Tagtigall

Im Lachen liegt eure Zukunft!

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
11.08.2023. Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse mit dem Länderschwerpunkt Slowenien wird auch einer der berühmtesten Dichter und Begründer der slowenischen Moderne gefeiert: Srečko Kosovel. Geboren 1904, wurde er 22 Jahre alt, zu seinen Lebzeiten veröffentlichte er 40 Gedichte. Doch aus dem Nachlass wurde ein großes und großartiges Oeuvre geborgen. Heute ist er eine Legende, gilt als "der slowenische Rimbaud".
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Es war die Begegnung mit einem Gedicht, die mich auf Srečko Kosovel und die slowenische Lyrik aufmerksam machte. Der Titel "Geringer Mantel".

Geringer Mantel

Ich ginge gern
im geringen Mantel
der Worte.

Doch drunter berge sich
die warme, lichte Welt.

Was ist Reichtum?
Was ist Luxus?
Für mich eins:
Einen geringen Mantel trag ich
und dieser Mantel ist keinem gleich.
(Ü. Ludwig Hartinger)

Was genau ist ein "geringer" Mantel? Können Worte tatsächlich ein Mantel sein? Und was wäre dann die warme lichte Welt? Viele Fragen. Und dennoch geht eine große Faszination von diesen kargen Zeilen aus. Der Übersetzer berichtete, die Entscheidung für das Wort "gering" sei seine Hommage an die eigene Großmutter, die "gering" immer synonym für "klein" oder "dürftig" verwendet habe.

Um mir das Gedicht in meine Vorstellungswelt zu transponieren, es zu "besetzen", wie Paul Celan den Vorgang einmal nannte, unternahm ich eine erste prosaische Annäherung.

Wie gerne würde ich mich beim Schreiben in einen und sei es noch so dürftigen Mantel der Worte hüllen, der Wärme und der Strahlkraft wegen, die ich darunter wähne. /// Alle reden von Reichtum und Luxus. Ich aber sage mir: So klein mein Mantel auch sein mag, er ist reich und luxuriös wie keiner.

Kosovel gelingt es in dem Gedicht in wenigen Zeilen, Sehnsucht, Demut und Stolz  zu verbinden - die Sehnsucht des Dichters nach dem ganz eigenen Wort; ferner die Demut des Dichters, der weiß, dass Sprache die "warme lichte Welt" nur ungenügend transportiert; und außerdem den Stolz des Dichters, der im Schreiben erfährt, welchen Reichtum er mit seiner Sprache erschaffen kann.

Tomaj, der Ort, in dem Kosovel seine Kindheit verbrachte, lag nicht weit nördlich von Triest im kargen Karst. Bis 1918 war die Gegend Teil der Donaumonarchie, doch nach Kriegsbeginn wurde sie erst Aufmarschgebiet, später Kriegsschauplatz. Die Oberschicht sprach Deutsch oder Italienisch; Slowenisch war die Sprache der einfachen Leute, die, obwohl als Minderheit angesehen, in manchen Regionen bis zu 60 Prozent der Bevölkerung stellten. 30 Prozent der Bewohner von Triest waren um 1910 slowenischsprachig. Ob Kosovel damals, als er von der "warmen lichten Welt" sprach, das Zweiwortgedicht "M'illumino d'immenso" ("Ich erleuchte mich durch Unermessliches", übersetzte Ingeborg Bachmann) des Triester Dichters Guiseppe Ungaretti kannte?

 So arm die Slowenen gewesen sein mögen, Kosovels Verse sind stolz und so zerklüftet und schroff wie der Karst selbst, und dabei in ihrem Minimalismus von großer Schönheit. Kalkstein, Flechten und Wacholderbeeren kennzeichnen die Region und finden sich auch in seinen Landschaftsgedichten. In den Felsklüften bricht sich das Licht, das die Erde mit dem Kosmos verbindet. "Felsen und Wacholder und Sterne und dazwischen mein Weg", schrieb er 1921.
 
Wäre es nach seinem Vater und nicht nach den Schrecken des 1.Weltkriegs gegangen, hätte Srečko (dt. Felix) Kosovel sich der Aufforstung des Karstes gewidmet, die Anfang des 20. Jahrhunderts von der Donaumonarchie initiiert wurde. Doch der Vormarsch der Italiener im 1. Weltkrieg brachte die Slowenen unter Druck, und als im Zuge der Italianisierung die Schulen nur noch auf Italienisch unterrichten durften, zog Kosovel 1916 in die Nähe von Ljubljana. Sein Schreiben war sprachliche Urbarmachung: "Der Dichter ist Botaniker. Er geht über den Karst und sein Herbarium ist eine Sammlung getrockneter Blumen. Er geht an die Front, sein Tagebuch ist voller Schädel."

Nach dem Krieg waren die Avantgarden international damit befasst herauszufinden, was im Kriegs- und Maschinenzeitalter überhaupt noch gesagt und gesprochen werden konnte. Die Suche nach Unabhängigkeit und Neuerung - in der Politik wie in der Sprache - war auch in Slowenien ein großer kollektiver Kraftakt. Initiativen, Projekte und Zeitschriften entstanden. Surrealismus, Futurismus, Dada und die Konstruktivisten hielten Eingang. Kosovel selbst plante eine Zeitschrift zum Konstruktivismus und in den letzten Lebensjahren entstand eine Serie von "Kons."-Gedichten.

Zu Lebzeiten wurden 40 Gedichte veröffentlicht, doch als er 1926 im Alter von nur 22 Jahren an einer Meningitis starb, hinterließ er neben 1400 Gedichten zahlreiche Prosatexte, Theaterentwürfe, Essays, Briefe und Notizbücher. Er sei "als Separatist, Föderalist, Autonomist und Anarchist verschrien", schrieb er und bezeichnete die Kultur als "Magd des Kapitals". Er folge in seiner Dichtung dem Rhythmus des Lebens, nicht dem Metrum.

In dem Band "Mein Gesicht ist mein Gedicht", den Ludwig Hartinger vor 20 Jahren zusammenstellte und der in diesem Jahr bei Otto Müller wiederaufgelegt wurde, erfährt man, wie sich das, was er seine "samtene Lyrik" nennt, wandelte und wie mit dem Krieg der "Tau des wahren wirklichen Lebens" ihn benetzte. Neben Notizen, Fragmenten aus Essays und Briefen enthält der Band auch Faksimiles.

Das Blatt stammt aus der späteren Zeit. Die ersten Zeilen erinnern an Parolen: "Lüftet den melancholischen Schleier! Im Lachen liegt eure Zukunft! Sonne scheint hinter schwarzem Glas."  Der russische Futurismus klingt an und seine Kritik an der zunehmenden Zeichenhaftigkeit der Welt. "SRCE V ALKOHOLU", steht rechts am Rand, ein Echo auf seinen Namen SRECKO KOSOVEL. Hartinger hat mit "HERZ AUS ALKOHOL" die klangliche Nähe erhalten, doch die visuelle Wiedererkennung bleibt im Deutschen schwächer als im Original. Der Buchstabe S schwirrt bei Kosovel über das Blatt, nicht nur in SMRT (Tod) und ESPRIT, sondern auch in "smeh, smeh, smeh" (lach, lach, lach). Ob Kosovel das Gedicht "Beschwörung durch Lachen" des großen "Generalüberholers" der russischen Sprache, Velimir Chlebnikov kannte, ist unbekannt. Schließlich sollen Chlebnikovs Verse schon 1917 in Zürich vorgetragen worden sein. Wie schnell und wie weit und über wie viele Grenzen reisen Klänge von Gedichten?

Kosovel war damals nicht alleine auf seiner Suche nach internationalen Inspirationen. Einmal zitiert er den bengalischen Dichter und Philosophen Tagore; Künstler-Freunde von ihm besuchten das junge Bauhaus in Weimar, wo sie u.a. Kandinsky begegnet sein dürften. Von dort brachten sie neue Dichtung und neue ästhetische Debatten mit zurück in das junge "Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen".

Dichtung spricht aus der Fremde in unser eigenes Fremdsein hinein. Spricht es an. So auch in dem folgenden Lautgedicht, das von der (maschinellen) Entwertung des Menschen handelt, datiert auf den 24.VI.1925.

Gedicht Nr. X

Rattengift. Pif!
Pif, Pif, Pif, Kch.
KCH. KCH. KCH.
Die Ratte stirbt auf dem Dachboden.
Strichnin.
O meine jungen Tage,
wie die stille Sonne auf dem Dachboden.
Durchs Dach spür ich Lindenduft.
Vrck, Vrck, Vrck Vrck
verreck
Mensch
Mensch
Mensch.
Um 8 Uhr ist die Vorlesung
über Menschheitsideale.
Zeitungen bringen Fotos
von bulgarischen Gehenkten.
Und die Leute - ?
Lesen und fürchten Gott,
Gott aber ist außer Dienst.

"O meine jungen Tage" - melancholisch, widerständig und aufsässig zugleich verhandeln diese Verse, wenn man von Handlung sprechen will, den Verlust der Jugend angesichts einer tödlichen Welt, welche die Jugend um ihre Jugend brachte. Sie werden mit Idealen gefüttert, die der Krieg im selben Moment zunichte macht.
Und das ist kein nationales Schicksal, sondern universell. Davon erzählt hier der Hinweis auf die "bulgarischen Gehenkten" -jene Kommunisten, die 1925 in einer Sofioter Kathedrale ein Attentat verübten und kurz später gehenkt wurden. Pif, KCH, Vrck.

Es brauchte neue Wege. Gott und die Tradition hatten ausgedient, davon war Kosovel überzeugt: Allein die Gegenwart sollte ihnen Lehre sein. KCH, KCH, KCH.

Dank Ludwig Hartingers Einsatz wissen wir heute: Die slowenische Dichtung des 20. Jahrhunderts war Teil der europäischen Avantgarde, doch bezeichnenderweise fehlten ihre Stimmen viel zu lange in den Anthologien europäischer Dichterinnen und Dichter.


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ZUM WEITERLESEN:

Srečko Kosovel, Mein Gedicht ist mein Gesicht, ausgew., hg. und übers. von Ludwig Hartinger, zunächst erschienen 2003 im Verlag Christian Thanhäuser mit Radierungen und Zeichnungen des Verlegers, wiederaufgelegt 2023 im Verlag Otto Müller mit neuen Zeichnungen von C.T.

Zur zeitgenössischen slowenischen Lyrik siehe die Bände:

- ein Nachbar auf der Wolke, Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hg. von Ales Steger, Amalija Macek und Mathias Göritz, Hanser Verlag, 2023.
- Und in der von der Akademie mitinitiierten GrandTour-Anthologie wird slowenische Lyrik ganz wunderbar porträtiert.
-
Geburt eines Engels, aus der Reihe Poesie der Nachbarn. Dichter übersetzen Dichter, hg. von Hans Thill, Heidelberg, Wunderhorn, 2008.