Magazinrundschau

Zweifel über den Fortbestand des Menschlichen

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
14.11.2023. Eurozine und La regle du jeu blicken auf das Grauen des Krieges in der Ukraine und in Israel. Im New Yorker erklärt der Psychoanalytiker Robert Jay Lifton, was Überlebende großer Katastrophen auszeichnet. n+1 versammelt Stimmen der postkolonialen Linken zum Gazakrieg. Der New Statesman denkt über Friedenspläne nach. Der ehemalige Selenski-Berater Oleksij Arestowytsch erklärt in Meduza: Die Putins kommen und gehen, aber Russland wird bleiben. Die London Review erzählt, wie der Ghanaer Blay-Miezahdas Mysterium Afrikas in Gold verwandelt.

Eurozine (Österreich), 14.11.2023

"Horror", seit einiger Zeit geistert Stanislav Aseyev das berühmte letzten Worte des Colonel Kurtz aus Coppolas Film "Apocalypse now" im Kopf herum. Mit dem Krieg in der Ukraine hat dieser Begriff für Aseyev eine neue Dimension bekommen, inkorporiert wird er von der Wagner-Gruppe, schreibt er: "Das 'Einzigartige' an der Wagner-Gruppe ist, dass sie - anders als der russische Staat - ihre Grausamkeiten nicht versteckt, sondern sie anpreist und zu einem Kult macht. Dieser Kult des Grauens sorgt nicht nur für eiserne Disziplin innerhalb einer Struktur, die aus Tausenden von Kriminellen besteht, die wegen besonders gewalttätiger Verbrechen verurteilt wurden, er erzeugt auch Angst beim externen Zuschauer. "Horror" ist für Aseyev das einzig adäquate Wort, um zu beschreiben, was er im Krieg in der Ukraine selbst gesehen hat. "Ich erinnere mich, dass ich mit meiner Territorialverteidigungseinheit nach Bucha ging. Unsere Abteilung hatte sich nicht an den Kämpfen beteiligt und wir kamen am sechsten Tag nach dem Abzug der Russen in die Stadt. Wir wussten bereits von dem Massenmord an der Zivilbevölkerung, unzählige Journalisten aus aller Welt standen um die Kirche herum: Die Leichen wurden exhumiert. Wir beschlossen, einige Seitenstraßen hinunterzufahren, weil ein Einheimischer sagte, er habe dort einen Haufen verbrannter Leichen gesehen. Tatsächlich stießen wir in der Staroiablonska-Straße, die die ganze Welt kennt, auf die Überreste des Brandes zwischen einigen kleinen Häusern. Wir konnten nicht mit Sicherheit sagen, wie viele Menschen dort lagen - ich persönlich zählte vier. Eine der Leichen war in zwei Hälften zerrissen, und ein paar Meter weiter fanden wir ein verbranntes Bein, das die hungrigen einheimischen Hunde, die von ihren Besitzern bei der Evakuierung zurückgelassen worden waren, abgeknabbert hatten. Die Russen haben die Leichen einfach aufgestapelt und angezündet. Wenn man nur zehn Meter entfernt stand, sahen sie aus wie ein Haufen gewöhnlicher Abfälle, den jemand in seinem Garten verbrannt hatte. Und genau das war es zum Teil auch: Die verkohlten Leichen lagen neben Bauschutt. Die Menschen, die das getan haben, wollten damit - ob bewusst oder unbewusst - zeigen, dass menschliches Leben für sie nicht mehr bedeutet als Dreck."
Archiv: Eurozine

The Insider (Russland), 07.11.2023

Die Ukraine ist zum größten Minenfeld der Welt geworden, schreibt die Journalistin Victoria Ponomareva. So müssen ungefähr 30 Prozent der Fläche des Landes entmint werden. "Die Räumung eines so großen Gebietes wird ein langwieriges Unterfangen sein. Die Analysten des GLOBSEC-Zentrums gehen davon aus, dass die vollständige Entminung beim derzeitigen Tempo über 750 Jahre dauern könnte, während die ukrainische Wirtschaftsministerin Yulia Sviridenko einen optimistischeren Zeitrahmen von etwa 70 Jahren veranschlagt. Selbst bei den günstigsten Prognosen wird es Jahrzehnte dauern, bis das ukrainische Hoheitsgebiet für seine Bewohner völlig sicher ist." Es wird vor allem zu einer Herausforderung, weil Russland weiterhin Bomben legt, die nicht direkt als solche zu erkennen sind, erfährt Ponomareva von einem Mitglied eines Entminungs-Teams. "'Die russische Armee bringt verschiedene improvisierte Sprengfallen in Wohnhäusern, Wohnungen und auf Privatgrundstücken an. Sie können an Türen, in Waschmaschinen, Kühlschränken, Kinderspielzeug, Kinderbetten und verschiedenen Haushaltsgegenständen entdeckt werden. In einigen Fällen wurden sogar Küchengeräte manipuliert. Diese Vorrichtungen sollen explodieren, wenn jemand sie öffnet oder bewegt. Sogar Haustiere wurden mit Sprengfallen versehen, die zu deren Tod führen oder als 'Überraschung' dienen. Das alles ist strategisch geplant, in der Annahme, dass die Besitzer zurückkehren, um ihre Hunde oder Katzen abzuholen - und dann kommt es zu den Explosionen.'"
Archiv: The Insider
Stichwörter: Ukraine, Minen

La regle du jeu (Frankreich), 14.11.2023

Wie kann es nach dem Trauma des 7. Oktobers für Israel weitergehen, fragt der 1997 geborene französische Publizist Nathan Devers. Israel, das Juden in aller Welt Schutz versprach, wurde an diesem Tag mit der Möglichkeit seines Scheiterns konfrontiert, "das heißt mit seinem Tod", lernt er vor Ort von dem Rabbiner Benjamin Malka: "Malka ist an verstümmelte Leichen gewöhnt, da es gerade seine Aufgabe ist, die Leichen von Natur- oder von Menschen verursachten Katastrophen zu sammeln. Doch seine Stimme wird immer dunkler und sein Blick immer tiefer. In Nova haben die Terroristen die 'schönen' Frauen von den anderen getrennt. Sie vergewaltigten sie massenhaft, bevor sie auf sie kotzten und sie bei lebendigem Leibe in Stücke rissen. Die Krankenwagen, die vom Festival kamen, enthielten keine 'Leichen', sondern Teile von Beinen, abgetrennte Hände, zerfetzte Oberkörper, abgetrennte Brüste, hervorquellende Augen und abgerissene Gesichter." Seitdem, stellt Devers in Gesprächen mit Israelis vor Ort fest, gibt es etliche, die ihre politische Haltung völlig geändert haben, die ihre Überzeugungen hinterfragen. Absolute "Netanjahu-Fanatiker" wollen ihren Ministerpräsidenten seit dem 7. Oktober "im Gefängnis sehen und von der Notwendigkeit eines endgültigen Friedens mit Palästina sprechen ... Umgekehrt werde ich in den nächsten Tagen im Parlament einen Israeli, einen ehemaligen Likud-Anhänger, treffen, der mir die entgegengesetzte Rede halten wird: 'Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, für Toleranz zu kämpfen. Ich bin mit Palästinensern auf Demonstrationen gegangen, habe mich leidenschaftlich für das Zusammenleben, für eine Zwei-Staaten-Lösung und gegen den Siedlungsbau im Westjordanland eingesetzt. Aber jetzt, seit dem Schwarzen Samstag, glaube ich nicht mehr daran. Papperlapapp, diese Ideale des Dialogs. Die Realität geht nicht in diese Richtung. Wir haben uns 2005 aus Gaza zurückgezogen, in der Überzeugung, dass dieses Gebiet das Singapur der Palästinenser werden würde - das ist das Ergebnis! Was wäre passiert, wenn wir uns aus dem Westjordanland zurückgezogen hätten? Ich habe den Glauben an die Koexistenz verloren. Um ehrlich zu sein, ich glaube an nichts mehr, außer an das Überleben.'"
Archiv: La regle du jeu
Stichwörter: Israel, Hamas, Palästina, 7. Oktober

New Yorker (USA), 20.11.2023

Masha Gessen interviewt den Psychiater und Psychoanalytiker Robert Jay Lifton, geboren 1926, der zu psychologischen Strukturen des Totalitären, zur Psyche der Nazi-Täter und zu den Auswirkungen der Atombomben geforscht hat. In seiner Arbeit hat sich Lifton viel mit dem Begriff des "Überlebenden" befasst: "Ich mache einen Unterschied zwischen dem hilflosen Opfer und dem Überlebenden als Akteur der Veränderung. Am Ende meines Buches über Hiroshima habe ich der Beschreibung des Überlebenden ein langes Kapitel gewidmet. Überlebende großer Katastrophen sind sehr besonders. Sie haben Zweifel über den Fortbestand des Menschlichen. Überlebende eines schmerzhaften Verlusts von Familienmitgliedern oder nahestehenden Menschen eint das Bedürfnis, diesem Überleben eine Bedeutung zu geben. Menschen können behaupten, Überlebende zu sein, selbst, wenn sie es nicht sind; Überlebende selbst lassen ihre Frustration manchmal an ihrem Umfeld aus. Es gibt alle möglichen Probleme mit den Überlebenden. Und trotzdem, sie haben ein bestimmtes Wissen dadurch, was sie erlebt haben und andere nicht. Überlebende haben mich überrascht, indem sie Dinge gesagt haben wie 'Auschwitz war scheußlich, aber ich bin froh über diese Erfahrung.' Ich war erstaunt, diese Dinge zu hören. Natürlich haben sie damit nicht gemeint, dass sie es genossen haben. Aber sie haben versucht zu sagen, dass sie realisiert haben, dass sie einen Wert und eine Wichtigkeit durch die Dinge haben, die sie durchlebt haben. Und das habe ich dann als Überlebensmacht oder Überlebensweisheit bezeichnet."
Archiv: New Yorker

n+1 (USA), 14.11.2023

Einen ganz guten Überblick über die Ansichten der postkolonialen Linken zum Krieg in Gaza bekommt man bei n+1: Für Jaskiran Dhillon lässt sich das "völkermörderische Projekt des Siedlerkolonialismus" in Gaza "in Aktion erleben - eines, das eng mit ähnlichen Kämpfen gegen Unterdrückung und gewaltsame Landbesetzung in der ganzen Welt verbunden ist. Am besten schließe ich meinen Beitrag mit den Worten der indigenen Aktivistin und Schriftstellerin Winona Laduke, die uns eindringlich daran erinnert, dass 'wir nicht über Israel sprechen können, weil wir nicht über Wounded Knee sprechen können. Weil wir nicht über Sand Creek oder die Carlisle Internatsschule" sprechen können. Weil wir nicht über Zwangssterilisationen oder Pockendecken oder Kit Carlson und seine Politik der verbrannten Erde im Südwesten sprechen können. Weil wir Andrew Jackson auf unserem Zwanzig-Dollar-Schein haben. Weil wir eine einzige riesige Siedlung auf gestohlenem Land sind.'"

Hadeel Assali bemerkt bitter, dass die Hamas von den USA natürlich als Terrorgruppe eingestuft wird, obwohl sie "ein integraler Bestandteil der palästinensischen Gesellschaft ist - und das nicht nur im Gazastreifen", weshalb der Krieg der Israelis keiner gegen die Hamas sei, sondern gegen die Palästinenser und gegen alle Schwarzen. Die amerikanischen Medien und die Gesellschaft würden das nicht verstehen, obwohl sie involviert seien: "Ein Teil des Problems besteht darin, dass es in diesem Land [den USA] keine Antikriegsbewegung gibt. Sind sich die Amerikaner so wenig bewusst, dass die US-Kriegsmaschinerie in Somalia, im Sudan, in Afghanistan und im Irak Millionen von Menschen getötet hat - zu viele, um sie aufzuzählen? Vielleicht liegt es daran, dass die Kriege anderswo stattfinden, aber dieselben Waffen werden von der hochmilitarisierten Polizei und in Form von Massenerschießungen auch gegen unsere eigenen schwarzen Gemeinschaften eingesetzt. Ein afghanischer Freund erinnerte mich daran, als Obama seine Truppen aus Afghanistan abzog: Was glauben Sie, wo all diese Waffen gelandet sind?"

Bruce Robbins will "nicht als Jude sprechen, sondern als Sohn eines Veteranen des Zweiten Weltkriegs", der mit seiner Flugzeugstaffel unter anderem Halberstadt bombardierte, "wobei etwa 2500 Zivilisten getötet wurden. Als ich darüber nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass selbst in einem gerechten Krieg die Tötung einer großen Zahl von Zivilisten als Gräueltat zu werten ist, und zwar nicht im Sinne des technischen Vokabulars der Menschenrechte, sondern im Sinne meiner eigenen groben Vorstellung von menschlichem Anstand. Was hat das mit dem zu tun, was jetzt in Gaza passiert? Im Moment ziehe ich zwei Schlussfolgerungen. Die erste ist, dass die Tötung von israelischen Zivilisten am 7. Oktober eine Gräueltat war. Die zweite ist, dass die Tatsache, dass eine Gräueltat, die von der Hamas begangen wurde und in gewisser Weise von Zivilisten, die durch die von der Hamas geschaffenen Öffnungen im Zaun kamen, die palästinensische Sache nicht weniger gerecht macht." Was die Israelis derzeit in Gaza tun, ist für Robbins wiederum "kein 'Krieg', wie die Medien ihn immer wieder nennen. Es ist eine Schießbude, mit Zivilisten als Zielscheiben. Es ist eine Ausrottung."

Und Andrew Ross geißelt die Unterbrechung der Wasserversorgung Gazas durch die Israelis als "Kolonisierung durch Austrocknung. ... In den letzten Wochen haben wir durch die Belagerung des Gazastreifens einen Vorgeschmack auf das bekommen, was kommen wird. Obwohl die Unterbrechung der Wasserversorgung für den Feind eine uralte militärische Taktik ist, stellt sie einen Verstoß gegen moderne Kriegsregeln dar, insbesondere wenn Wasser als Waffe gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wird. Insbesondere ist es für eine Besatzungsmacht illegal, sich die natürlichen Ressourcen eines Volkes unter militärischer Herrschaft anzueignen. Es ist ein weitaus schwerwiegenderes Verbrechen, ihnen den Zugang zu diesen Ressourcen zu verwehren. Doch Israel operiert schon so lange außerhalb des Völkerrechts, dass das ultimative Tabu - die Begehung von Völkermord - sich als nur eine weitere zu überschreitende Grenze herausgestellt hat."
Archiv: n+1

New Statesman (UK), 13.11.2023

Lawrence Friedman vergleicht die aktuellen Kriege in Gaza und in der Ukraine und kommt zu dem Schluss, dass im Fall des ersteren ein baldiges Ende eher in Sicht ist. Die Hamas erhält kaum militärische Unterstützung von ihren Verbündeten, während der Druck auf Israel, einem Waffenstillstand zuzustimmen, wächst: "Obwohl Netanjahu monatelange Militäroperationen in Gaza angekündigt hat, wird er auf die Bitten der internationalen Unterstützer Israels nach einem Aussetzen der Operationen eingehen müssen, sobald sie sich in Forderungen verwandeln. Was danach passiert wird davon abhängen, ob die zentralen nicht-Konflikt-Parteien im Westen und in der arabischen Welt bereit sind, nicht nur einen Hilfs-, sondern auch einen Friedensplan auszuarbeiten." In der Ukraine hingegen gibt es an der Front kaum noch Bewegung. Russland hat höhere Verluste, aber auch mehr Nachschub, die ukrainischen Offensiven dieses Jahres waren erfolglos, man hofft höchstens noch auf modernere Waffensysteme. "Ukraine hat kaum eine andere Option als weiterzukämpfen, solange ein Teil des Landes besetzt ist. Russland hat eine andere Option, aber einem Rückzug zuzustimmen würde wie eine Niederlage wirken. Diese Option steht dennoch im Raum. Falls es nicht dazu kommt, ist die beste Hoffnung weder ein militärischer noch ein diplomatischer Durchbruch, sondern eine Situation, in der die beiden Parteien in einen Zustand übergehen, der weder Krieg noch Frieden ist, mit kleinen Schussgefechten und Spannungen und einer Rückkehr zum Alltagsleben abseits der Front. (...) Das ist der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Konflikten: Putin scheint nicht aufgeben zu wollen, aber es ist möglich, sich eine Situation vorzustellen, in der Gaza sich weder unter der Kontrolle der Hamas, noch unter der Israels befindet."
Archiv: New Statesman

Meduza (Lettland), 09.11.2023

Im Interview mit Elizaveta Antonova erklärt Oleksij Arestowytsch, ehemaliger Berater im Büro des Präsidenten der Ukraine, aus dem Exil heraus, warum er bei der nächsten Präsidentschaftswahl gegen Selenski antreten will. Zwar stand er anfangs hinter ihm, doch wurde seine Unterstützung mit der Zeit immer geringer. "Statt Reformen gab es Stagnation, Monopolisierung und so weiter - kurz gesagt, alle Kennzeichen einer kollabierenden Demokratie. … Die Gegenoffensive [der ukrainischen Armee] war für mich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, denn ich weiß, warum sie erfolglos war. Der Präsident verlangte, dass die Truppen in Richtung Bachmut verlegt werden - meiner Meinung nach ist das absoluter Wahnsinn." Mittlerweile lebt Arestowytsch im Ausland, da er in der Ukraine als russischer Spion gelte. Dies liege unter anderem an seinem Versprechen als Präsident mit Russland Verhandlungen aufzunehmen. "Russland ist unser Nachbar, es wird nirgendwo hingehen. Die Putins kommen und gehen, aber Russland wird bleiben. Wir sind alle an zwei Dingen interessiert. Erstens, dass Russland ein starkes, freies, demokratisches Land wird. Zweitens, dass Russland ein Teil des Westens wird. Und wir wollen verhindern, dass es nach China abdriftet und zu einem nuklearen Satellitenstaat Chinas wird. Es könnte sich durchaus herausstellen, dass wir mit einem zukünftigen Russland, wenn nicht neutral, so doch verbündet sein können, zum Beispiel im Rahmen einer vereinten westlichen Haltung. Deshalb sind alle Elemente der Entmenschlichung der Russen ein grundlegender strategischer Fehler".
Archiv: Meduza

Unherd (UK), 13.11.2023

"Why I am now a Christian", betitelt Ayaan Hirsi Ali ihren jüngsten Essay, in dem sie die ihre Abkehr von Ideen des Säkularismus und Atheismus bekennt. Sie schildert zunächst ihre Jugend unter dem radikalen Regime der Muslimbrüder, das dem muslimischen Glauben aber irgendwie auch einen existenziellen Thrill gab. Dann wurde sie unter dem Einfluss von Bertrand Russells Essay "Why I am Not a Christian", der ihren Titel inspiriert, Atheistin. Angesichts der Herausforderungen durch die Autokratien in Russland und China, den Islamismus und die woke Ideologie hält sie einen auf Skepsis beruhenden Humanismus allerdings nicht mehr für schlagkräftig. Mit den klassischen Argumenten des Konservatismus tut sie zunächst so, als sei die Idee der Redefreiheit aus dem Christentum und nicht gegen die Kirchen entstanden, und beklagt die metaphysische Unbehaustheit des Westens: "In diesem nihilistischen Vakuum wird die Herausforderung, vor der wir stehen, zu einer zivilisatorischen. Wir können China, Russland und dem Iran nicht widerstehen, wenn wir unseren Bevölkerungen nicht erklären können, warum es wichtig ist, dass wir es tun. Wir können das Wüten dieser Ideologien nicht bekämpfen, wenn wir nicht die Zivilisation verteidigen können, die sie zu zerstören entschlossen sind. Und wir können den Islamismus nicht mit rein säkularen Mitteln bekämpfen. Um die Herzen und Köpfe der Muslime hier im Westen zu gewinnen, müssen wir ihnen etwas mehr bieten als Videos auf TikTok." Am Ende ihres Essays gibt sie zu, dass sie noch gar nicht so recht weiß, woran sie da glaubt: "Natürlich muss ich noch sehr viel über das Christentum lernen. In der Kirche entdecke ich jeden Sonntag ein bisschen mehr."
Archiv: Unherd

Pritomnost (Tschechien), 12.11.2023

Mit dem Tod von Karel Schwarzenberg verschwindet eine charismatische Figur Mitteleuropas. Schwarzenberg, den die Tschechen familiär "den Fürsten" nannten, stammte aus einem altem Adelsgeschlecht, das die Kommunisten ins österreichische Exil trieben. Nach der Samtenen Revolution holte Václav Havel ihn als Büroleiter auf die Burg, später wurde Schwarzenberg Außenminister. Petr Fischer würdigt ihn in seinem Nachruf als einen Konservativen der Tat ("Manchmal ist es nötig, bestimmte Dinge zu tun, also habe ich sie getan", habe Schwarzenberg lapidar gesagt.), sieht in ihm aber mehr noch als eine politische, eine kulturelle Gestalt, "die beste Verkörperung jener komplizierten und komplexen mitteleuropäischen Kultur, aus der er und seine Familie stammten". Sei es der Kampf für das Recht auf eine provozierende und für viele zu extreme Kunst der Wiener Aktionisten, gegen deren strafrechtliche Verfolgung sich Schwarzenberg im Österreich der sechziger Jahre einsetzte, oder später die Unterstützung der tschechoslowakischen Dissidenten - "immer galt es, Freiheit und Talente gegen das Destruktive eines dumpfen Umfelds zu verteidigen, das sich merkwürdig ähnelte. In Österreich das 'Nachkriegsbiedermeier', in dem die österreichische Gesellschaft ihren Anteil an den Verbrechen des Nazismus unter den Teppich kehrte und das die Aktionisten auf radikale Weise beendeten. In der Tschechoslowakei das 'Normalisierungsbiedermeier', in dem der relative Luxus von Fernsehen, Urlaub und einer Wochenend-Chata die Atmosphäre eines freien Denkens und Handelns niederwalzte. Karel Schwarzenberg konnte weder das eine noch das andere ertragen und solidarisierte sich deshalb mit Menschen, die sich ihre Freiheit und ihre Begabung nicht nehmen ließen. Etwa mit dem Dichter Martin Jirous, der dank der Fürsorge des Fürsten auch in der neuen Zeit überlebte, die sich schnell zum 'Konsumbiedermeier' wandelte." Petr Fischer vermisst schon jetzt "jene Offenheit und Selbstverständlichkeit, mit denen Schwarzenberg die Welt als ein zusammenhängendes Ganzes begriff und die Grenzen zwischen Kulturen überwand, immer mit einem Verständnis für ihre Unterschiede und ihre Individualität".
Archiv: Pritomnost

HVG (Ungarn), 09.11.2023

Vergangene Woche wurde der Direktor des Ungarischen Nationalmuseums, László L. Simon, vom zuständigen Minister entlassen. Der ehemalige Abgeordnete und Staatssekretär für Kultur der Regierungspartei konnte das von der Regierung verabschiedete Gesetz für Jugendschutz - von Kritikern als Gesetz gegen Homosexuelle bezeichnet - in seinem Hause nicht durchsetzen. Die aktuelle Ausstellung World Press Photo zeigt unter anderem Bilder von einem Altersheim für Homosexuelle auf den Philippinen, die nach dem neuen Gesetz von Besuchern unter 18 Jahren nicht hätten gesehen werden dürfen. Dem Museum fehlt jedoch die Rechtsgrundlage zur Ausweiskontrolle. Der Vorfall wurde von einer Abgeordneten der rechtsnationalen Oppositionspartei "Unser Heimat" im Parlament thematisiert, woraufhin die Entlassung von L. Simon verkündet wurde. "Bei diesem politischen 'Monopoly' kann jeder jederzeit an den Start zurückgeschickt oder für einige Runden disqualifiziert werden", kommentiert Boróka Parászka. "Freilich können die Figuren mit der Zeit auch zurückkehren. Die gesamte Karriere von László L. Simon war ein solches Tiki-Taka. Er gehörte zu den Abgeordneten, die das Mediengesetz unterzeichneten und baute dann als Präsident der Nationalen Kulturstiftung (NKA) und Staatssekretär für Kultur das jetzige System der Klientelpatronage in der Kulturszene auf. Zeitweise wurde er abgelöst oder aus der Fraktion ausgeschlossen und dann wieder eingesetzt. Wie so viele zog er es vor, etwas zu sein, anstatt jemand zu sein. Mit dieser Einstellung konnten diejenigen, die in den Wind geschossen wurden, als Bezirksbürgermeister, Bauminister oder Minister für ländliche Entwicklung zurückkehren, als Beauftragte für die Änderung des Hochschulmodells, oder sie konnten eine Universität oder eine Kirche leiten, nachdem sie aus der Regierung ausgeschieden waren."
Archiv: HVG
Stichwörter: Ungarn

London Review of Books (UK), 16.11.2023

Entlang einer Buchveröffentlichung erzählt Rosa Lyster die Geschichte John Ackah Blay-Miezahs, gewissermaßen der Urvater der sogenannten (obwohl meist nicht in Nigeria ausgetüftelten) Nigeria-Internetscams. Der Ghanaer Blay-Miezah hatte, führt Lyster aus, schon in der Schulzeit damit begonnen, seine Klassenkameraden hereinzulegen. Berühmt wurde er als Promoter des sogenannten "Oman Ghana Trust Fund", eines fiktiven Riesenvermögens, das angeblich dem Ghanaischen Präsidenten Kwame Nkrumah gehört haben soll und für dessen Verflüssigung Blay-Miezah Investoren anwarb - überall auf der Welt, vor allem jedoch in Ghana und den USA. Insgesamt gut 15 Jahre lang, von den frühen 1970ern bis zu den späten 1980ern, warb Blay-Miezah gemeinsam mit seinem amerikanischen Partner Robert Ellis mithilfe einer offensichtlich von hinten bis vorne erlogenen Geschichte Gelder ein. Wie war das möglich? "Wenn Besucher in sein Büro kamen, leiteten Blay-Miezah und Ellis das Gespräch vorsichtig in Richtung des 'Oman Ghana Trust Fund'. Erst die vielen Milliarden Dollar, dann die Vision eines neu aufgebauten Ghana, dann der benötigte Vorschuss, dann die zehn Dollar, die alle Investoren für jeden einzelnen Dollar Vorschuss erhalten sollten. Während immer mehr Investoren dazukamen, lernten Blay-Miezah und sein Partner, 'die Leute mithilfe ihrer eigenen Fantasien übers Ohr zu hauen': einigen verkauften sie das Versprechen der Befreiung, eine Möglichkeit, die Wunden des Kolonialismus zu heilen. Anderen verkauften sie die Möglichkeit, sich ein letztes Mal an der Beute gütlich zu tun, eine Chance für mäßig erfolgreiche Geschäftsleute, einen riesigen, noch kaum entwickelten Markt zu erobern und dort zu tun, was immer sie möchten. Ein Journalist des Philadelphia Inquire drückte es folgendermaßen aus: 'Blay-Miezah verkaufte das Mysterium Afrikas gemeinsam mit dem Versprechen auf Gold im Wert von Milliarden.'"