Post aus New York

New York, 19.09.01: Ground Zero

Von Ute Thon
21.09.2001. Nach einer surrealen Woche, in der man das Grauen in Manhattan nur riechen konnte, einer Woche mit endlosen, unfassbaren TV-Bildschleifen, wollte ich die Vergewaltigung meiner Stadt mit eigenen Augen sehen.
Gestern war es soweit. Ich schaltete den Fernseher aus und fuhr Downtown. Hinunter zum Höllenschlund. Zum Killing Field. Dorthin, wo einst das World Trade Center stand. Mein zweiter Anlauf. Schon am Tag des Terroranschlags, der mit tödlicher Präzision das Leben von über 5000 Menschen auslöschte und dieses monumentale Wahrzeichen von New Yorks Skyline wegradierte, hatte ich eine Exkursion an die Peripherie der Katastrophe gewagt, dann aber, einem inneren Impuls folgend, vor den Absperrgittern der Polizei kehrt gemacht (trotz Presseausweis, Tonband und Staubmaske in der Tasche). Doch nach einer surrealen Woche, in der man das Grauen in Manhattan riechen, aber nicht unmittelbar sehen konnte, einer Woche mit endlosen, unfassbaren TV-Bildschleifen, pervers-perfekten Kamerawinkeln, Großaufnahmen von flüchtenden Menschen, Aschewolken, Trümmerfeldern, Vogelperspektiven von einer verwüsteten Stadtlandschaft, wollte ich die Vergewaltigung meiner Stadt mit eigenen Augen sehen.

Die U-Bahnen fahren wieder, überspringen allerdings die Stationen rund um die Desaster-Zone. Seit Montag dürfen auch wieder Passanten in den Wall Street-Distrikt, allerdings nur auf die Ostseite, die nicht direkt von den Explosionen beschädigt wurde. Reinigungstrupps haben mit riesigen Staubsaugern und Wasserschläuchen die graue Ascheschicht aus den Straßenschluchten geputzt, Bürohochhäuser öffnen wieder ihre Tore, die Börsenticker rattern, im Kilearny Rose polieren die Barmänner Gläser und schieben Guinness über den Tresen.

Doch der Schein der Normalität trügt. Während links vom Broadway Männer in Business-Anzügen in ihre Büros stürmen, sitzen rechts Feuerwehrmänner erschöpft am Straßenrand. Ihre Jacken staubig, die Helme am Boden, Blicke gesenkt. Militärjeeps kurven durch die Gegend, Tieflader manovieren in den engen Häuserschluchten, Soldaten in Camouflage-Uniformen blockieren die Kreuzungen, vor der Börse patrouilliert die Nationalgarde. An der Ecke Liberty Street und Broadway dann der gesuchte Durchblick. Am anderen Ende der Strasse ragt ein silbergraues Stahlskelett etwa sieben Stockwerke in den Himmel, zwergenhaft gemessen an den umliegenden Gebäuden. Die oberen Kanten sind abgeknickt wie bei einem Model aus Staniolpapier. Vorn wühlt ein Bagger im Schutt. One Liberty Plaza, der schwarze Hochhausklotz zur Rechten, steht bedrohlich still. Es wurde beim Einsturz der Türme schwer beschädigt, doch die Hülle ist intakt.

An der Ecke haben sich Schaulustige versammelt. Fotoapparate klicken, Ferngläser werden herumgereicht. Der Katastrophentourismus hat begonnen. Doch die Wirklichkeit erweist sich als abstrakter als jedes Fernsehbild. Die zerfetzten Stelen, letzte Überbleibsel der kolossalen, endlos aufwärtsstrebenden Türme, wirken irgendwie falsch, wie ein Bühnenbild. Unmöglich, darin Spuren des vertrauten Postkartenmotivs wiederzuerkennen. Fast scheint es so, als hätte ein diabolischer Magier die rechte Hälfe Downtowns weggezaubert und durch einem Katastrophenfilmset ersetzt. Der Effekt wird nachts durch das dramatische Flutlicht sogar noch verstärkt. Die Scheinwerfer stammen tatsächlich aus den Geräteschuppen der New Yorker Filmproduktion.

Auch der Tod scheint auf den frischgekehrten Gehsteigen diesseits der Absperrung irgendwie abstrakt. So viele Menschen, urplötzlich, grausam und sinnlos aus dem Leben gerissen, pulverisiert ohne nennenswerte Spur. Die leeren Barstühle im Irish Pub sind trauriger anzusehen als die Ruine gegenüber. Die Leichen sind noch nicht geborgen, da sprechen die Leute schon vom Wiederaufbau. "Was immer sie niederreißen, werden wir wieder aufbauen" droht Philip Johnson. Und Terrence Riley, Architekturkurator am Museum of Modern Art, sagt: "Wenn wir erst mal über die Trauer hinweg sind, sollten wir erkennen, dass dies nicht unbedingt eine Niederlage ist, sondern vielleicht auch eine Chance wie in Chicago nach dem Brand in 1871, als sie Hochhäuser erfanden und damit weltweit die Art und Weise veränderten, wie Städte wuchsen. Wir sollten ein noch größeres, noch innovativeres Hochhaus dort hinbauen". Von acht bekannten Architekten, die die New York Times befragte, waren nur Elizabeth Diller und Ricardo Scofidio von Diller+Scofidio dagegen, "die Skyline zu flicken". Eine permanente Lücke wäre ihrer Meinung nach das stärkere Symbol: "Wir glauben, es wäre tragisch, die Auslöschung auszulöschen."

Aber kann Leere wirklich dauerhaft sinngebend sein? Daniel Liebeskind glaubte daran, als er das jüdische Museum in Berlin plante. Doch New York ist keine Stadt für langwierige Kontemplation. Hier werden Verluste übertüncht, die Vergangenheit begraben und verbaut. Visuelle Stille, die Abwesenheit der gewohnten Bilder, ein Loch in der Skyline, macht die Amerikaner nervös. Ich verlasse Ground Zero mit einem dumpfen, leeren Gefühl im Bauch.

Am nächsten Tag lese ich Richard Fords Gedanken zu dem Terroranschlag. Er beginnt sein Essay (siehe auch in der Zeit) im NYT-Magazin mit der schmerzhaft-detaillierten Beschreibung vom Tod seines Vaters vor 41 Jahren. Als 16jähriger findet er ihn eines Morgens röchelnd im Bett. Der Vater hat einen Herzanfall. Mutter und Sohn versuchen ihn zu retten. Vergeblich. "Von all diesen Erlebnissen, von den Gefühlen, von der Intimität, der Zeugenschaft, kann ich Ihnen natürlich nur erzählen, weil mein Vater nicht starb, indem ein Flugzeugjet durch sein Fenster flog und ihn ohne einen Gedanken ausradierte", schreibt Ford. "Leben zu stehlen, so rasch, gewaltsam, unpersönlich, sinnlos, unanständig, wie das Leben jener gestohlen wurde, verwirrt nicht nur deren letzte Momente, es droht uns alle zu überwältigen. Kostbares Leben ist dazu verdammt, unreflektiert zu erscheinen für diejenigen von uns, die hier zurückbleiben, diejenigen, in denen sich das Leben doch wiederspiegeln, auszeichnen muss, sonst ist alles verloren."