9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Schlüssel zu so vielem

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.07.2016. Die Welt erinnert an den heimlichen Krieg der DDR gegen Israel. Die FAZ analysiert den Atavismus des amerikanischen "Rasse"-Begriffs. Die NZZ feiert die Philippinen als Hort der Emanzipation. Die SZ fragt: Welche Rolle haben "Social Bots" beim Brexit gespielt. Für Foreign Policy waren britische Zeitungen die Hauptquellen der Desinformation.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.07.2016 finden Sie hier

Europa

Der britische Europa-Skeptizismus ist nicht repräsentativ, sondern ziemlich einzigartig in Europa, meint der spanische Analytiker Miguel Otero-Iglesias in politico.eu. Auch britische Experten schlössen voreilig von sich auf andere: "Trotz der Meinung britischer Kommentatoren, dass der Euro ein Desaster sei und geschleift werden sollte, hält eine große Mehrheit in Nord- und Südeuropa an der gemeinsamen Währung fest. Warum? Manche sagen, Angst vor dem Unbekannten hätte Länder wie Griechenland, Italien oder Spanien abgehalten, den Euro zu verlassen. In Wahrheit ist die Lage komplex, denn es ist auch ein Vorteil, zu einem stabilen, demokratischen und wohlhabenden Club zu gehören, dessen Bürokraten weniger korrupt sind als die eigenen Politiker."

Die Wahlbeteiligung der jungen Wähler beim Brexit-Votum war wesentlich höher als bisher teilweise vermutet, schreibt Toby Helm im Guardian, der sich auf neue Zahlen des Instituts Opinion bezieht. Bisher war bei den Wählern von 18 bis 24 von 36 Prozent die Rede gewesen. Die Resultate der Umfrage sagen dagegen, "dass 64 Prozent der jungen Leute, die registriert sind, wählen gingen, 65 Prozent bei der Gruppe der 25 bis 39-Jährigen, 66 Prozent bei den Wählern zwischen 40 und 54, 74 Prozent bei den 55 bis 64-Jährigen und 90 Prozent bei den über 65-Jährigen. Die jungen Wähler sollen zu 70 Prozent für Remain gestimmt haben."

Alle reden über Einwanderung, niemand spricht über Auswanderung, wundert sich der an der Stanford Universität lehrende Germanist Adrian Daub in der NZZ. Dabei sind 2009 in Deutschland mehr Menschen aus- als zugewandert. Doch keine Zeitung berichtet darüber. "Was für eine Art Nation sind wir? Mit Massenauswanderung geht eine gewisse Scham einher. Man denke an den drastischen Begriff 'brain drain'. Werden solche Begriffe auf Deutschland angewandt, schwingt auch eine Krise deutschen Selbstverständnisses mit: Wo gehört Deutschland hin, ist es Traumziel wie Australien oder ewiges Geberland wie Griechenland?"
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Geschichte

In der Welt erinnert Richard Herzinger an den "unerklärten Krieg", den die DDR gegen Israel führte. Anlass ist ein neues Buch des amerikanischen Historikers Jeffrey Herf: "Undeclared Wars with Israel. East Germany and the West German Far Left 1967-1989", dass die ausgezeichneten Beziehungen der DDR zu jenen Staaten untersucht, die ein Existenzrecht Israels negierten. Das hat Folgen bis heute, so Herzinger: "Dass die Linkspartei Sanktionen des Westens gegen den Schlächter Assad heftig ablehnt, ist angesichts der engen Beziehungen des SED-Apparats mit dem Baath-Regime in Damaskus nicht verwunderlich. Sie hielten jedenfalls unvermindert bis zum Ende der DDR. So schloss die ostdeutsche Führung 1984 mit dem syrischen Regime einen Vertrag über die Lieferung von Kriegsausrüstung im Wert von 50 Millionen Dollar ab, darunter Zubehör für die Produktion chemischer Waffen. Dass Diktator Assad, mit Unterstützung Moskaus, seit Jahren einen Vernichtungskrieg gegen die eigene Bevölkerung führen kann, geht nicht zuletzt auf diese kommunistische Aufrüstungspolitik zurück."
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Gesellschaft

Jürgen Kaube versucht in der FAZ den Begriff der "Rasse" zu entwirren, wie er in den USA gebraucht wird - ganz anders, als er in Europa je gebraucht werden könnte. Aber so wenig er sich biologisch begründen lässt, so sehr beschreibe er gesellschaftlich eine Realität: "Der atavistische Zustand einer Nation, in der 'race' ein Schlüssel zu so vielem ist, hängt selbstverständlich davon ab, dass die Angehörigen der vielen Farbgemeinschaften miteinander nur ausnahmsweise eine Familie gründen. Niemand könnte jetzt, da die Toten gezählt werden, so umstandslos von 'sie' und 'wir' sprechen, wenn sie miteinander verheiratet wären, miteinander Kinder und untereinander Verwandtschaft hätten."

In der NZZ empfiehlt Siegfried Herzog die Philippinen als Vorbild, wenn es um Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen geht. "Frauen besetzen eine große Zahl der Managementpositionen: 41 Prozent sind es laut einer ILO-Studie... Auch der Unterschied in der Bezahlung für gleichartige Tätigkeiten ist deutlich geringer. Ein besonders krasser Unterschied besteht beim weiblichen (Mit-)Eigentum an Unternehmen: In Deutschland findet man das bei 20 Prozent der Firmen, in den Philippinen bei 69 Prozent." Als Gründe für diese Fortschrittlichkeit nennt Herzog vor allem die sehr guten Bildungschance für Mädchen und ein gewisses "kulturelles matriarchalisches Substrat aus vorkolonialer Zeit".
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Internet

In der SZ denkt Annika Domainko über das Problem von Social Bots nach. Das sind Computerprogramme, die sich in den sozialen Netzwerken als Nutzer ausgeben, kommentieren und sich zu politischen Themen äußern. Forscher haben jetzt entdeckt, dass anlässlich des Brexit-Referendums beide Lager in UK solche Bots auf Twitter benutzt haben. Dabei dürfte kein Bot einen Brexit-Gegner umgestimmt haben. "Bots sind nicht fähig zu Rede und Gegenrede, sie machen keine konstruktiven Vorschläge, die der Komplexität politischer Realität gerecht werden. Sie argumentieren nicht. Viele teilen einfach die Nachrichten, die andere Nutzer zuvor gepostet haben. So vergrößern sie die Reichweite der Botschaften und erwecken den Anschein einer breiten Zustimmung. ... Politische Bots sind daher dort gefährlich, wo eine bestimmte Meinung und eine bestimmte argumentative Grundstruktur bereits vorhanden sind."
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Medien

Das Internet mag im Brexit-Votum eine Rolle gespielt haben, die Hauptquelle der Desinformationen war aber die starke pro-Brexit-Presse mit Titeln wie der Sun, Daily Mail, Daily Express und Telegraph, schreibt Steven Barnett in Foreign Policy. Deren Trommelfeuer mit Falschmeldungen und Verzerrungen hatte auch Einfluss auf andere Medien: "Dieser Echokammer-Effekt war bei der angeschlagenen BBC besonders deutlich, die sich durch eine unglückliche Koinzidenz in Verhandlungen über die Erneuerung ihrer Zehnjahres-Charter befindet, stets eine heikle Aufgabe. Ihre normalerweise selbstbewussten Journalisten haben darum einen Kult der 'Ausgewogenheit' getrieben: Jedes Argument, das über den Sender ging, wurde von einem Gegenargument begleitet, wie absurd auch immer."

Der Streit um die Honorare von "Sportexperten" bei den Öffentlich-Rechtlichen geht weiter. Kress pro hatte behauptet, Mehmet Scholl solle ein Honorar von über einer Million Euro von der ARD bekommen (unser Resümee). Joachim Huber zitiert im Tagesspiegel aus Papieren des Ausschusses Medien und Netzpolitik des rheinland-pfälzischen Landtages. Dort heißt es: "2007 bis 2010 hatten die Landesrundfunkanstalten auf Grundlage von Mitwirkendenvereinbarungen an ehemalige Spitzensportler und Experten aus dem journalistischen Bereich für Komoderation, Interviews und Reportagen jährlich niedrige einstellige Millionenbeträge gezahlt." Huber schließt daraus, dass "der von kress.de kolportierte, aktuelle Millionenverdienst des ARD-Experten eine veritable journalistische Ente" sein könnte.
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Politik

In der NZZ äußert sich der isrealische Autor Etgar Keret einmal mehr zum Nahostkonflikt. Er fragt sich, woher die Vorliebe für binäre Modelle wie "anti- und pro-" im Denken und auch in der Sprache dieses Konflikts herrührt. Seine Theorie "geht dahin, dass auf beiden Seiten dieser Kluft viele Menschen stehen, die es müde geworden sind, sich ernsthaft mit Einzelheiten auseinanderzusetzen, und die deshalb einen einfacheren Diskurs fordern - eine Einstellung, die der bedingungslosen Unterstützung eines Fußballfans für seine Lieblingsmannschaft ähnelt. Eine solche Haltung schließt Kritik an der Mannschaft, die man unterstützt, weitgehend aus, und ... befreit einen auch von der Pflicht, Mitgefühl für die andere Seite zu empfinden."
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