kaufen, um den Preis stabil zu halten. Klaus Dermutz schreibt zum siebzigsten Geburtstag des Schauspielers Martin Schwab. Helmut Mauro unterhält sich mit dem niederländischen Pianisten Ronald Brautigam, der sich Ludwig van Beethoven und dessen originalem Werkklang verpflichtet fühlt. Jochen Arntz wird im Leipziger Stadtmuseum an den Revolutionär Robert Blum erinnert, der am 9. November 1848 von einem Soldaten ermordet wurde.

Besprochen werden eine Ausstellung mit den Schildern und Zeichen der Pop-Art-Ikone Robert Indiana im Museum Kurhaus Kleve, Maria Schraders Verfilmung von Zeruya Shalevs Roman "Liebesleben" und Bücher, darunter Vladimir Tasic' Roman "Abschiedsgeschenk" (hier eine Leseprobe) sowie Zoe Jennys Roman "Das Portrait" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 09.11.2007

Regina Mönch kann nur darüber staunen, was die Ostalgie so alles zu leisten vermag: "Nichts geht über die eigene Erinnerung. Was aber, wenn in einer 'Spiegel'-Untersuchung fast achtzig Prozent der älteren Ostdeutschen zu den eindeutigen 'besonderen Stärken' der DDR deren Schulsystem zählen? Sehnsucht nach dem Fahnenappell? Nach strammer Wehrerziehung von Kindesbeinen an und sozialistischer Selektion? Gerade mal zwölf Prozent eines Jahrgangs durften in der DDR das Abitur machen; und weil das fast vergessen ist, kann die SED-PDS-Linke heute ihre Neuauflage der Einheitsschule als Gerechtigkeits-Wundertüte verkaufen."

Weitere Artikel: Im Interview meint dagegen der aus der DDR stammende Theaterregisseur Wolfgang Engel, freilich ohne allen Triumphalismus: "Wir haben jetzt das beste Deutschland, das es je gab." Heiko Behr weiß zu berichten, dass der Künstler, der heute wieder Prince heißt, gerade dabei ist, es sich mit seinen treusten Fans zu verscherzen, indem er Websites und Fan-Foren mit Copyright-Klagen droht: "'Der Kerl sagt mir doch jetzt nicht ernsthaft, ich dürfte keine Fotos von meinen eigenen Tattoos ins Internet stellen!', beklagt sich eine Frau mit einer übergroßen Prince-Verzierung." In der Glosse denkt Jürgen Kaube über mögliche Folgerungen aus Umzugsplänen nach, die vorsehen, die französischen Soziologen und Völkerkundler in der Banlieue anzusiedeln. Bernd Noack berichtet, dass die Stadt Nürnberg sich um den Ankauf der Bibliothek von Georg P. Salzmann bemüht, dessen Sammlung die 1933 verbrannten Bücher umfasst. Den Prado-Direktor Miguel Zugaza porträtiert Paul Ingendaay. Klaus Englert begutachtet den Umbau des Amsterdamer Lloyd-Gebäudes (Foto). Gerhard Stadelmaier gratuliert dem Schauspieler Martin Schwab zum Siebzigsten.

Besprochen werden zwei Ausstellungen im Louvre zur Kulturbegegnung des Westens mit dem Islam, Florian Baxmeyers Film "Die drei ??? - Das Geheimnis der Geisterinsel", die Jeff-Wall-Ausstellung in der Berliner Guggenheim, Anna Ditges' Film "Ich will dich - Begegnungen mit Hilde Domin", ein Konzert der Ungarischen Nationalphilharmonie mit dem Dirigenten Zoltan Kocsis in Frankfurt und Bücher, darunter Sjons Roman "Schattenfuchs" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).