Efeu - Die Kulturrundschau

Das Auge ist der Hammer

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14.03.2024. Die Zeit lernt in Düsseldorf, was Hilma af Klint und Wassily Kandinsky verband: Rudolf Steiner und Atome. Ebenfalls in der Zeit sinnieren Jens Balzer und Diedrich Diederichsen über die Utopie in der Popmusik. Die Filmkritiker zählen rote Bälle in der Sahara mit Anton Corbijns Doku über Hipnosis. Der Standard folgt den Wiener Aktionisten in einem neuen Museum vom Tafelbild zum Machismus. "Wenn die Ukraine fällt, ist die Frage nur, wer als nächster dran ist", warnt Nino Haratischwili in der FR.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.03.2024 finden Sie hier

Kunst

Bild: Hilma af Klint, Altarbilder, Gruppe X, Nr.1, 1915 ©The Hilma af Klint Foundation/Wassily Kandinsky, Im Blau, 1925 © Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, Foto: Achim Kukulies, Düsseldorf

Spätestens mit den großen Klint-Ausstellungen in Stockholm, Berlin und im Guggenheim Museum in New York wurde die schwedische Malerin Hilma af Klint wiederentdeckt, nun stellt das Düsseldorfer K20 sie mit Wassily Kandinsky einem anderen "Pionier der Abstraktion" gegenüber, kuratiert von Julia Voss und Daniel Birnbaum, die auch ein Buch zur Ausstellung verfasst haben, freut sich Tobias Timm in der Zeit: Die Kuratoren "haben erstaunliche Überschneidungen zwischen dem Wirken der Künstler gefunden. Beide schworen auf die Vibration (heute würde man vielleicht vom Vibe sprechen). Af Klint glaubte, dass ein 'Urton' alles Lebendige in unserem Inneren zum Vibrieren bringe. Kandinsky schrieb: 'Die Farbe ist die Taste. Das Auge ist der Hammer. Die Seele ist das Klavier mit vielen Saiten. Der Künstler ist die Hand, die durch diese oder jene Taste zweckmäßig die menschliche Seele in Vibration bringt.' Sowohl af Klint als auch Kandinsky hörten Rudolf Steiner auf Vorlesungen, interessierten sich für die Theosophie und das Atom. Und beide malten gleich mehrfach den heiligen Georg, wie er den Drachen bekämpft. Wahlweise diente er ihnen als Symbol für den siegreichen Kampf des Geistes gegen die Materie, gegen die Laster, gegen die herrschende Ordnung."

Bild: Rudolf Schwarzkogler: "Gekreuzigter". 1962. Wiener Aktionismus Museum

Kurz nach dem Tod von Günter Brus gibt es kaum einen besseren Zeitpunkt für die Eröffnung des Wiener Aktionismus Museums, meint Stefan Weiss, der das seit heute eröffnete Haus für den Standard bereits besucht hat: "In sieben Stationen verfolgt das auf das Erd- und das Kellergeschoß angelegte Museum den Werdegang der vier Künstler anhand ihrer Arbeitsweise: Alle begannen sie zunächst mit dem brav akademischen Tafelbild, und alle lösten sich davon bis hin zu Aktionen, die Body- und Performance-Art mitbegründeten. Deutlich wird, wie sehr die Protagonisten sich als Fortführer der Wiener Moderne um 1900 verstanden: Der Expressionismus von Kokoschka, Schiele und Gerstl findet sich bei Brus, Muehl und Nitsch wieder, mystischer Symbolismus und die stetige Suche nach Reinigung bis hin zu obskuren Diätritualen haben Schwarzkogler beschäftigt. Die Kritik am Wiener Aktionismus - Machismus, martialischer Gestus, Frauen nur als passive Akteurinnen - will das WAM offen diskutieren, aber schon auch widerlegen: Man habe zum Beispiel mit allen lebenden abgebildeten Akteurinnen und Akteuren gesprochen und die Rückmeldung erhalten, dass sie ihre Teilnahme an den Aktionen als befreienden Moment erlebt hätten."

Weitere Artikel: In der Berliner Zeitung spricht Sophie-Marie Schulz mit dem Ostkreuz-Fotografen Sebastian Wells, dessen Projekt "Typ/Traube/Tross" über Identitätskonstruktionen nationalistischer Bewegungen ab heute im Berliner Haus am Kleistpark zu sehen ist. Besprochen wird die Retrospektive zum 100. Geburtstag von Roy Lichtenstein in der Wiener Albertina (FAZ, mehr hier).
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Literatur

Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender schmelzen ihre Literatursendungen ein oder verzwergen sie zu Häppchen-Formaten, zugleich erfreuen sich ausufernde Literatur-Podcasts immer größerer Beliebtheit, schreibt Andreas Platthaus in der FAZ und freut sich umso mehr, dass Insa Wilkes neues Format "Cafe Lit" als Video-Podcast das Beste aus den beiden Welten zu offerieren versucht: Länge und Ausdauer sowie einen visuellen Eindruck der Gesprächspartner. "Die durch den zeitlichen Rahmen (oder besser Rahmenverzicht) gebotene Möglichkeit, argumentativ auszuholen, bisweilen mehrere Minuten lang aus den diskutierten Texten vorzulesen, bisweilen auch Themen wiederaufzunehmen, die schon eine Stunde vorher zur Sprache kamen - das alles erinnert tatsächlich an Gesprächssituationen unter aneinander interessierten Menschen. Also an etwas, das man in Talkshows kaum noch sieht. Und im Alltag immer seltener erlebt." Und der Inhalt? "Diversität ist Trumpf, allerdings nicht generationell: Keiner von Wilkes Gästen ist älter als Anfang vierzig, entsprechend ist die Gesprächsdiktion: gendergerecht, woke, achtsam." Hier die erste Folge:



In der taz gibt der italienische Comiczeichner Manuele Fior Auskunft über seine Arbeitsweise. Unter anderem geht es um seine Neigung zu Science-Fiction-Themen und die Rolle der Architektur dabei: "Ich führe meist recht sanft in das spekulative Thema ein. Meist passiert eine leichte Verschiebung der Realität, sodass man auf die Wirklichkeit in veränderter Weise schaut. J. G. Ballard ist ein Meister darin. Architektur ist oft ein wesentliches Element in der SF, weil sie in sich selbst das Gewicht der Zeit trägt - wie Ruinen zum Beispiel, und manchmal kann Architektur die Ideen oder Formen der Zukunft verkörpern. Durch Architektur kann man den Fluss der Zeit wie durch eine Brille beobachten."

Weitere Artikel: Joachim Hentschel erzählt in der SZ von seinem Treffen mit dem Historiker Yuval Noah Harari, der sein Wissen in Form von Comics vermittelt. Sieglinde Geisel unterzieht für VAN Olga Tokarczuks Roman "Empusion" dem Page-99-Test. In der Kafka-Reihe der SZ widmet sich Michael Maar den humoristischen Aspekten in Kafkas Werk.

Besprochen werden unter anderem Gabriel García Márquez' Nachlassroman "Wir sehen uns im August" (NZZ), Paul Austers "Bloodbath Nation" (online nachgereicht vom TA für die SZ), Aleksandar Hemons "Die Welt und alles, was sie enthält" (Tsp), Mirriane Mahns "Issa" (online nachgereicht von der FAZ), Omri Boehms und Daniel Kehlmanns Gesprächsband "Der bestirnte Himmel über mir" über Kant (NZZ), Simone Meiers "Die Entflammten" (NZZ) und Nicole Hennebergs Biografie der Schriftstellerin Gabriele Tergit (fAZ). Der Zeit liegt heute außerdem eine Literaturbeilage zum Frühling bei, die wir in den kommenden Tagen an dieser Stelle auswerten.
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Film

Mehr Helden, mehr Götter, mehr Bösewichte: "Creation of the Gods I"

Wenn Hollywood wildes Spektakelkino nicht mehr hinkriegt, übernimmt eben China den Job, lautet Lukas Foersters Fazit im Perlentaucher nach Wuershans Fantasy-Klopper "Creation of the Gods I: Kingdom of Storms", der zwar wie einst die Filme der legendären Shaw-Brothers auch auf einem chinesischen Epos aus dem 16. Jahrhundert basiert, mit den Kostüm- und Kampf-Filmen der beiden Hongkong-Produzenten aber kaum mehr etwas gemein hat. Stattdessen: Eine Fülle an Überfülle an Plot, wahnwitzigen Ideen und irren Setpieces: "Es geht einfach immer weiter: mehr Helden, mehr Götter, mehr Bösewichter, mehr Verstrickungen, mehr kinetische Monsterfights, mehr - aber längst nicht genug; das sind die besten Szenen - Fuchs-Fatale-Erotik. ...  Erstaunlicherweise bleibt das Gesamtbild, der Fülle an Erzählmaterial zum Trotz, auch für Nichtkenner des Stoffs lange einigermaßen überschaubar. Die Integration von physischen Schauspielerkörpern und dem sie umgebenden digitalen world building fühlt sich ebenso organisch an wie das Ineinander von 'historischem' Schwertkampf-Schlachtegemälde (die Shang-Dynastie existierte wirklich und beherrschte China zwischen dem 18. und 11. Jahrhundert vor Christus) und Fantasy-Elementen."

Hipgnosis-Klassiker: Das Cover zum Album "Elegy" von The Nice

Mit ihren Plattencovern sorgte Hipgnosis in den Siebzigern für Aufsehen und schuf damit die Grundlage für einen bis heute anhaltenden Ruhm. Jetzt hat der Forograf und Regisseur Anton Corbijn mit "Squaring the Circle" dem britischen Designstudio einen Dokumentarfilm gewidmet. Er ist eine Reise zurück ins Zeitalter der Pop-Megalomanie: "Storm Thorgerson, ausgestattet mit einem 'Ego auf Planetgröße', hatte großspurige Ideen ohne Ende, und Aubrey Powell war für die Ausführung zuständig", erzählt Christian Schröder im Tagesspiegel. "Die Budgets waren gewaltig. Für eine Plattenhülle von The Nice hatten sie schon vorher rote Bälle nicht in irgendeiner Wüste, sondern gleich in der Sahara platziert. Nun ließen sie für das Led-Zeppelin-Album 'Houses Of The Holy' mit Gold und Silber bestäubte Kinder einen Felsen an der irischen Küste erklimmen. Und fürs Coverbild von 'Look Here' von 10cc, auf dem ein Schaf auf einer Psychoanalytiker-Couch vor der Meeresbrandung hockt, flogen sie nach Hawaii."

"Die wilden Geschichten hinter den Plattencovern sind alle toll", schwärmt auch Annett Scheffel in der SZ. Tazlerin Jenni Zylka gähnt bei diesem "Sammelsurium aus affirmativen Erinnerungen.  ... Am spannendsten wird der Film, wo er versucht, die Rezeptionsunterschiede zwischen analogem und digitalem Arbeiten herauszustellen: Wenn auf einem Cover von The Nice scheinbar 60 rote Fußbälle in der Sahara liegen, dann lagen sie wirklich da - und das aufwendige, sündhaft teure Fotoshooting, bei dem die Bälle auch noch unaufgeblasen aus England eingeflogen wurden, kündet von der fatalen Mischung aus 'success and excess', aus der Rockmusik in den Siebzigern bestand. Und die mit der geheimnisvollsten aller Hipgnosis-Ideen, dem Spektrumspyramiden-Cover zu Pink Floyds 'The Dark Side of the Moon' auch immer das Gegenteil der Megalomanie mitdachte."

Weitere Artikel: In der FAZ empfiehlt Matthias Hannemann Mikhaël Hers' Drama "Passagiere der Nacht" mit Charlotte Gainsbourg, das aktuell in der Arte-Mediathek zu sehen ist (hier unsere Kritik). Im Standard erklärt Jakob Thaller, wie das Produktionsteam der Oscarverleihung Messi, den sensationellen Border Collie aus "Anatomie eines Falls", ins Publikum getrickst und zum Klatschen gebracht hat.

Besprochen werden Georg Maas' Kafka-Liebesfilm "Die Herrlichkeit des Lebens" (FR, Tsp, taz, FD), zwei neue, im Kino gezeigte Kurzfilme von Pedro Almodóvar (Tsp), Maryam Keshavarz' Culture-Clash-Komödie "The Persian Version" (Tsp, FD, Presse), Jade Bartletts Highschool-MeToo-Drama "Miller's Girl" (FR, Welt, FD), Mike Mitchells Animationsfilm "Kung Fu Panda 4" (FAZ), die deutsche Netflix-SF-Serie "Das Signal" (Presse) und die vierte Staffel von "True Detective" (NZZ). Außerdem informiert die SZ, welche Filme sich lohnen und welche nicht. Und hier der Überblick beim Filmdienst über alle aktuellen Kinostarts.
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "Das Leben ein Traum". Volksbühne. Bild: Gordon Welters

Ein paar Überraschungen, vor allem aber eine "Therapie" nach dem plötzlichen Tod Rene Polleschs bekommt Nachtkritiker Christian Rakow mit Clemens Maria Schönborns Inszenierung von Pedro Calderons "Das Leben ein Traum" an der Berliner Volksbühne geboten. Sophie Rois steht ausnahmsweise nicht allein auf der Bühne in dem Stück, das Schönborn als "Theatergottesdienst" starten und in "dezenter Blödelei" enden lässt, so Rakow: "Im Finale hocken alle gemeinsam in einem Wohnzimmer, das sich im Kellergeschoss unter der glatten weißen Spielfläche befindet (Bühne: Barbara Steiner). Sie schauen 'Drei Haselnüsse für Aschenputtel' im Fernseher, und Silvia Rieger als Familienoberhaupt gibt Sinnsprüche zum Besten ('Wo früher eine Leber war, ist heute eine Minibar...') oder auch mal Dionysos-Dithyramben von Nietzsche. Und dort befinden sie sich nun tatsächlich in einem Theatertraum: einem aus alter, versunkener Volksbühnenzeit, als Frank Castorf noch die Stunden verstreichen ließ, als man lässig zusammen abhing, ein bissl witzelte, ein bissl gründelte, mancher Zuschauer ging aus dem Saal, die meisten blieben, als Mitverschworene sozusagen. Schön war's."

Derzeit feiert Nino Haratischwilis Stück "Phädra in Flammen" am Schauspiel Frankfurt Premiere. Im FR-Gespräch mit Judith von Sternburg erklärt sie, weshalb sie immer wieder ambivalente Frauenfiguren auf die Bühne bringt und weshalb es unabdingbar ist, dass der Westen die Ukraine weiter unterstützt: "Auf politischer Ebene muss die Ukraine unterstützt werden, wo auch immer es geht. Das meine ich nicht so naiv, wie es vielleicht klingt. Keiner will den totalen Krieg, aber wenn die Ukraine fällt, ist die Frage nur, wer als nächster dran ist. Das System in Russland wird immer paranoider, hermetischer. Es geht wieder zurück in die 30er Jahre mit der Propaganda und mit den Verschwörungstheorien vom 'bösen' Westen. Und es ist nicht zu sehen, woher ein großer politischer Paradigmenwechsel kommen soll."

Weitere Artikel: Für die taz porträtiert Livio Koppe das Berliner Theaterprojekt "Inklusion Bühnenreif". In der Welt besucht Jakob Hayner André Nicke, seit fünf Jahren der Leiter der Uckermärkischen Bühnen in Schwedt. Im Tagesspiegel wirft Frederik Hanssen einen Blick auf das Programm der Komischen Oper in der Saison 2024/2025. Gerhard Felber besucht für die FAZ das Mährisch-Schlesische Nationaltheater, das zum 200. Geburtstag alle acht Opern Bedrich Smetanas einstudiert hat und sie nun bis Mai in zwei Komplettserien zur Aufführung bringt.
Archiv: Bühne

Musik

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Großtreffen der Poptheoretiker in der Zeit: Jens Balzer interviewt Diedrich Diederichsen. Anlass: Letzterer hat seine gesammelten Texte aus dem 21. Jahrhundert als 1100 Seiten starken Wälzer veröffentlicht. Der Titel: "Das 21. Jahrhundert". Das lässt Fragen aufkommen, wie sich die Popmusik des 20. Jahrhunderts, in der sich Diederichsen einen Namen als Popkritiker machte, von der des 21. unterscheidet. Vielleicht ja im Begriff der Utopie: "Die Utopien der Popmusik wollten selten tragfähige Modelle sein. Meistens ging es erst mal nur um das Abhauen, um das Flüchten, also darum, sich einem unmittelbaren Zwang zu entziehen. Das ist, wenn nicht zeitlos, so doch heute immer noch ein wichtiger Motor von Popmusik", meint Diederichsen. "Anders als früher gibt es aber keine Perspektive für eine positive Entwicklung. Sondern es geht nur noch um die Frage: Soll man die Apokalypse abzuwehren versuchen, oder soll man es lassen? Es ist auffällig, dass die Bewegungen, die sich noch an der Verhinderung der Apokalypse versuchen, der Klimaaktivismus zum Beispiel, keine Hymnen besitzen, keinen Soundtrack. Der Widerstand gegen den Untergang läuft, anders als zu Zeiten von Joy Division und Einstürzende Neubauten, weitgehend ohne Popmusik."

Weiteres: Im Standard gratuliert Christian Schachinger H. P. Baxxter von Scooter zum 60. Geburtstag. Besprochen werden Jan Hecks Kino-Dokumentarfilm "Otze und die DDR von unten" über die DDR-Punkband Schleimkeim (FD) sowie Konzerte von Lucinda Williams (Presse, Standard) und The 1975 (Tsp).
Archiv: Musik