Efeu - Die Kulturrundschau

Präludien lautester Friedfertigkeit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.02.2024.  Die FAS schaut auf Carlo Chatrians glücklose Berlinale-Jahre, denen wohl auch keine goldene Zukunft für das Festival folgen wird. Die FAZ lauscht hingerissen flauschigen Streichern in Robert Carsens Inszenierung der Oper "Die Jüdin von Toledo" in Dresden - die israelkritischen Elemente hätte sie allerdings nicht gebraucht. Die NZZ schüttelt den Kopf über "Mattscheiben"- Fassaden.  Die FAS hat viel Freude an der Serie "The New Look" über Dior: schauspielerisch hochgradig besetzt und ästhetisch ein Genuss! Und: Beyoncé spielt jetzt Country.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.02.2024 finden Sie hier

Film

Keine große Namen im letzten Jahrgang und eine kurze Amtszeit voller Pech und Baustellen: Peter Körte lässt in der FAS (online nachgereicht) Carlo Chatrians glücklosen Berlinale-Jahre austrüben. Auch "das Forum verabschiedet sich in diesem Jahr von seinem Kino Arsenal im Sony Center, aus dem auch Filmmuseum, Filmhochschule und Kinemathek in eine ungewisse Zukunft weichen müssen. Damit ist praktisch alles verschwunden, was den Potsdamer Platz auch zu einem Zentrum des Films machen sollte. Ein tolles Signal! Was passieren wird, wenn 2025 auch der Mietvertrag für das Musicaltheater ausläuft, ob die Berlinale die Verlängerungsoption zieht, ist offen. Auch für die neue Leiterin Tricia Tuttle bleibt das Festival eine schwierige Baustelle."

Auch um den Walk of Fame in Hollywood, wo sich die Stars mit ihren Sternen verewigen, steht es nicht gut, berichtet Christiane Heil in der FAZ: Er gleicht mittlerweile einer "heruntergekommenen Partymeile. ... In den vergangenen Jahren war es am Walk of Fame und in Nachbarvierteln nach Streitereien bei Drogenhandel oder Glücksspiel wiederholt zu Schusswechseln, Messerstechereien und sexuellen Übergriffen gekommen. Neben Downtown und Skid Row, mit etwa 15.000 Obdachlosen eine der größten Zeltstädte der Vereinigten Staaten, gehört Hollywood inzwischen zu den gefährlichsten Gegenden in Los Angeles. ... Dass viele Schauspieler, Musiker und andere Persönlichkeiten der Unterhaltungsindustrie trotz Nominierung auf einen Stern am Walk of Fame verzichten, ist längst kein Geheimnis mehr. Nach George Clooneys Namen etwa sucht man vergeblich. Wie der Oscarpreisträger wollten auch Clint Eastwood, Leonardo DiCaprio, Meg Ryan, Ben Affleck, Angelina Jolie und Brad Pitt nicht in rosafarbenem Terrazzo verewigt werden."

Besprochen werden der von Andreas Wirsching herausgegebene Band "Kino im Zwielicht. Alfred Bauer, der Nationalsozialismus und die Berlinale" (FD), die Amazon-Serie "Expats" mit Nicole Kidman (Presse) und Tràn Anh Hùngs "Geliebte Köchin" mit Juliette Binoche und Benoît Magimel (FAZ, unsere Kritik).
Archiv: Film

Musik



Damo Suzuki ist tot. Er war von 1970 bis 1973 der zweite Sänger von Can und sang für diese auf den Alben "Soundtracks", "Tago Mago", "Ege Bamyasi" und "Future Days", die das zentrale Werk der Krautrock-Band bilden. Entdeckt wurde er durch Zufall: als Straßensänger in München, wenige Stunden später gab er mit der Band sein erstes Konzert:  Ein "Glücksfall für ihn und für Can, ein Zufall, der den Verlauf der Musikgeschichte veränderte", schreibt Albert Koch auf Zeit Online. "Suzukis Gesang, der zwischen demonstrativer Langeweile und ekstatischem Gekreische oszillierte, war das fehlende Element der Spontankompositionen der Band. Assoziativ improvisierte er seine abstrakten Texte auf Englisch, Japanisch und in erfundenen Sprachen, seine Stimme wurde in der Can-Musik zu einem zusätzlichen Instrument."

Marc Hoch erinnert sich in der SZ an Suzukis Auftritt mit Can im Beatclub, den wir oben eingebunden haben: "Wie er tanzt, schreit, seine langhaarige Mähne mit verzückten Augen vor- und zurückwirft, bildet den idealen Kontrast zu den in allerhöchster Konzentration spielenden Musikern, die den peitschenden Rhythmus bis an der Grenze zur Ekstase vorantreiben." Suzuku "verlieh der Band mit seinen vokalen Improvisationen und seinem englisch-japanischen Kauderwelsch ein Flair von weiter Welt", schreibt Philipp Krohn in der FAZ und geht auch kurz auf Suzukis Arbeiten nach Can in jüngeren Jahren ein, als er unter anderem mit "Omar Rodriguez-Lopez von Mars Volta Musik herausfordernde Musik aufnahm. Auftritte dieser Phase mit Damo Suzuki's Network hatten nicht mehr den Anarchismus der Siebzigerjahre, aber versprühten immer noch einen Geist des Experiments und der Suche nach neuen Grenzen im Rock." Peter Przygodda porträtierte die Band 1972:



Außerdem: Matthias Heine grübelt in der Welt darüber, ob im Titel "The Tortured Poets Department" des angekündigten neuen Taylor-Swift-Albums nicht vielleicht doch ein Apostroph (und wenn ja: an welcher Stelle) fehlt. In Times Mager der FR erinnert Michael Hesse daran, wie vor 60 Jahren in den USA die Beatlemania anbrach.

Besprochen werden neue Bücher über Kraftwerk (taz), ein von Susanna Mälkki dirigiertes Konzert des HR-Sinfoniekonzerts (FR), ein CD- und BluRay-Set mit dem Konzert zu Willie Nelsons 90. Geburtstag im Hollywood Bowl (FAZ), Ushers Halbzeitshow für den Super Bowl (SZ), Benedikt Kristjánssons Bach-Aufnahme "Judas. Arien & Rezitative" (FAZ) und Vera Solas neues Album "Peacemaker" (Standard).

Und dann das: Beyoncé hat letzte Nacht zwei neue Songs gedroppt (den unten eingebundenen und diesen hier) und für Ende März "Renaissance Act II" angekündigt - und die Queen of R'n'B spielt Country:

Archiv: Musik

Kunst

Die Kritiker trauern um den im Alter von 85 Jahren verstorbenen Aktionskünstler und Maler Günter Brus. Stefan Trinks erinnert sich in der FAZ an die legendären Auftritte vom "Erfinder des Ganzkörperaktionismus": "Alle denkbaren sexuellen Tabus, ein virulentes Thema der Sechziger- und Siebzigerjahre, führte Brus rücksichtslos vor, indem er etwa nackt als 'Bild' durch die Stadt spazierte oder bei Aktionen jenen Teil seines Körpers involvierte, den bereits manche Renaissancekünstler als besonderen Pinsel bezeichnet und mehr oder weniger subtil in ihre Malerei eingebracht hatten."

Die Performance der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera (Unser Resümee) im Hamburger Bahnhof, bei der die Künstlerin hundert Stunden lang aus Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge des Totalitarismus" lesen wollte, wurde von pro-palästinensischen Aktivisten gestört und musste abgebrochen werden, melden SZ und Spon. Schon mittags wurde die Performance von Aktivisten besucht, die allerdings nicht eingriffen, hingegen "seien die Störer am Abend nach Angaben der Veranstalter deutlich aggressiver aufgetreten. Sie beschimpften die Künstlerin, die Lesenden, unter denen jüdische Teilnehmende waren, und bespuckten den libanesisch-stämmigen Direktor des Hamburger Bahnhofs, Sam Bardaouil", berichtet Sonja Zekri in der SZ. Die Ironie dabei: Bruguera selbst hatte zu Beginn ihrer Lesung beklagt, israelkritische Stimmen würden in Deutschland zensiert.

Weiteres: In der FAZ verweist Florian Keisinger auf eine für das Frühjahr angekündigte Neuedition der Tagebücher von Max Beckmann. Besprochen werden die Ausstellung "Manchmal halte ich mich an der Luft fest. Belarusische Künstler:innen im Exil" in der Galerie im Körnerpark Berlin (taz) sowie die Solo-Schauen von Jana Bliss und Carol Rhodes im Haus am Waldsee in Berlin (tsp).
Archiv: Kunst

Bühne


"Die Jüdin von Toledo" © Semperoper Dresden/Ludwig Olah 

Eigentlich ist Robert Carsens Inszenierung von Detlev Glanerts Oper "Die Jüdin von Toledo" an der Semperoper in Dresden rundum gelungen, findet Jan Brachmann in der FAZ. Vor allem das Orchester versetzt den Kritiker in andere Welten: "Die Liebesmusiken für Alfonso und Rahel sind von der ersten Begegnung an betörend-zart und hüllen die Stimmen ins flauschige Flanell gedämpfter Streicher. Immer wieder klagt ein Englischhorn mit Arabesken wie aus dem Soundtrack zum "Dieb von Bagdad", und um die nahen Mauren vor Toledos Mauern noch präsenter zu machen, spielt Nassib Ahmadieh auf dem Ud, der persischen Laute, Präludien lauterster Friedfertigkeit. Nur die Christen kennen blechgepanzerte Empörung: Turba-Chöre mit Tuba-Booster. Und wenn der Kanzler Manrique (der markig-seriöse Markus Marquardt) der Königin den Staatsrat vorstellt, schreibt Glanert dazu eine würdige Passacaglia, deren Bass man nach zweimaligem Hören gut mitsingen kann." Nicht gebraucht hätte es für Brachmann die Verweise auf den Gaza-Krieg und die israelkritischen Elemente - eine eigentlich unnötige Aktualisierung des historischen Stoffes, meint der Kritiker. "Schlichtweg atemberaubend" ist auch für einen begeisterten Joachim Lange in der taz "was der Dirigent Jonathan Darlington hier an opulentem Klangzauber mit ganz eigner, geradezu betörender Färbung aus dem Graben aufsteigen lässt".

Warum zeigt das öffentlich-rechtliche Fernsehen eigentlich kaum mehr Theaterinszenierungen, fragt Harald Hordych Anne Reidt, Leiterin der ZDF-Hauptredaktion Kultur, und Meike Klingenberg von der Programmgruppe "Theater bei ZDF/3sat" im SZ-Interview. Ein Grund liege darin, so Reidt, dass die Übertragung von unterhaltenden Stücken, wie aus dem Ohnsorg-Theater, die damals das Publikum begeisterten, heute nicht mehr funktionierten: "Das Volkstheater spielt heute im Dschungelcamp. Heidi Kabels Epigonen performen auf Instagram. Und das Theater geht durch ähnliche Transformationsprozesse wie wir Medien oder unsere ganze Gesellschaft: Welcher Kanon verbindet uns noch, wer spricht für wen? Mit welchen Mitteln hilft Theater, unser Zusammenleben auszuhandeln, und was machen wir mit den neuen digitalen Möglichkeiten bis hin zur künstlichen Intelligenz?"

Weiteres: Die Kooperation John Neumeiers mit dem Moskauer Bolschoi-Ballett geht weiter, meldet die FAZ. In einer Presseerklärung begründete Neumeier die Zusammenarbeit mit der Vermittlung der "'humanen Werte, die das jetzige russische Regime so sträflich missachtet.'" Was genau das bedeuten soll ist allerdings unklar. Lotte Buschenhagen unterhält sich für den Tagesspiegel mit dem Leiter der Komödie am Kurfürstendamm Martin Woelffer.

Besprochen werden Schorsch Kameruns Inszenierung seines Stücks "Cap Arcona" am Theater Lübeck (nachtkritik), Katharina Schmidts und Roman Koniecznys Inszenierung von Büchners "Leonce und Lena" am Theater Osnabrück (nachtkritik), Swaantje Lena Kleffs Inszenierung von Goethes "Die Leiden des jungen Werther" am Nationaltheater Weimar (nachtkritik), Christina Tscharyiskis Inszenierung von Franz und Paul von Schönthans Schwank "Der Raub der Sabinerinnen" am Schauspiel Frankfurt (nachtkritik, FR), Nurkan Erpulats Adaption von Behzad Karim Khanis Roman "Hund, Wolf, Schakal" am Gorki Theater (nachtkritik, taz, tsp), Karsten Wiegands Inszenierung der Strauss-Oper "Elektra" am Staatstheater Darmstadt (FR), Michael Quasts Inszenierung von Philipp Mosetters Stück "Der Fleck", uraufgeführt in der Volksbühne Frankfurt (FR), die Premiere von Tuğsal Moğuls Inszenierung von "And Now Hanau" im Willy-Brandt-Saal des Rathauses Schöneberg (taz, Welt),
Archiv: Bühne

Literatur

In der Kafka-Reihe der SZ erinnert sich die Schriftstellerin Teresa Präauer daran, wie sie als Jugendliche mal Teil einer Putzkolonne war, die in den Ferien die Schule wieder auf Vordermann bringen sollte. "Allerlei Herzen, Pfeile, Schniedel und Sprüche mussten von den Tischplatten in den Klassenräumen entfernt werden. 'Gibs auf, gibs auf', stand an einer Stelle geschrieben, und ich rieb mit großem Schwunge über die schwarze Spur des Permanentmarkers, die Blitzputz-Edelstahlspirale in der rechten, die Cif-Scheuermilch in der linken Hand. Die Hände in gelbe Gummihandschuhe gesteckt dachte ich an Kafkas Parabel, die wir im Gymnasium gelesen hatten: 'Gibs auf, gibs auf', sagte darin ein Schutzmann zu einem, der nach dem Weg fragt. ('Gibs auf, gibs auf', rieten auch die Erwachsenen damals den Jugendlichen, die in die Welt hinauswollten.) Die Leiter und Chefinnen, die Inhaber und Bosse, die Direktoren und die Galeristinnen, mit denen ich später noch zu tun gehabt habe, hatten oft etwas mit den Figuren aus Franz Kafkas Texten gemein: Sie verweigern den Zugang, sie vertrösten auf später, sie lächeln wissend, scheinbar hilfsbereit, und geben wesentliche Informationen doch nicht preis. Keiner weist dem, der nach dem Ausgang fragt, den Weg. Oder weiß keiner den Weg?"

Außerdem: In der Zeit erzählt Maxim Biller, online nachgereicht, wie ein Gespräch zwischen ihm und dem israelischen Schriftsteller Etgar Keret über Fragen zur Einschätzung des 7. Oktobers zu einem Streit eskalierte. Georg Stefan Troller erinnert sich, online nachgereicht von der Literarischen Welt, an seine Begegnung mit Sartre. Besprochen werden unter anderem Ursula Poznanskis "Die Burg" (Standard), Mojca Kumerdejs "Unter die Oberfläche" (NZZ), eine Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin über Leben und Werk des Dichters Curt Bloch (SZ) und Vladimir Sorokins "Doktor Garin" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Alexander Košenina über Selma Meerbaums "Frühling":

"Sonne. Und noch ein bißchen aufgetauter Schnee
und Wasser, das von allen Dächern tropft ..."
Archiv: Literatur

Architektur

The Las Vegas sphere, Nevada. 

In der NZZ schüttelt Matthias Herzog den Kopf über den Architektur-Trend der "Mattscheiben"-Architektur, also Fassaden, die aus gigantischen LED-Bildschirmen bestehen, wie die MSG Sphere in Las Vegas: "Die Architektur wird flüchtig und unverbindlich wie ein Tweet. Das Bild einer Gesellschaft, die gebannt auf ihre Bildschirme starrt, überträgt sich auf den Massstab der Stadt. Denkbar wäre, dass die Bauten mit den Menschen interagieren oder dass eine Abstimmung über die Fassadeninhalte entscheidet. Auf der Gebäudehülle könnte man sich durch die Kanäle zappen wie am Fernseher: Architektur als Lichtspieltheater. Aufgrund des Solarstroms bezeichnet Novartis die Medienfassade in Basel als Nullenergie-Gebäude. Dennoch widerspricht die LED-Architektur dem sparsamen Umgang mit Ressourcen. Sie sorgt zudem für Lichtverschmutzung. Um die Natur zu schonen, sollten Städte den Nachthimmel so wenig wie möglich erhellen."
Archiv: Architektur

Design

Majestätischer Charme: Juliette Binoche als Coco Chanel in "The New Look"

Die Streamingdienste entdecken die Modegeschichte für sich. Da Mode längst ein internationales Konzerngeschäft ist, fallen die Ergebnisse allerdings recht nostalgisch und wohlwollend aus, notiert Ingeborg Harms online nachgereicht in der FAS. Todd A. Kesslers Apple-Serie "The New Look" über Dior etwa wirkt wie ein Thriller: "Die Serie ist reich an Cliffhangern und Glückswechseln, fulminant erzählt, schauspielerisch großartig und filmästhetisch ein Genuss. Die heikle Aufgabe, ikonische Persönlichkeiten glaubhaft zu besetzen, wurde überzeugend gelöst. Ben Mendelsohn stattet Christian Dior mit herrlichen Manierismen aus, verleiht ihm Subtilität und Seelentiefe. Juliette Binoche entfaltet als abgründig-unberechenbare Coco Chanel verblüffende Ressourcen, kultiviert ihren Zynismus, ihren Freimut, ihren majestätischen Charme und tritt in den legendären, weich fallenden Hosenanzügen umwerfend authentisch auf. (...) 'The New Look' schneidet Glamour und Elend hart gegeneinander und gewinnt an Tempo, als die Amerikaner in Paris einziehen. Kollaborateure werden ans Licht gezerrt, oder sie ziehen, wie Chanel, an Fäden, die bis zu Winston Churchill reichen, um von den Verhaftungslisten zu verschwinden und ihr Renommee zu retten."
Archiv: Design
Stichwörter: Apple, Streaming, Modegeschichte, Mode, Dior