Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.08.2006. In der FAZ kritisiert Louis Begley sehr scharf das Schweigen des Günter Grass. Die NZZ wundert sich: In London heißen die Bibliotheken jetzt "Idea Stores". Die SZ ist noch ganz atemlos vor Staunen über die Schönheit, das Durcheinander, die Ungerechtigkeit der Stadt Bombay. In der Welt erinnert sich Ivo Pogorelich an den Tod seiner Frau.

NZZ, 21.08.2006

Im Londoner Bezirk Tower Hamlets heißen die Bibliotheken nun "Idea Stores", wie Lilo Weber bei der Begehung von David Adjayes neuestem, grün-blau-weiß schimmernden Beispiel erfährt. "Die schlangenförmigen Büchergestelle sind für Adjaye ein Markenzeichen, auch im Idea Store Whitechapel. Nur nicht den Anschein einer Bibliothek erwecken. Die Besucherzahlen geben dem Konzept Recht. Während die Bibliotheken im ganzen Land über Besucherschwund klagen, haben die Ideen-Läden Konjunktur: Zum kleineren an der Chrisp Street kommen gemäß Sergio Dogliani, dem Leiter der Idea Stores, täglich durchschnittlich 1.400 und zum großen in Whitechapel sogar 1.800 Interessierte. Hier lohnt sich der Besuch allein der Aussicht wegen. Vom Cafe im vierten Stock hat man nämlich einen unvergleichlichen Blick auf die City mit dem Swiss Re Tower im Westen, auf den Supermarkt mit den Sozialwohnungen im Norden oder auf das chaotische Gemisch aus Lagerhallen und Dienstleistungsbetrieben im Süden."

Peter Jandl flaniert durch Budapests altes jüdisches Viertel in der Elisabethstadt, dessen Bewohner sich gegen die wild abreißende Immobilienbranche zu wehren beginnt. Jochen Kelter entdeckt bei seiner Namens- und Ahnenforschung, dass jüdische Rabbiner im Europa des 11. Jahrhunderts überraschenderweise Weinberge, also Land besitzen durften. Peter Hagmann schwärmt von den zwölf Auftritten des Luzerner Festivalorchesters unter Claudio Abbado.

Besprochen wird die Ausstellung "L'ile et elle" mit Installationen von Agnes Varda in der Pariser Fondation Cartier pour l'art.

Welt, 21.08.2006

Im Interview mit Manuel Brug erinnert sich der Pianist Ivo Pogorelich, der demnächst nach langer Pause wieder auftritt und Platten einspielt, auch an den Tod seiner Frau und Lehrerin Aliza Kezeradze: "Selbst im Tod war sie noch die Prinzessin, als die sie geboren wurde. Sie hatte Leberkrebs. Als sie starb, explodierte die Leber und in ihrem letzten Kuss überschüttete sie mich mit schwarzem Blut. Ich sah aus wie das Phantom der Oper."

Im Interview mit Anjana Shrivastava versorgt Daniel Goldhagen Günter Grass mit Stoff für den nächsten Roman: "Was in der ganzen, umfangreichen Literatur über den Nazismus und den Holocaust leider fehlt bisher, ist eine starke literarische Darstellung der moralischen Degeneration Deutschlands unter dem Hakenkreuz. Jemand, der literarisch so talentiert ist wie Grass, hätte das leisten können."

Weitere Artikel: Holger Kreitling begibt sich auf Spurensuche im Dorf Schlitz am Vogelsberg und liest die Hommage seines berühmtesten Sohns Florian Illies auf eben dieses Provinznest, wo er seine Kindheit verbrachte. Michael Pilz besuchte ein Madonna-Konzert und sah auch die Kreuzigungsszene (währenddessen zeigt die "Videorückwand Kinder, die an Aids erkrankt sind, oder hungern"). Im Forum denkt Stephan Groß-Selbeck, Geschäftsführer von E-Bay in Deutschland, über das "Web 2.0" nach.

Besprochen werden ein Album der Berliner Band Klez.e und die Ausstellung "Das achte Feld" im Museum Ludwig.

TAZ, 21.08.2006

Magdalena Kröner vermisst bei der Ausstellung "Das achte Feld" nur die Pornografie, ansonsten aber scheint im Kölner Museum Ludwig alles zur verschwommenen Grenze zwischen den Geschlechtern gesagt zu sein. "Da trifft eine Flagge auf Orange von Jasper Johns auf Jonathan Horowitz' 'Three Rainbow American Flags for Jasper in the Style of the Artists Boyfriend'; gegenüber sieht man David Hockneys berühmten 'Sunbather' am Pool, so frisch, als läge er dort nicht schon seit 40 Jahren. Daneben finden sich Francis Bacon, Robert Rauschenberg, aber auch die hier wieder aktuellen '7 Figures' in Neon von Bruce Nauman. Aus jüngerer Zeit ist eine Installation von Robert Gober zu sehen. Und natürlich auch eine Menge Warhol." Und ein wenig pikant war es dann zum Glück doch noch. "Für den Aufreger im Sommerloch hatte bereits das Plakat zur Ausstellung gesorgt, das mit einem Foto von Wolfgang Tillmans von einem, sagen wir mal, männlichen Wurzelchakra Empörung hervorrief. Tillmans hatte unter den Rock eines Mannes fotografiert, der - getreu den Schotten - nichts darunter trug."

Weiteres: Susanne Messmer entspannt sich in Pekings grünem Umland. In der zweiten taz berichtet Reinhard Wolff, dass die schwedische Filmzensur sich selbst auflösen will. Die Besprechungen widmen sich
Rainer Kneppergens' und Christian Mraseks Film "Die Quereinsteigerinnen" sowie Nancy MacDonells Buch über "Zehn Dinge, die jede Frau in ihrem Kleiderschrank haben muss" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Auf der Tagesthemenseite versucht der Beiruter Intellektuelle Abbas Beydoun der obstinaten Journalistin Anne Francois Weber die Feinheiten der Hisbollah zu erklären. "Nur die Hisbollah hat nichts mit dem Staat zu tun und lehnt die Macht ab." - "Wieso sollte sie die Macht ablehnen - sie stellt immerhin zwei Minister in der libanesischen Regierung?" - "Ja, sie hat die Macht angenommen, um ihrer Kriegssache zu dienen. Die Macht ist aber kein Selbstzweck für sie."

Und Tom.

FAZ, 21.08.2006

Heute äußert sich der amerikanische Autor Louis Begley über Günter Grass und die Waffen-SS: "Man hätte hoffen können, dass Grass während seines demütigenden Bekenntnisses die Rolle des Moralapostels ablegen würde, für die er nur allzu bekannt ist: Ich denke dabei an die schockierend absurde Anekdote, mit der er unterstellt, dass er zum erstenmal mit direktem Rassismus konfrontiert gewesen sei, als er hörte, wie weiße amerikanische Soldaten ihre schwarzen Kameraden 'Nigger' nannten. Hat Grass im Ernst erwartet, dass irgend jemand, der einen Funken klaren Menschenverstand besitzt und schon einmal etwas von der deutschen Rassenpropaganda vor und im Krieg gehört hat, ihm das glauben würde?"

Außerdem: Wolfgang Schneider versucht, die Bewegungen der Waffen-SS-Panzerdivision, der Grass angehörte, zu rekonstruieren. Patrick Bahners fasst weitere aktuelle Reaktionen von Richard von Weizsäcker und Dieter Wellershoff zusammen. Gemeldet wird, dass in einer repräsentativen Umfrage die Einwohner Danzigs sich - wenn auch recht knapp - für den Erhalt der Ehrenbürgerwürde der Stadt ausgesprochen haben.

Restthemen im restlichen Feuilleton: Andreas Rosenfelder findet den Verlust der Originalbildaufzeichnungen von der Mondlandung (mehr hier) ein wenig unheimlich. Über den Nahostkonflikt aus dem Blickwinkel der Archäologie informiert Wolfgang Zwickel. Im brandenburgischen Zühlen, seinem Entstehungsort, wurde am Samstag Valeska Griesebachs Film "Sehnsucht" aufgeführt - Andreas Platthaus war dabei. Ingeborg Harms hat die Zeitschriften Kulturaustausch und Lettre International gelesen, in denen über die Zukunft von Verkehr und Transit bzw. über "harte Grenzen" nachgedacht wird. Achim Heidenreich informiert über die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik in ihrem 60. Jahr. Edo Reents porträtiert Tom Petty als "elder statesman des Qualitätsrock". In der Glosse hat Michael Jeismann eine seltsame Vision von Franz Müntefering als Drachentöter. Auf der Medienseite informiert Jürgen Kalwa über den stetig wachsenden Einfluss amerikanischer Polit-Blogger.

Besprochen werden eine Brecht-Hommage von Achim Freyer im Berliner Ensemble und Bücher, darunter Pierre Assoulines Roman "Lutetias Geheimnisse" sowie neue Sachbücher, etwa zur bisher nur in englischer Sprache erschienene Geschichte des modernen Frankreich "La Vie en bleu" von Rod Kedward.

FR, 21.08.2006

Christian Schlüter weiß nicht so recht, was von einer Woche Streit um Günter Grass nun eigentlich geblieben ist. "Wird seit einer Woche an dem Knochen genagt, den ein Schriftsteller und ein Herausgeber uns hingeworfen haben: Marketingstrategien, eine Art Erbschaftsstreit und dann noch ein bisschen Generationshader? Eigentlich müsste man sich dafür auch nicht interessieren dürfen."

Besprochen werden das Eröffnungskonzert der Ruhrtriennale und Ereignisse des Berliner Festivals "Tanz im August".

SZ, 21.08.2006

Alex Rühle ist in Bombay und schickt einen atemlosen Bericht nach Hause über die Schönheit, das Durcheinander, die Ungerechtigkeit dieser Stadt - und die Touristen, die immer das Falsche suchen. "Touristen trifft man überhaupt nur in Colabar, dem überteuerten Südzipfel der Halbinsel, wo man aber zur Strafe auch sofort von Händlern umschwirrt wird: 'Ballons? Trommeln? Oder wollen Sie eine gute Frau, very spicy?' Zwei Holländer, die sich vor dem 'Strand Hotel' vom Lärm des Tages erholen, sind sanft ensetzt, sie wollen weiter, nach Norden, Richtung Himalaya, weil sie 'die spirituelle Reinheit dieses Landes' suchen, wie es einer der beiden tatsächlich ausdrückt. Das ist ja überhaupt eines der größten Rätsel, warum all die Europäer gerade in Indien, dieser kulturellen Hybridmaschine, dem Land, in dem die Kulturen einander seit 3000 Jahren überlagern und durchdringen, so gerne die Reinheit suchen. Und warum sie dann pikiert und geradezu persönlich beleidigt durch den wunderbaren Moloch stapfen, weil die Menschen nicht auf Ochsenkarren über Treidelpfade zuckeln, sondern auf der Ufermauer des Marine Drive diskutieren, ob man nicht endlich einen Helikopter-Shuttle-Service vom Flughafen ins Zentrum organisieren sollte."

"Dieser 'Don Giovanni' ist mit ganz großem Abstand der Höhepunkt dieses Mozartjahres", jubelt Reinhard J. Brembeck über Vincent Boussards und Rene Jacobs' "Don Giovanni" bei den Innsbrucker Festspielen. "Dabei macht Rene Jacobs nichts sensationell Neues, nichts überwältigend Brillantes und liefert auch keine verblüffende Umdeutung. Aber er macht das Richtige. Also meidet er in jedem Moment Klangideal und Psychologie des 19. Jahrhunderts. Er rekonstruiert vielmehr Befindlichkeit, Vergnügungssucht, Ästhetik und Lebenshaltung des 18. Jahrhunderts und bietet so einen bis in die letzte Verästelung stimmigen 'Don Giovanni'." (Arte überträgt die Produktion am 6. Oktober live aus Baden-Baden.)

Eine kurze Meldung informiert uns, dass vierzehn polnische Schriftsteller, darunter die Nobelpreisträgerin Wieslawa Szymborska sowie die Danziger Romanautoren Stefan Chwin und Pawel Huelle, in einem offenen Brief um Verständnis für Grass baten, der "Mut bewiesen" habe.

Weitere Artikel: Der Film "Akamas", der erste zypriotische Film, der je für das Filmfestival von Venedig ausgewählt wurde, soll nach dem Willen der griechisch-zypriotischen Regierung dort nicht gezeigt werden, berichtet Christiane Schlötzer. Regisseur Panikos Chrysanthou erzählt die Liebesgeschichte eines türkischen Zyprioten und einer griechischen Zypriotin und geht dabei kritisch mit der zypriotisch-griechischen Widerstandsbewegung Eoka um, zudem hat er einen türkischen Koproduzenten - all das sorgt dafür, dass man de Film für "anti-griechisch" hält. Fritz Göttler erinnert an die Serie "Miami Vice", die Regisseur Michael Mann gerade in einen Spielfilm gegossen hat. Reinhard Seiss erzählt, wie Silja Tillner mit ihrer behutsamen Sanierung der Stadtbahnbögen von Otto Wagner den Wiener "Gürtel" wiederbelebt hat. Vasco Boenisch berichtet von den Eröffnungsveranstaltungen der Ruhrtriennale.

Besprochen werden die Ausstellung "Nichts" in der Frankfurter Schirn, Michael Glawoggers Film "Megacities" auf DVD und Bücher, darunter Peter Uehlings Karajan-Biografie und Marlene Streeruwitz' Roman "Entfernung" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).