Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.04.2007. In der Welt sieht der Islamwissenschaftler Bernard Lewis die "dritte Angriffswelle" des Islams auf Europa zurollen. In der NZZ freut sich Georg Klein mit Friedrich Dürrenmatt auf die postnukleare Zukunft des Schweizer Armeemessers. Die Berliner Zeitung staunt über die simulierte Demokratie in Russland. Die FR kann den Schrecken des Begriffs Amok auch nicht erklären. In der taz beruhigt der Evolutionsbiologe Josef Reichholf: Vor 120.000 Jahren gab es auch schon Nilpferde am Rhein.

Welt, 18.04.2007

Der Islamwissenschaftler Bernard Lewis alarmiert, dass gerade - nach islamischer Ausbreitung und osmanischer Eroberung - die "dritte Angriffswelle auf die Christenheit und Europa" begonnen hat. Ihre Mittel sind "Terror und Einwanderung": "Wie reagiert Europa auf diese Situation? In Europa, wie in den Vereinigten Staaten ist eine häufige Antwort Multikulturalismus und Political Correctness gewesen. In der islamischen Welt erlegt man sich keine solchen Zurückhaltungen auf. Man ist dort sehr identitätsbewusst. Muslime wissen, wer und was sie sind und was sie wollen - eine Errungenschaft, die wir großteils verloren zu haben scheinen. Den radikalen Muslimen ist es gelungen, in Europa Verbündete zu finden. Nach links üben sie eine Anziehungskraft auf die antiamerikanischen Segmente in Europa aus, für die sie sozusagen die Sowjetunion ersetzt haben. Nach rechts üben sie eine Anziehungskraft auf die antijüdischen Segmente in Europa aus, für die sie die Achsenmächte ersetzen. Es ist ihnen gelungen, unter beiden Flaggen beachtliche Unterstützung zu gewinnen. Für einige Leute in Europa ist der Hass offenbar stärker als ihre Loyalität." (Hier die englische Version)

Weiteres: Ulrich Weinzierl stellt erst einmal klar, dass es sich bei allem, was Elfriede Jelinek tut, nicht um Koketterie handelt, sondern "bitteren Lebensernst", bevor er ihren jetzt auf ihrer Seite veröffentlichten Text "Neid" als glänzend bezeichnet. Matthias Heine findet den Einfall des Bundeswehrausbilders, seine Rekruten bei Übungen auf "Afroamerikaner" schießen zu lassen eher infantil als rassistisch. Sven Felix Kellerhoff greift den Moskauer Archivfund auf, wonach Henning von Tresckow bereits 1943 den Staatsstreich gegen Hitler vorbereitete. Thomas Lindemann beobachtet, dass sich der Actionfilm ästhetisch immer stärker am Videospiel ausrichtet. Deswegen sei der Spartaner-Schinken "300" auch nur bei Kritikern unbeliebt, nicht aber bei spielwütigen Twens ("Ich war schon immer Mittelalter-Fan!"). Eckhard Fuhr hat sich Nadja Frenz' und Sigrun Matthiesens Film über Günter Grass angesehen. Nach dem Geburtstagskonzert für Papst Benedikt XVI. unter Gustavo Dudamel schmachtet Manuel Brug: "Der Himmel weinte, als im Vatikan die Musik ihre Stimme erhob." Jacques Schuster schreibt zum Achtzigsten des amerikanischen Denkers Samuel Huntington. Manuel Brug gratuliert Marcia Haydee zum Siebzigsten.

NZZ, 18.04.2007

Für die Reihe "Die Zukunft von gestern" liest Georg Klein noch einmal Friedrich Dürrenmatts Zukunftserzählung "Der Winterkrieg in Tibet", die von einem Cyborg in einem postnuklearen Szenario erzählt. Seine rechte Hand, so heißt es bei Dürrenmatt, ist "ein vielseitiges Instrumentarium: Zangen, Hammer, Schraubenzieher, Scheren, Griffel usw., alles aus Stahl". Und Klein analysiert: "Mit dieser kleinen Beschreibung ist indirekt und doch eindeutig - tief im tibetischen Fels der Zukunft - die alte Schweiz ins Spiel gekommen. Denn der rechte Arm dieses scheinbar jeder Herkunft und Zugehörigkeit enthobenen Rumpfmenschen gleicht unverkennbar jenem Schweizer Armee-Messer, das vor dem atomaren Fiasko ein weltweit bekanntes Dingsymbol der Alpenrepublik war."

Weitere Artikel: Sören Urbansky besucht die allerletzte noch lebende Russin in der ostchinesischen Stadt Harbin, die nach der Oktoberrevolution ein Zentrum der weißrussischen Emigranten war. Richard Merz gratuliert der Tänzerin Marcia Haydee zum Siebzigsten.

Besprochen werden eine Ausstellung in Barcelona über den Maler Vilhelm Hammershoi und den Filmemacher Carl Theodor Dreyer und Bücher, darunter Lyndal Ropers Studie "Hexenwahn - Geschichte einer Verfolgung", Knud Rasmussens wieder aufgelegter Expeditionsbericht "Unter Jägern und Schamanen" und Karl-Markus Gauß' Journal "Zu früh, zu spät".

Berliner Zeitung, 18.04.2007

Wie eine "Truman Show" der Demokratie kommt Christian Esch Russland inzwischen vor. Alles, was zur Demokratie gehört, scheint vorhanden - in Wahrheit handelt es sich aber um nichts als Potemkinsche Dörfer: "Auf den Trümmern des Sowjetsystems ist eine Regierungsform entstanden, die aussieht wie Demokratie, mit Parlament und Parteienstreit und Wahlen, in der aber die Willensbildung einer Gesellschaft und die Organisation von Interessen nur simuliert wird. Parteien entstehen und vergehen im postsowjetischen Raum als 'Projekte' mit definiertem Zweck, aber ohne Programm und ohne regionale Basis. Sie werden entworfen von prominenten 'Polit-Technologen' - eine Berufsbezeichnung, die weit mehr und Zynischeres umfasst als das, was westliche Wahlstrategen und Spin-Doctors tun -, und sie werden gefördert und behindert durch das, was im postsowjetischen Neusprech 'adminresurs' heißt: 'administrative Ressourcen', die Mittel staatlicher Macht."

FAZ, 18.04.2007

Michael Hanfeld wurde Zeuge, wie CNN bei der Berichterstattung zum Massaker von Blacksburg den journalistischen Offenbarungseid geleistet hat. Immer wieder war das Handy-Video eines Studenten zu sehen, keiner stellte die naheliegende Frage, wieso nach den ersten Schüssen stundenlang gar nichts passierte: "Es dauert Stunden, bis bei CNN überhaupt jemand irgendwelche Fragen stellt. Der ganze Sender ist in Schockstarre, inszeniert den Horror wie in Trance."

Weitere Artikel: An die bis zum Regierenden Bürgermeister Ernst Reuter zurückreichende Geschichte Berlin-türkischer Beziehungen erinnert Alexander Cammann. Jürgen Kaube verbindet in einem Kommentar Kritik am langwierigen Berufungsverfahren für die Leitung des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte mit grundsätzlichen Skepsis angesichts des Forschungsstils der geisteswissenschaftlichen Max-Planck-Institute. Jordan Mejias gratuliert dem Kulturkampftheoretiker Samuel Huntington zum achtzigsten, Wiebke Hüster der Primaballerina Marcia Haydee zum siebzigsten Geburtstag. Auf der Medien-Seite informiert Martin Schoeb über den Berliner Blogger-Kongress "re:publica" und bedauert, dass die üblichen Verdächtigen unter sich blieben.

Auf der letzten Seite porträtiert Hubert Spiegel den mit dem diesjährigen Pulitzer-Preis geehrten, in Deutschland aber noch immer vergleichsweise wenig bekannten Schriftsteller Cormac McCarthy. Aus der Schweiz berichtet Jürg Altwegg von zunehmendem Widerstand der Schweizer gegen den Immobilienverkauf an reiche Ausländer.

Besprochen werden Danny Boyles Science-Fiction-Film "Sunshine", das gelungene Geburstagskonzert für Papst Benedikt XVI., das Kreuzberger "Deerhoof"-Konzert, bei dem aber vor allem die Vorband The Blow überzeugte, die Luca-Cambiaso-Ausstellung in Genua und Bücher, Irene Disches Erzählungsband "Lieben" und das Abenteurer-Sachbuch "Wie man bei Windstärke 10 stilvoll eine Tasse Tee trinkt" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FR, 18.04.2007

Nach dem Attentat in Virginia erklärt der Kultur- und Medienwissenschaftler Joseph Vogl in einem Interview, weshalb der Amoklauf in soziologischer Hinsicht als "Schwarzes Loch" erscheint. "Das Wort kommt aus dem Malayischen und ist elementar mit einer Geschichte des Krieges verbunden: Es ist der Blutrausch eines Elitekriegers. Die Geschichte des Amoks ist also die Spur eines entfesselten Kriegs. Darüber hinaus werden mit Amok wohl immer auch besondere Gewalttaten benannt, für die man keine hinreichenden Gründe angeben kann. Alle Versuche, das Phänomen systematisch einzugrenzen, medizinisch, psychologisch oder kriminologisch, bleiben ratlos. Und genau das macht schließlich den Schrecken aus, auf den der Begriff Amok verweist: Wo Gründe fehlen und Motive unklar sind, gerät die Welt aus den Fugen."

Weitere Artikel: Tim Gorbauch begleitet die Band Blumfeld auf ihrer Abschiedstour. Zu lesen ist außerdem ein Interview mit Detlef Diederichsen und Thimo Blunck, den Musikern des Duos "Die Zimmermänner", die als Wegbereiter der "Hamburger Schule" gelten. Und in Times mager meditiert Hans-Jürgen Linke über die Verdrängung des schönen altdeutschen Worts Lastkraftwagen durch Brummi.

Besprochen werden eine "spektakuläre" Inszenierung von Wagners "Walküre" am Nationaltheater Weimar und Bücher, darunter die Erinnerungen von Johano Strasser "Als wir noch Götter waren im Mai" und ein weiterer Band von Ernst Klee zur Geschichte des Nationalsozialismus "Kulturlexikon zum Dritten Reich" (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

TAZ, 18.04.2007

Auf der Meinungsseite klagt Hilal Sezgin die Einbeziehung muslimischer Frauen in den "Koordinierungsrat für Muslime" ein - vorausgesetzt, sie sind gläubig. "Natürlich sind einige muslimische Frauen oder 'Islamkritikerinnen', wie dieses neue Berufsbild gern genannt wird, in der deutschen Öffentlichkeit überproportional präsent. Es handelt sich um Frauen mit muslimischem Familienhintergrund. Doch der Islam ist eine Glaubens-, keine Abstammungsgemeinschaft. Wenn es um die Stimme der deutschen Muslime geht, kann es nicht angehen, dass etwa eine explizit nichtgläubige Necla Kelek, ohne von mir gewählt zu sein, für mich spricht. Wer selbst nicht (mehr) glaubt, darf gern über Muslime, oder für Ex-Muslime - nicht aber für Muslime sprechen, so wenig wie der als Baby getaufte Atheist für die Christenheit." (Beansprucht der Koordinierungsrat denn nicht, auch für nichtgläubige Muslime wie Necla Kelek zu sprechen?)

In einem interessanten Interview erläutert der Evolutionsbiologe Josef Reichholf im Kulturteil einige Thesen seines Buchs "Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends", in dem er die Geschichte Mitteleuropas mit der Entwicklung der klimatischen Bedingungen verbindet. So erfahren wir etwa, dass es um 800 vermutlich noch wärmer als heute und Bayern noch Weinland war. Reichholf stellt fest: "Die heutigen Klimamodelle gehen von diesem Tiefstand aus. Würde man sie auf den Durchschnitt der letzten 1000 Jahre beziehen, dann sind wir noch gar nicht im oberen Bereich. Und vollkommen falsch ist es, wie vielfach behauptet wird, dass es noch nie so warm gewesen wäre wie heute. Das ist absurd: vor 120.000 Jahren gab es Nilpferde am Rhein und an der Themse."

Kirsten Riesselmann stellt den Dokumentarfilm "Beijing Bubbles" von Susanne Messmer und George Lindt über die alternative Musikszene von Peking vor; einer ihrer Protagonisten, Bian Yuan, kommt mit seiner Gruppe Joyside zum Filmstart auf Deutschlandtournee. Besprochen wird außerdem Walt Beckers Biker-Komödie "Born to be Wild".

Schließlich Tom.

SZ, 18.04.2007

In einem gnadenlosen Totalverriss kanzelt Till Briegleb Johann Kresniks Inszenierung von Kafkas Romanfragment "Amerika" am Bremer Theater als vorurteilsbeladene Amerika-Hetze ab. "Es ist kaum zu glauben, aber in dem Stück gibt es keinen einzigen reflektierenden Satz, keine Figur, die nicht auf ihre primitivsten Eigenschaften - und seien es riesige Brüste - zurückgestutzt wurde, nicht einen einzigen menschlichen, klugen Moment. In dieser schonungslosen Dummheit steht das Stück ziemlich einsam in der Theaterlandschaft und legt dem Regisseur Kresnik dringend ans Herz, mit dem Theater aufzuhören, bevor sein künstlerischer Verfall noch zum Musical-Ersatz für Europas Islamisten verkommt."

Weiteres: Werner Bloch berichtete von der 8. Biennale im arabischen Emirat Sharjah, die sich "Mut zur Provokation" leistet. Der Verleger und Schriftsteller Michael Krüger protestiert ausdrücklich gegen das gute Wetter, das die Lesefreudigkeit nach der Frühjahrsbuchmesse vermutlich schwer dämpfe. Stefan Koldehoff informiert über die Versteigerung von rund 400 Dokumenten aus dem Nachlass von Ernst Bloch. chka berichtet, dass Telekom, Post und Postbank das geplante Festspielhaus Beethoven in Bonn finanzieren wollen. Gratulationen ergehen an die brasilianische Ballerina Marcia Haydee zum 70. und an den Politikwissenschaftler Samuel P. Huntigton zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden, eine Ausstellung des Bologneser Barockmalers Annibale Carracci im Chiostro del Bramante in Rom, die "Walküre"-Inszenierung am Nationaltheater Weimar, ein Kölner Konzert des ehemaligen Pink-Floyd-Mitglieds Roger Waters und Bücher, darunter der aus nachgelassenen Fragmenten montierte Roman "Die Kinder Hurins" von J. R. R. Tolkien, Charles Nicholls Biografie von Leonardo da Vinci und eine Studie über die Geschichte des Vesuv. (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)