Vorgeblättert

Leseprobe zu Jacques Roubaud: Der verlorene letzte Ball. Teil 3

20.07.2009.
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Die Villa der Akapos lag an einer Sackgasse, diese mündete in die Avenue du Golf. Die Avenue führte am Golfplatz entlang, von ihm getrennt durch einen hohen Zaun, an den sich Buschwerk und ein paar Bäume schmiegten. Der Golfplatz erstreckte sich bis zu den Klippen, hoch über dem Ozean. Durch den Zaun sah man die Spieler umhergehen.
Jeden Sonntag ging John Akapo in Begleitung Tom Wedderburns, wenn dieser nicht gerade in London war, zum Golfspielen. Währenddessen ging Eleonore, sofern sie nicht zu erschöpft war, zur Messe in die Eglise Saint-Charles im unteren Teil der Avenue. Laurent kannte Gott nicht sehr gut. Gott war für ihn eine Art alter baskischer Pfarrer.
Sobald der kleine Laurent alt genug war, um längere Zeit zu laufen, trippelte er auf der weiten grünen Fläche hinter seinem Vater her, von Loch zu Loch. Als er ein wenig größer war, trug er die "clubs", die Golfschläger. John (durch seine Mutter) und Tom (durch beide Elternteile) waren Schotten und stolz darauf, es zu sein. Schottland war das schönste Land der Welt. Edinburgh war die schönste Stadt Schottlands, und folglich der Welt. Und die Orkneys waren die schönsten Inseln Schottlands. Schotte zu sein bedeutete aber auch, Golf zu spielen.
"Ein Golfplatz", sagte Tom zu Laurent, "heißt ein 'links'."
"Warum?" fragte er, während er stehenblieb und Laurent gerade in die Augen blickte, "weil links ein schottisches Wort ist und soviel wie ›Dünen‹ bedeutet. Und warum Dünen?" Laurent, der ihm mit offenem Mund zuhörte, wußte es nicht. "Weil, Laurent, Sir, das Golfspiel in Schottland erfunden wurde, in den Dünen von St. Andrews. Ein Hirte, der zufällig seine Schafe auf der Düne weidete, soll mit seinem Stock nach einem Stein geschlagen und ihn dabei in ein Hasenloch geschossen haben. Mark my words! Paß gut auf!" fügte er hinzu: "Ein richtiger Golfplatz muß immer am Meer liegen! Und ein richtiger Golfplatz muß mit den Hasen geteilt werden! Heute vertreibt man die Hasen von allen Plätzen. Was für eine Dekadenz! Nur auf den Orkney-Inseln wird die Tradition noch gewahrt. Hier gibt es keine Hasen; aber man ist wenigstens am Meer!"
Laurent vergaß dieses Gespräch nicht, oder vielmehr diesen Vortrag Toms; denn er selbst sagte nichts.
Die Familie Wedderburn hatte sich in der ruhm reichen Geschichte des Golfs ausgezeichnet. Der Vorfahre Thomas Wedderburn, Toms Urgroßvater, war einer der großen Spieler des Royal and Ancient Golf Club of St. Andrews gewesen. Und da Johns Mutter, Laurents Großmutter väterlicherseits, ebenfalls eine Wedderburn war, stand ihm, Laurent Akapo, ein Teil dieser Ehre zu. Begierig lauschte er allen Geschichten, die Tom und sein Vater ihm erzählten; das Spiel und Schottland, gelobtes Land dieses Spiels, vermischten sich in seiner Phantasie. Beim Einschlafen sah er Herden weißer Schafe, die von Hirten in Tweed vorwärtsgetrieben wurden und geschickt ihre Golfschläger schwangen, auf Dünen, aus denen zahllose neugierige Köpfe kleiner, fuchsroter Hasen hervorlugten. Laurent klopfte mit seinem Schläger auf den Boden, und die Hasenköpfe verschwanden in ihren Löchern. Die Überfülle, der Strom von Schafen vor seinen geschlossenen Augen, ließ ihn schließlich einschlafen.
Tom und John sprachen beim Spielen stets Englisch. Sie sangen, und Laurent lernte die Melodien; und mehr oder weniger auch die Texte: "What shall we do with the drunken sailor / Early in the morning?" Oder: "We joined the Navy / To see the world / And what did we see / We saw the sea." Aber vor allem zählten sie ihre Schläge. Sie zählten sie auf englisch, deshalb kannte Laurent sehr schnell die Zahlwörter in dieser Sprache. Mächtig stolz sagte er sie eines Tages seinem Vater auf, so wie er sie gehört hatte, dem berühmten Abzählvers des Golfspielers entsprechend: one, two, three, four, five, six, damn, eight, damn. Als John ihm erklärte, sieben und neun würden nicht gleichermaßen mit damn übersetzt, was bloß eine, nicht eben gesittete Form sei, um auszudrücken, daß man seinen Schlag verpatzt habe, da war er beleidigt und hatte in der Folge die allergrößten Schwierigkeiten, sich die richtigen englischen Wörter für diese Zahlen zu merken. Und sogar auf französisch betrachtete er sie immer voller Mißtrauen. Sieben und neun sind gefährliche Zahlen. John brachte ihm bei, auf baskisch zu zählen.
John erklärte ihm, was der "Caddie" zu tun hat: Er sammelt die Bälle der Spieler ein, sucht sie, wenn sie verlorengegangen sind, trägt die Schläger, gibt den Anfängern Ratschläge, erklärt die Fachausdrücke, die sehr häufig englische Wörter schottischer Herkunft sind (behauptete Tom): "rough" (der ungepflegte Teil der Spielbahn, wo das Gras hoch steht und den man meiden sollte); "tee" (kleiner Pilz aus Holz oder Gummi, auf dem man den Ball plaziert, damit er höher liegt); "putter" (kurzer Golfschläger); "divot" (vom Golfschläger ausgehacktes Rasenstück) usw. Er erzählte seinem Sohn, wie er selbst als Kind auf dem Golfplatz von St. Andrews Caddie gewesen war. Wie sein eigener Vater ihn die Höflichkeitsregeln des Golfspiels gelehrt hatte; zum Beispiel: sich nicht bewegen, nicht sprechen, nicht in der Nähe des Balls stehen oder unmittelbar hinter ihm oder hinter dem Loch, wenn ein Spieler spielt. Im Herzen des Kindes keimte Ehrgeiz auf, Caddie zu sein wie sein Vater, dann, wenn er alles gelernt hatte, was man vom Spiel wissen konnte, ein Champion zu werden, dessen Ruhm selbst den von Ururgroßonkel Wedderburn übersteigen würde. Er begann sich mit dem Spiel vertraut zu machen, mit den Bällen, ihren Flugbahnen, ihren unvorhersehbaren Abweichungen, ihren heimtückischen Verirrungen. Er lief, lief, um einzusammeln, in den Büschen zu stöbern, zu apportieren, leidenschaftlich und verbissen wie ein kleiner Spaniel. Müde vom vielen Laufen, denn ein Ball war fortgeflogen und er hatte ihn nicht wiedergefunden, kam er eines späten Nachmittags zu Tom und seinem Vater zurück und sagte, ja, er habe auch in dem Pflanzendickicht gesucht, das John ihm zeigte, und nein, nein, dort sei der Ball nicht. "Such trotzdem noch ein wenig", sagte John.


Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Klaus Wagenbach

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