Magazinrundschau

Ich will meinen Sohn

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
05.03.2024. Der New Yorker erzählt die Geschichte von 43 verschwundenen mexikanischen Studenten. Wer braucht noch NSA-Spionage, wenn die Tech-Riesen Informationen über quasi jedermann verkaufen, fragt Wired. In The Atlantic erklärt Franklin Foer, wie der Vorwurf des Privilegs die Basis für den modernen linken Antisemitismus schuf. In der LRB wirft Pankaj Mishra den Israelis vor, nicht nur das internationale Recht, sondern gleich noch den Universalismus zu zerbomben. Aktualne erinnert an Bedrich Smetana, der vor 200 Jahren starb. New Lines analysiert den Anschlag auf die Gedenkfeier für Qassem Soleimani im iranischen Kerman.

New Yorker (USA), 11.03.2024

Zehn Jahre ist es her, dass 43 Studenten eines ländlichen Colleges in Mexiko verschwanden. Acht Jahre dauerte es, bis einzelne mexikanische Ermittler, ein Ermittlungstrupp aus Argentinien und eine Gruppe internationaler Experten (GIEI), ungefähr zusammengepuzzelt hatten, was damals geschehen war (offenbar hatten Polizisten und eine Drogenbande mit Wissen des Militärs die Studenten ermordet und verbrannt). Die Verantwortlichen wurden niemals bestraft, berichtet Alma Guillermoprieto in ihrer Reportage. Was bleibt, ist das Leid der Familien: "Sechs Jahre nach dem Massaker erhielten Clemente Rodríguez und seine Frau Luz María Telumbre in ihrem Haus in Tixtla Besuch von [den mexikanischen Ermittlern] Gómez Trejo, Encinas und zwei Mitgliedern des Centro Prodh. Die Gruppe informierte sie über ein zwei Zentimeter großes Knochenfragment, das Gómez Trejos Team in einer trockenen Rinne gefunden hatte. Das argentinische Team hatte bestätigt, dass die aus dem Fragment gewonnene DNA zu Christian Rodríguez Telumbre gehörte, eine von nur drei positiven Identifizierungen, die in all der Zeit gemacht wurden. 'Wir haben versucht, dem Ereignis eine gewisse Würde und einen Sinn für Zeremonien zu verleihen', sagte mir Gómez Trejo über den Besuch. Aber es war hoffnungslos, einen Zwanzigjährigen, der fröhlich durch das Haus seiner Eltern hüpfte und Schritte aus den Folkloretänzen übte, nach denen er verrückt war, durch ein gebrochenes Stück Knochen zu ersetzen. Als ich Doña Luz María im letzten Frühjahr in Mexiko-Stadt zu Beginn eines Elternmarsches traf, fragte ich sie nach diesem Moment. Sie ist eine hübsche Frau mit einer leichten, liebevollen Art, aber ihre Stimme konnte den scharfen Ton nicht verbergen, als sie antwortete. 'Ich bedankte mich', erzählte sie mir, 'und fragte, von welchem Körperteil dieser Huesito' - ein kleiner Knochen - 'stamme'. Man teilte ihr mit, dass es ein Teil von Christians rechtem Fuß sei. 'Aber ich habe schon Leute gesehen, die einen Fuß verloren haben und noch leben', sagte sie, ohne ihre Stimme zu erheben. 'Ich bin nicht zufrieden. Ich will meinen Sohn.'"
Archiv: New Yorker
Stichwörter: Mexiko

Wired (USA), 27.02.2024

Im Zuge der NSA-Enthüllungen vor nun auch schon wieder über zehn Jahren verschlüsselten viele Kommunikationsanbieter ihre Angebote und Apps zum Schutz der Privatsphäre ihrer Kunden. Schön und gut, aber mit den Smartphones in unseren Taschen hat sich das im Grunde auch schon wieder erledigt, schreibt Byron Tau. Zumindest gilt dies, wenn man die Standortübermittlung aktiviert hat und durch Werbeeinblendungen finanzierte Apps nutzt, die auf diesen Standort zugreifen können. Das ist bei den meisten Dating-Apps üblich ist - aber auch bei ganz normalen Wetter-Apps. Anhand dieser nur vorderhand anonymisierten Daten lassen sich jedoch komplexe Nutzerprofile erstellen, die zahlreiche, de facto entanonymsierte Rückschlüsse gestatten - bis hin zum Privatadresse, persönlichen Netzwerken und (nicht nur, aber auch sexuellen) Vorlieben. Und der Clou: Da Werbe-Einblendungen innerhalb von Sekundenbruchteilen digital "versteigert" werden, haben auch jene Anbieter Zugriff auf diese Daten, deren Werbung am Ende doch nicht eingeblendet wird. "Die größten amerikanischen Firmen haben Milliarden von Dollars in dieses System fließen lassen. Angesichts eines kommerziell erhältlichen Silos mit derart angereicherten und detaillierten Daten, haben auch die Regierungen dieser Welt ihre Geldbeutel geöffnet, um diese Informationen über quasi jedermann einzukaufen, anstatt sie sich mit Hackermethoden oder über geheime Gerichtsbeschlüsse zu erarbeiten. ... Nachdem es ein Datenset aus Russland gekauft hatte, bemerkte ein Team, dass sie damit Telefone in der Entourage des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin tracken konnten. Die Handys bewegten sich überall dorthin, wo sich auch Putin hinbewegte. Sie schlossen, dass die fraglichen Geräte nicht Putin selbst gehörten; die russische Staatssicherheit und die Spionageabwehr waren klüger als das. Stattdessen gingen sie davon aus, dass sie Putins Fahrern, seinem Sicherheitspersonal, politischen Weggefährten und anderem Personal rund um den russischen Präsidenten gehörten. Die Handys dieser Leute waren über Werbedaten verfolgbar." Doch "nichts davon ist nur eine abstrakte Sorge", denn "die Chancen liegen gut, dass es auch über Ihre Bewegungsmuster ein detailliertes Log gibt, das abgesaugt und in einer Datenbank hinterlegt ist, auf die zehntausende Fremde Zugriff haben. Darunter Geheimdienste. Darunter ausländische Regierungen. Darunter Privatdetektive. Darunter sogar schnüffelnde Journalisten."

Außerdem: Lauren Goode spricht mit Jensen Huang, dem Geschäftsführer des Chipherstellers Nvidia, der die KI-Revolution mit seiner Rechenpower maßgeblich befeuert. Der russische Journalist Vadim Smyslov erzählt von seinem einjährigen Exil nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, von seiner Rückkehr nach Hause - und seinem erneuten Weg ins Exil. Hemal Jhaveri porträtiert den Schauspieler Javier Bardem, der aktuell in "Dune: Teil 2" (unsere Kritik) zu sehen ist.
Archiv: Wired

Elet es Irodalom (Ungarn), 01.03.2024

Im Interview mit J.A. Tillmann spricht der Komponist Kristóf J. Weber über sein Romandebüt "Walzer" und erklärt, warum er sich nicht als Eindringling in die Literatur betrachtet: "Mit dem Roman habe ich versucht, auf meine Musik aufmerksam zu machen. Heutzutage erhalten die Nutzer Musik in Form eines Live-Konzerts oder einer Audiodatei. Aber ich bin kein Instrumentalist, und das wenige Wissen, das ich einst hatte, scheint mit dem Alter ebenfalls zu schwinden. Musik existiert hauptsächlich in meinem Kopf. Einige dieser Gedanken können mit Noten niedergeschrieben werden, andere mit Buchstaben. Vielleicht wäre es angemessen gewesen, einen Essay über meine Musik zu schreiben, aber der Essay ist für mich ein zu weit gefasstes Genre, und mir fehlen die Kniffe, um voranzukommen. (…) Mit einem Roman kann ich ein breiteres Publikum ansprechen als mit einer Essayreihe. (...) Die ungarische Literatur könnte gerade jetzt ein paar Eindringlinge gebrauchen. Schließlich ist die Literatur heute wegen der Kulturpolitik der Regierung in der Defensive. Gegenwärtig schreiben die Schriftsteller fast ausschließlich für sich selbst. Wenn es keinen Einfluss von außen gibt, wird die ungarische Literatur zu einer Subkultur, die sich auf ein eng begrenztes soziales Milieu beschränkt."

The Atlantic (USA), 01.04.2024

Franklin Foer legt die bisher beste Analyse des neuen Antisemitismus vor, der sich in seiner Obszönität nach dem 7. Oktober offenbarte, aber eine längere Vorgeschichte hat. In seinem Artikel erzählt Foer zunächst vom "Goldenen Zeitalter" jüdischen Lebens in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem die Juden die Champions des klassischen amerikanischen "Liberalism" waren. Der Wind drehte sich nach dem 11. September - und stärkte in Amerika sowohl den rechten als auch den linken Antisemitismus. Während die extreme Rechte in Amerika George Soros als Vogelscheuche herrichteten, um damit ihr Märchen vom "Großen Austausch" zu illustrieren, brach die Linke zusehends mit den Ideen des "Liberalism", der eine Harmonie zwischen den Minderheiten anstrebte und sich etwa im jüdischen Engagement für Martin Luther Kings Bürgerrechtskampf manifestierte. Foers Essay ist ausgedruckt über dreißig Seiten lang und hat viele Aspekte. Unter anderem kommt er auch dem antisemitischen Kern des "intersektionalen" Denkens auf die Spur: "Nazideutschland schloss Juden endgültig aus einer Kategorie aus, die wir heute 'weiß' nennen. Heute werden Juden in Teilen der Linken als der Inbegriff des Weißseins behandelt. Aber jede Analyse, die sich so unerbittlich auf die Rolle eines Privilegs konzentriert, wie es die Linke tut, ist gefährlich blind für den Antisemitismus, weil Antisemitismus selbst eine angebliche Privilegiertheit anprangert. Eine solche Theorie sieht den Juden als eine allmächtige Figur in der Gesellschaft, eine Position, die er sich angeblich mit hinterhältigen Mitteln erworben hat. In den Annalen der jüdischen Geschichte ist der Vorwurf der Privilegiertheit die Grundlage für Hass, das Zündholz für Pogrome. Aber die Universitäten haben diese Lektion aus der Vergangenheit zu oft ignoriert."
Archiv: The Atlantic

London Review of Books (UK), 07.03.2024

Pankaj Mishra rekonstruiert die Geschichte der Erinnerung an die Shoah, die aus seiner Sicht vor allem durch eine zunehmende ideologische Indienstnahme durch israelisches Regierungshandeln bestimmt ist. Im Zuge des Gaza-Kriegs droht nun, meint er, die Fähigkeit, Geschichte darzustellen, selbst zerstört zu werden. "All diese universalistischen Referenzpunkte - die Shoah als Maßstab aller Verbrechen, Antisemitismus als die tödlichste Form der Bigotterie - drohen zu verschwinden, während das israelische Militär die Palästinenser massakriert und aushungert, ihre Häuser, Schulen, Krankenhäuser, Moscheen, Kirchen stürmt, in immer kleinere Bestandteile zerbombt, während das Land alle, die um Zurückhaltung bitten, von den Vereinten Nationen, Amnesty International und Human Rights Watch über die Regierungen Spaniens, Irlands, Brasiliens und Südafrikas bis zum Vatikan, als Antisemiten und Hamas-Unterstützer verunglimpft. Israel legt derzeit die Grundlagen der globalen Normen, die nach 1945 entstanden sind, in Schutt und Asche, nachdem diese schon durch den immer noch ungesühnten War on Terror und Wladimir Putins revanchistischen Krieg in der Ukraine beschädigt worden waren. Der heftige Bruch, den wir heute zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart fühlen, ist ein Bruch in der moralischen Geschichte der Welt nach ihrem Ground Zero im Jahr 1945 - eine Geschichte, in der die Shoah viele Jahre lang ein zentraler Referenzpunkt war." Was Mishra in den 7498 Worten seines Aufsatzes nicht unterbringt: einen einzigen Satz, der den Palästinensern oder ihren arabischen, türkischen und iranischen Unterstützern auch nur irgendeine Form von Handlungsmacht zugesteht.

Tablet (USA), 27.02.2024

Dass amerikanische Universitäten zu Hotspots antiisraelischer Agitation wurden, ist kein Zufall, erzählt Neetu Arnold. Viele Unis leben geradezu davon, dass sie Studenten aus dem "globalen Süden" aufnehmen, deren Studiengebühren von den entsendenden Staaten übernommen werden. Dass die Staaten der arabischen Halbinsel da eine besonders großzügige Geberrolle spielen, dürfte niemanden erstaunen. Von den Studenten verlangen diese Staaten Wohlverhalten und spionieren sie aus. Aber auch "chinesische Studenten werden häufig zum Schweigen gebracht, sowohl von der chinesischen Regierung als auch von ihren eigenen Eltern, wenn sie die Regierungspolitik kritisieren, wie zum Beispiel die autoritären Lockdowns Chinas während der Covid-Pandemie. Selbst in dem verschwindend seltenen Fall, dass Universitäten versuchen, ein Umfeld der akademischen Freiheit und der freien Meinungsäußerung auf dem Campus zu kultivieren, wird dies nie vollständig auf geförderte internationale Studenten aus Ländern mit autoritären Regierungen zutreffen. In vielerlei Hinsicht wird dadurch der Hauptzweck der Präsenz von internationalen Studenten auf amerikanischen Universitäten zunichte gemacht: der freie und offene kulturelle Austausch zwischen ihnen und amerikanischen Studenten."
Archiv: Tablet

Internationale Politik (Deutschland), 01.03.2024

Die Muster des aktuellen, als Antizionismus verkappten Antisemitismus reichen weit zurück - bis in die Zeit des Schwenks der Sowjetunion gegenüber Israel in der späten Phase des Stalinismus. Antisemitismus von links ist seitdem virulent. Eine besondere Rolle spielte dabei auch nach dem Krieg noch der einst von Hitler und Himmler hofierte Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, der von ganz weit rechts bis ganz weit links ging, ohne sich einen Zentimeter zu bewegen. Thomas Schmid erzählt in seinem  Essay über den "weltweiten Durchbruch des Antizionismus" (online in seinem Blog), wie al-Husseini 1955 bei der Gründung der Bewegung der blockfreien Staaten in der Bandung-Konferenz 1955 den Ton setzte: "Anders als Israel war der gar nicht eingeladene al-Husseini ein gern gesehener Gast auf der Konferenz. Wie alle anderen arabischen Teilnehmer hielt er eine antiisraelische und antijüdische Brandrede, in der er behauptete, in Wahrheit wollten die Zionisten ein riesiges Reich errichten, das Jordanien, Syrien, Libanon, den Sinai, den Irak und das ägyptische Delta umfassen sollte. Die Konferenz huldigte al-Husseini als einem Vorkämpfer der Dekolonisation. Fotos zeigen ihn in vertrautem Gedankenaustausch mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Zhou Enlai, dem großen Star der Konferenz. Oder, auf dem Boden sitzend, beim Gebet mit Ägyptens Staatspräsident Gamal Abdel Nasser und König Faisal von Saudi-Arabien. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Brückenschlag zwischen den Blockfreien Staaten und den geradezu mythisch überhöhten Palästinensern vollzogen. Israel galt fortan zumindest als Störenfried, meist aber als im Grunde illegitimer Staat, der zu verschwinden habe. Weder die Blockfreien noch die in den Vereinten Nationen versammelte Weltgemeinschaft standen dem Staat Israel bei, im Gegenteil. Ein Einvernehmen der Blockfreien und der arabischen Welt mit dem Westen war nun nicht mehr möglich."

Aktualne (Tschechien), 02.03.2024

Anlässlich des 200. Geburtstags des tschechischen Komponisten Bedřich Smetana unterhält sich Petr Kořínek mit dem Musikwissenschaftler und Pilsner Operndramaturgen Vojtěch Frank über den Menschen Smetana hinter dem Mythos des Nationalkomponisten, dem vor allem mit seinen Werken "Mein Vaterland" und "Die Moldau" immer das typisch Tschechische anhaftete und der nie ganz dieselbe internationale Reichweite erlangte wie Dvořák. Dabei sei Smetanas Schaffen von Anfang an auch von Franz Liszt beeinflusst gewesen, und in Werken wie der symphonischen Dichtung "Hakon Jarl" oder dem Klavierwerk "Am Seegestade" zeigten sich nach seinen in Schweden verbrachten Jahren auch nordische Einflüsse, so Vojtěch Frank. Zwar in tschechischer Familie aufgewachsen, war Smetanas Erziehung in der K.-u.K.-Monarchie deutschsprachig gewesen, sodass er sein Tschechisch erst später perfektioniert habe. Vor allem im Revolutionsjahr 1848 habe er sich dann mit den Gedanken der tschechischen Emanzipationsbewegung identifiziert. Musikalisch habe er Liszts' damals sehr progressiven, modernen Stil auf tschechische Inhalte angewandt. "Wenn wir von dem 'typisch Tschechischen' in Smetanas Musik sprechen", so Frank, "ist dabei interessant, dass er eigentlich nie in irgendeinen banalen Patriotismus abrutschte. (…) Zwar gehen seine Melodien oft von der traditionellen Volksmusik aus, bleiben aber nicht bei einer schlichten Aneignung, sondern transportieren sie auf kunstvolle Weise auf eine höhere Ebene." Nie sei er in Kitsch und Pathos abgeglitten. Wer über die bekannten Orchesterwerke und Opern hinaus etwas von Smetana kennenlernen will, dem legt Vojtěch Frank vor allem Smetanas Kammermusik - seine Streichquartette und das Klaviertrio - ans Herz.
Archiv: Aktualne

Eurozine (Österreich), 05.03.2024

Lily Hyde weist auf die gefährliche Situation von ukrainischen Flüchtlingen mit einer HIV-Erkrankung hin. Gerade in Polen, wo zur Zeit einhundertausend Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine registriert sind, wird die Krankheit immer noch totgeschwiegen, so Hyde:  "Es gibt keine Präventionsprogramme für Bevölkerungsgruppen mit erhöhtem Infektionsrisiko, wie Drogenkonsumenten oder schwule Männer, und die Krankheit ist stark stigmatisiert. Nur vier Menschen in Polen haben sich jemals öffentlich in den Medien als HIV-Infizierte geoutet." Das erschwert den Zugang zu Medikamenten und lässt die Menschen zögern, sich Hilfe zu suchen. Für die ukrainische Aktivistin Anna Aryabinska die sich seit Jahrzehnten für HIV-Aufklärung und Toleranz einsetzt, war das ein Schock, erzählt Hyde. Aryabinska ist selbst HIV-positiv und unterstützt Betroffene in Polen: "Laut der Direktorin der NGO 'Fundacja Edukacji Społecznej' Magdalena Ankiersztejn-Bartczak sind viele der Ukrainer, die jetzt in Polen mit der Behandlung beginnen, Späteinlieferer, die sich an Ärzte wenden, wenn die HIV-Infektion bereits fortgeschritten ist und viele gesundheitliche Komplikationen verursacht."
Archiv: Eurozine
Stichwörter: HIV, Ukraine-Krieg, Polen

HVG (Ungarn), 03.03.2024

Nach dem Rücktritt der Staatspräsidentin Katalin Novák wurde eine Demonstration in der Budapester Innenstadt von Influencern organisiert, die gleich noch Berichterstattung, Analyse und Kritik der Veranstaltung mitlieferten. Das Engagement ist ja sehr schön, aber die Journalistin Boróka Parászka hat trotzdem Bauchschmerzen angesichts dieser Mischung aus Aktionismus und Journalismus: "Die ungarische Presse hat in den letzten anderthalb Jahrzehnten viel Drama und Tragik erlebt. Es ist ein Wunder, dass es sie noch gibt. Es herrscht ein harter Wettbewerb um jeden Pfennig. Unter diesen Umständen kann man es einigen Mitgliedern der unabhängigen Presse kaum verübeln, dass sie das Ideal einer freien Presse auf dem Altar der Spenden für die Einschaltquoten opfern (...) Warum bewahren die Medien, die für private Subventionen anfällig sind, aber sich nicht offen zu ihrem Geschäftsmodell und ihren Gewinnzielen bekennen, den Anschein eines öffentlichen Dienstes in einem Land, in dem die vom Markt lebenden Medien durch den Entzug staatlicher Mittel oder Anzeigen in die Enge getrieben werden und es keine öffentlich-rechtliche Medien gibt? Es gibt eine Subsistenz-Opposition in Ungarn - das haben wir schon oft gehört. Was wir nicht so oft gehört haben, ist, dass es Medien gibt, die ihren Lebensunterhalt zwar außerhalb des Gravitationsfeldes der Regierung verdienen, aber trotz der besten Absichten ihrer Macher Subsistenz-Medien sind. Sie leben von der politischen Show. Sie haben die gehobene Absicht, objektiv und demokratisch zu informieren, aber in Wirklichkeit liefern sie nur das absolute Minimum an Fakten und Nachrichten. Sie paaren Meinungsjournalismus mit Meinungspolitik, Zirkus mit Zirkus. Und helfen so den Machthabern, die Menschen glauben zu machen, dass alle Medien so sind."
Archiv: HVG
Stichwörter: Ungarn, Ungarische Presse, Zirkus

Projekt (Russland), 22.02.2024

Ekaterina Reznikova und Alexey Korostelev dokumentieren, wie viele Russen unter Putin im Rahmen des Strafrechts angeklagt und verurteilt worden sind. "Die Art und Weise, wie die Strafverfolgungsbehörden, insbesondere der FSB, den Paragrafen 'Terrorismus' zur Bekämpfung des inneren Feindes verwenden, wird durch die Geschichte des Terroranschlags in Archangelsk anschaulich illustriert. Am 31. November 2018 trug der 17-jährige Student und Anarchist Mikhail Zhlobitsky eine Bombe in die regionale Zentrale des FSB in der Region Archangelsk und sprengte sich in die Luft. Drei FSB-Beamte wurden verwundet, der Student selbst starb auf der Stelle. (...) Nach der Explosion schwappte eine Welle der Repression gegen diejenigen, die mit Zhlobitsky sympathisierten, - entweder in Wirklichkeit oder nur nach Angaben des FSB - über das Land (und hält immer noch an). Eine der bekanntesten Episoden ist das Strafverfahren nach Paragraf 205.2 des Strafgesetzbuches gegen die Journalistin Swetlana Prokopjewa aus Pskow, das im Februar 2019 nach ihrer Rede im Moskauer Echo und der Veröffentlichung eines Artikels auf der Website von Pskowskaja Lenta Nowostey eingeleitet wurde. Das Gericht hat entschieden, dass Prokopjewa die Handlungen von Schlobitzki gerechtfertigt hat, unter anderem mit dem Satz 'der FSB ist aus dem Rahmen gefallen' (...). Am Ende wurde Prokopjewa nur zu einer Geldstrafe von einer halben Million Rubel verurteilt, möglicherweise aufgrund einer breit angelegten Kampagne zu ihrer Unterstützung. Nach den Berechnungen von Projekt wurden seit 2018 landesweit 105 Personen in der einen oder anderen Form wegen des Terroranschlags auf das FSB-Hauptquartier in Archangelsk verfolgt. Die meisten von ihnen wurden nach dem Strafrecht verurteilt." Projekt kommt am Ende zum eindeutigen Schluss: "In Sachen Repression hat Putin längst fast alle sowjetischen Generalsekretäre überflügelt, mit einer Ausnahme - Josef Stalin."
Archiv: Projekt
Stichwörter: Russland

New Lines Magazine (USA), 05.03.2024

Der deutsch-iranische Politikwissenschaftler Ali Fathollah-Nejad beleuchtet die Details der iranischen Regime-Propaganda nach dem Anschlag in der Stadt Kerman am 3. Januar 2024. Innerhalb eines Tages bekannte sich der IS zu dem Attentat, bei dem während der Gedenkfeier für Qassem Soleimani, der als Offizier einer Abteilung der Islamischen Revolutionsgarden vorstand, mehr als 90 Menschen starben und über zweihundert verletzt wurden. Das Regime machte stattdessen Israel und die USA verantwortlich und "argumentierte, dass die Erklärung unter der Leitung von Zionisten herausgegeben wurde'". Fathollah-Nejad legt dar, dass diese Behauptungen unhaltbar sind und hat stattdessen einen anderen Verdacht: "Die im Vorfeld der Soleimani-Gedenkfeier festgestellten Sicherheitsrisiken lassen ernsthafte Zweifel an der Darstellung des Regimes aufkommen. Die staatsnahe iranische Studenten-Nachrichtenagentur veröffentlichte einen Artikel - den sie eine Stunde später wieder löschte -, in dem sie den Staatsanwalt von Kerman zitierte, der erklärte, Sicherheitskräfte hätten im Vorfeld der Feierlichkeiten eine Autobombe und 16 weitere Bomben entdeckt. 'Verschiedene Gruppen, einschließlich des IS und der Heuchler' hätten 'etwas unternehmen wollen'... Er sagte auch, dass später zwei weitere Attentäter später verhaftet wurden, mit Selbstmordwesten, die für 'einen weiteren Anschlag bei der Trauerfeier für die Märtyrer des Attentats' in Kerman gedacht waren. Mit anderen Worten: Obwohl die Sicherheitskräfte eindeutig über das extrem hohe Risiko von Bombenanschlägen am Vorabend der Zeremonie zu Ehren des verstorbenen Soleimani informiert waren, wurde diese nicht abgesagt. Dies könnte erklären, warum hochrangige Vertreter des Regimes letztendlich nicht daran teilnahmen. Es stellt sich auch die Frage, warum die Anschläge trotz der erhöhten Sicherheitsvorkehrungen nicht von den Sicherheitskräften abgewehrt werden konnten... In der Zwischenzeit fragen sich viele Iraner innerhalb und außerhalb des Landes, ob vielleicht das Regime selbst dafür verantwortlich war. Nach dem Bombenanschlag tauchten in mehreren iranischen Städten Videos auf, auf denen zu sehen war, wie Menschen Soleimani-Plakate und andere Schilder im öffentlichen Raum zerstörten - eine wichtige Erinnerung daran, dass entgegen der Darstellung der Islamischen Republik nicht alle Iraner ihn als Nationalhelden verehren."