Essay

Das Versprechen des Kinos

Von Alexander Horwath
13.08.2018. Film war immer so viel mehr als Realitätsabbildung: Er war Adaptionstraining für den technischen und gesellschaftlichen Wandel, bündnisfähiges Werkzeug für eine neue Sicht auf die Welt und Loch in der Wand, durch das sich das Unwahrscheinliche einschleichen kann. Und heute? Wie finden wir in der Gegenwart, was einen Unterschied gemacht haben wird?
"Eine Idee bewahrt ihre Integrität und Weite nur so lang, wie sie der Verfestigung eines weithin sanktionierten Glaubens ermangelt."
(Siegfried Kracauer, Geschichte - Vor den letzten Dingen)

Luis Bunuel, "L'age d'or", 1930


Als ich zum ersten Mal Science-Fiction-Filme sah, wurde ich von meiner Mutter aufgeklärt: "Das sind utopische Filme. Sie zeigen eine andere Welt, nicht unsere." Später lernte ich, dass es Fälle gibt, im Kino und anderswo, die mitten in unserer Welt eine andere aufleuchten lassen, ohne dass es sich gleich um Science-Fiction handelt. Das geschah zum Beispiel in der Begegnung mit Filmen von Rainer Werner Fassbinder und Luis Buñuel. Die Lektüre von Buñuels Autobiografie folgte auf dem Fuß. "Während meiner gesamten Laufbahn", so schreibt er dort, "war es mein Hauptziel, klar und deutlich allen, die zuhören wollten, mitzuteilen, dass dies nicht die beste aller möglichen Welten ist."

Die Einsicht, dass in Filmen oder im Werk einzelner Filmemacher/innen etwas Utopisches aufleuchten kann; dass darin bestimmte Sehnsüchte, Vorstellungen und Praktiken des Zusammenlebens plastisch werden, die sich zweiflerisch oder gar aggressiv diametral zu den herrschenden Praktiken und Vorstellungen verhalten - diese Einsicht ist nur der erste Schritt zu einer Utopie Film. Für den zweiten Schritt braucht es mehr als die Filme selbst. Es braucht - um es mit einem etwas faden, aber unumgänglichen Wort zu sagen - eine Filmkultur: Orte, Terrains, Kontroversen, Sprachen, um sich auszutauschen über die so unterschiedlichen Zusammenhänge zwischen Filmen; zwischen ihnen und den anderen Künsten und Techniken; zwischen ihnen und der Draußenwelt; zwischen Kino und Leben. Und dieser Austausch wiederum erlaubt eine Wahrnehmung der Verhältnisse zwischen dem Sanktionierten, Mehrheitsfähigen, vorgeblich Notwendigen (im Kino wie im Leben) und dem Exilierten, Verdrängten, Minoritären - all den "Möglichkeiten, die zu erforschen die Geschichte nicht für wert erachtete" (Kracauer).

Das Versprechen, das einzelne Filme enthalten, erweitert sich so auf das Versprechen hin, das vom Kino im Ganzen gegeben worden ist. Die Utopie Film greift diese Versprechen in immer neuer Weise und in stets veränderten Konstellationen auf. Sie macht daraus Anträge und Angebote, manchmal sogar Manifeste und Forderungen. Gegenüber der Herrschsucht des Gegenwärtigen - also des jeweils herrschenden Neuen in der Gegenwart - schöpft sie ihr Material aus möglichen Zukünften, darunter jenen aus der Vergangenheit, die in der Geschichtsschreibung, wenn überhaupt, nur als nichtrealisierte, abgebrochene oder noch verpuppte Zukünfte verzeichnet sind. Die Utopie Film erzählt von einem zweiten, anderen Leben des Kinos, ohne das gegebene deshalb gleich für nichtig zu erklären (das eine kann nur gedacht werden als vielfältig ins andere verschlungen). Sie begleitet wie ein Schatten das grelle Licht, das aufs aktuell durchgesetzte Kino fällt. Aber sie entfaltet auch, anders als der Schatten, Kräfte aus sich heraus und eigene Wirbel, die das Licht oft wild flackern oder eine andere Tönung annehmen lassen. Und da sie - so wie die Filme selbst - dem historischen Prozess unterstellt ist, wechselt die Utopie Film in der jeweiligen Zeit-Lupe, die man auf sie richtet, häufig das Antlitz.

Das Dynamit der Zehntelsekunden: Die Utopie Film wird gemacht

Mit der Fotografie und dem Film entstanden im 19. Jahrhundert neue, maschinenbasierte Formen der Wirklichkeitsbezeugung und des Ausdrucks. Sie eroberten sich nicht nur "einen eigenen Platz unter den künstlerischen Verfahrungsweisen", sondern machten auch "die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke zu ihrem Objekt" und fingen an, "deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu unterwerfen". Walter Benjamins diesbezügliche Studie - "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (1935-39) - ist trotz ihrer Berühmtheit und weltumspannenden Proseminar-Präsenz noch immer nicht zu Tode zitiert. Im Gegenteil: Die darin formulierten Einsichten sind seither theoretisch kaum überholt worden. Und ihre Konsequenzen werden vom Kunstmarkt und von den potenteren Institutionen des Kunsttourismus- und Museumsbetriebs bis heute höchstens in verbogener Form oder perversen Umkehrungen anerkannt. Deshalb haftet Benjamins Text auch weiterhin kein Anschein von "Verfestigung" an, sondern immer noch etwas Utopisches. Er bildet den Höhepunkt und vorläufigen Abschluss einer Kino-Debatte, die in der Zeit zwischen den Weltkriegen intensive Ausmaße annimmt, vor allem in der Weimarer Republik, in der frühen Sowjetunion und in Frankreich.  

Mikhail Kaufman, Kameramann von Dziga Vertov, Foto von Eleazar Langman (Wikipedia)


Die Avancierteren unter den Künstlern, Schriftstellern, Medien- und Gesellschaftstheoretikerinnen dieser Zeit stellen dar, wie das Kamera- und Montage-Bewusstsein des Kinozeitalters auch neue Subjektivitäten und Sinnesverhältnisse hervorbringt, ja sogar neue Menschen bzw. Mutationen zwischen Mensch und Maschine. Jean Epstein, 1921, über eine gängige Marke unter den Filmkameras: "Die Bell & Howell ist ein Metallgehirn, standardisiert, gefertigt und verbreitet in ein paar tausend Exemplaren. Sie transformiert die Welt, die ihr äußerlich ist, in Kunst. Die Bell & Howell ist Künstler. Ein Künstler, der Künstler ist und sonst nichts. Das Vorbild eines Künstlers." Dziga Vertov schlüpft 1922 selbst in diese Rolle: "Ich bin ein mechanisches Auge. Ich, die Maschine, zeige Euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann."

Der neue Mensch, den der frühe Sowjetkommunismus im Auge hatte, und der neue Mensch, dem die Augen des Kinoapparats zugewachsen waren, schienen einen welthistorischen und buchstäblichen Augenblick lang ineinander aufzugehen. In Westeuropa schaute man stärker auf die Zerstreuung und Fragmentierung, die vom Kino und der Massenkultur gefördert bzw. bearbeitet wurde. Siegfried Kracauer deutete diese Rezeptionsweise im Jahr 1926 als positiv: "Der Zugang zur Wahrheit ist jetzt im Profanen." Das Publikum und die Kultur des Kinos entledigen sich - zumindest potentiell - der bürgerlichen Kunstlehre, die weiterhin ums Erhabene und seine Kontemplation, um die Tiefe des Sinns und die geistigen Höhen der Zivilisation kreist. 

Dabei wird auch das Doppelgesicht des Films erkennbar. Von seiner kulturindustriellen und sozialpsychologischen Funktion her betrachtet, kann er als Adaptionstraining für den rapiden Wandel im urbanen Leben und Arbeiten (und in der Kriegsführung) des frühen 20. Jahrhunderts verstanden werden. Aber die revolutionäre Rolle, die ihm schon in zeitgenössischen Schriften zugedacht wird, geht darüber hinaus. Regelmäßig konstatiert werden z.B. Analogien oder Verwandtschaftsbeziehungen zur Freud'schen Psychoanalyse (etwa bei Benjamin: das "Optisch-Unbewusste" des Films) und zur Einstein'schen Relativitätstheorie (wie bei Jean Epstein: der Film als "Maschine, die die variable Natur der Zeit offenbart" und "die Relativität alles Messbaren predigt"). Das Revolutionäre am Kino ist somit auch, dass es ein bündnisfähiges Werkzeug ist - für eine neue Sicht der Welt, für eine neue Auffassung von Raum und Zeit (und damit von Politik und Geschichte), für neuartige Verknüpfungen im fragmentierten Dasein. 

"Indem der Film durch Großaufnahmen, durch Betonung versteckter Details an den uns geläufigen Requisiten, durch Erforschung banaler Milieus unter der genialen Führung des Objektivs, auf der einen Seite die Einsicht in die Zwangsläufigkeiten vermehrt, von denen unser Dasein regiert wird, kommt er auf der anderen Seite dazu, eines ungeheuren und ungeahnten Spielraums uns zu versichern! Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen." (Walter Benjamin)

Dziga Vertov, "Der Mann mit der Kamera", 1929


In den Werken des populären Kinos und der Filmavantgarde der 1920er Jahre finden sich zahlreiche andere Beispiele solch utopischen Filmdenkens: ein Selberdenken des Films, eines, das in Filmbegriffen verfasst ist und den Beiträgen der Theoretiker und Kritikerinnen nicht nachsteht. Die Kernfrage (und Hauptfalle) jeglicher Avantgarde zum Beispiel - Wie überwindet man die Grenze zwischen Kunst und Leben? - wird auf dem Gebiet des Films unübertrefflich und gleichzeitig bearbeitet von Dziga Vertov in "Der Mann mit der Kamera" (1929) und Buster Keaton in "The Cameraman" (1928). Vier Jahre zuvor schon der gleiche geniale Wettstreit, mit dem gleichen Resultat: unentschieden. Vertov realisiert 1924 sein Programm eines lebendigen, weil selbst denkenden Kinos und eines "filmisch überrumpelten Lebens" erstmals im Langfilmformat ("Kinoglaz", Filmauge). Keaton wiederum thematisiert und durchstößt in "Sherlock jr." traumwandlerisch die Grenze zwischen Kinovorführraum und Leinwandgeschehen, aber auch - sobald er mitten im Film-im-Film angekommen ist - die Grenzen, die jeder Schnitt, jeder Einstellungs- und Schauplatzwechsel zu setzen scheint. Im Kino werden all diese Grenzen zu geheimen Verbindungsgängen. "Es gibt immer Löcher in der Wand, durch die wir entweichen können und das Unwahrscheinliche sich einschleichen kann." (Kracauer)

Neue Bündnisse: Die Utopie Film wird weitergedacht

Im Jahr 1964 schreibt Alexander Kluge unter dem Eindruck einer von "Großfilmen" und Marketing-Wahn zugeschütteten Kinogegenwart: "Wenn es die Literatur nicht gäbe, sondern nur jährliche Verlagsprogramme, so könnte sich keiner die Utopie vorstellen, die im Werk Melvilles, Balzacs, Flauberts, Döblins enthalten ist; Joyce wäre unzulässig. Die Utopie Film, d.h. die Vorstellung, dass es außer der ungenügenden augenblicklichen Gegenwart noch etwas anderes geben könnte, hat sich bisher nicht entfalten können. Das, was an Versprechen in der Filmgeschichte enthalten ist, ist zuwenig bekannt."

In den frühen 1960er Jahren hat Deutschland diesbezüglich echten Nachholbedarf. Indem sie die "alten Filme" abhakt als ehrwürdiges Nostalgie- bzw. Bildungsgut oder als ehrloses Propaganda- bzw. Unbildungsgut, zeigt sich die Nachkriegsöffentlichkeit kaum dazu bereit, das Kino so zu aktualisieren, dass es sein Versprechen - auch für die Welt außerhalb des Kinos - wieder einlösen kann. Eine einsame Ausnahme bildet die 1957 von Enno Patalas und Wilfried Berghahn gegründete Zeitschrift Filmkritik, in der zu lesen ist: "Gerade die Kritik müsste Brechts 'Lust unseres Zeitalters' hervorrufen, alles so zu begreifen, dass wir eingreifen können."

Anderswo ist dies bereits geschehen. Neue Kinobewegungen, cinephile Netzwerke und Zeitschriften, Filmmuseen und Cinematheken haben in Paris, New York und Tokyo, in Italien, Brasilien und England ein Klima geschaffen, in dem das Begreifen der Filmgeschichte als potentieller Gegenwart und das selbstbewusste Eingreifen neuer Filme in den geschichtlichen Prozess Hand in Hand gehen können. Diese zweite Welle eines nahezu weltumspannenden Kinobewusstseins rollt zwischen den Nachkriegsjahren und den späten Siebzigern. Sie bringt die Idee einer Film-Intellektualität noch einmal auf den Scheitelkamm der kulturellen und gesellschaftlichen Diskurse, verläuft aber auch parallel zu einer Abwanderung des Films aus dem Zentrum der Massenkultur. Ein Vorgang, bei dem - ähnlich wie zu Beginn des Jahrhunderts - sozioökonomischer und lebensweltlicher Wandel verschränkt ist mit der Durchsetzung eines neuen Massenmediums. Der Film hat seine utopischen Kräfte nun nicht mehr nur im Rücken; er schärft sie auch an dem Wind, der ihm, ökonomisch betrachtet, immer stärker entgegenbläst: "Zwischen der totalitären Krise des Faschismus und der sozialen Krise des Fernsehens behaupten sich die Geschichten des Kinos." (Elisabeth Büttner)

Sie behaupten sich, weil es wieder oder weiterhin Bündnisse gibt. Diese erreichen ihre größte Macht in den 1960er Jahren und sind von unterschiedlichster Art. Zum Beispiel die erneuerte Allianz, die die klügsten Hipster und Avantgardisten unter den Künstlern und Kulturkritikerinnen mit dem Medium Film eingehen - von Susan Sontag und Frieda Grafe bis Roland Barthes und Guy Debord, von Andy Warhol bis Bob Dylan. Oder ein Bündnis wie jenes zwischen Jean-Luc Godard, Brigitte Bardot und Fritz Lang (Le Mépris, 1963) - das Bündnis also zwischen neuen Filmkritikern und -künstlern (Godard), die sich jetzt selbstsicher Autoren nennen, und der "unkünstlerischen" Pop- und Kommerz- und Massenkulturseite des Kinos (Bardot), der sie ihr auteur-Konzept (Lang) historisch überhaupt erst verdanken. Oder auch die Allianz zwischen dem Film und dem Publikum der Nachkriegsgenerationen: Die Baby Boomer machen das Kino, neben der Popmusik, zu ihrer ureigenen Sache, was sich auch auf neuen Terrains niederschlägt - im politisch-medialen Aktivismus der Zeit um '68 ebenso wie in der Hochschulbildung (der Boom der Filmakademien, das neue Fach Filmwissenschaft).

Buster Keaton, "Sherlock jr.", 1924


Bei aller Veredelung, Re-Politisierung und Akademisierung, die das Kino auf diese Weise durchläuft, ist der große Traum von der filmvermittelten Grenzüberschreitung zwischen Kunst und Leben noch nicht ausgeträumt - der Traum, dass sich das Leben auf der Leinwand dem Dasein "dort draußen" ganz und gar öffnen möge. Er schwingt noch im Expanded Cinema und auch bei Fassbinder mit: "Filme müssen irgendwann einmal aufhören, Filme zu sein, müssen aufhören Geschichten zu sein, und anfangen, lebendig zu werden, dass man fragt: wie sieht das eigentlich mit mir und meinem Leben aus?" Dabei kann es allerdings nicht darum gehen, das Phantasma der Authentizität und Unmittelbarkeit (also der "Nicht-Medialität") zu bedienen. Es gibt kein "wahres" Leben jenseits des Vermittelten. Der Film, der ins Leben einzudringen versucht, muss wie "Sherlock jr." immer auch ins Unauthentische eindringen und dort "lebendig" werden, wo die Gefühle und das Leben selbst in ihrer ganzen Künstlichkeit und Gemachtheit erscheinen.

Die Letzte Maschine: Die Utopie Film ist anderswo aufgewacht

Ein bisschen artifiziell und zumindest porös sind auch die Grenzen zwischen sogenannter Trivial- und Hochkultur. Auch sie werden mehr und mehr durchlöchert oder ersetzt von den geheimen Verbindungsgängen, die dem Film zur Verfügung stehen - mittlerweile oft schon im Verbund mit dem Fernsehen, seiner mehrgesichtigen Nemesis. 1971 verfilmt Werner Schroeter im Libanon die "Salome" von Oscar Wilde fürs ZDF. Bei der Vertonung verwendet er Schlager, Walzer, Opernauszüge und Flugzeuggeräusche. Zwei seiner Schauspielerinnen kommen geradewegs vom Set des "Schulmädchenreport".

Andererseits ist der Film eine Kunst. Oder immer schon am Sprung, eine solche zu werden, mitsamt einer neuen Art von Aura - dies ungeachtet seiner relativen Erfolge beim Versuch, "den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern" (Paul Valéry, zitiert bei Benjamin). Es wird beim zauberhaften Versuch bleiben. Die Verfügungsgewalt über Begriffe wie Kunst, Medium, Trivial- oder Hochkultur - oder wenigstens eine Mitsprache bei ihrer Phrasierung - liegt heute nicht mehr beim Film.

1971, im Jahr von Schroeters "Salome", findet der amerikanische Filmemacher Hollis Frampton für das Geschehene und all das Kommende schon ein zwingendes Bild. In seinem Essay "For a Metahistory of Film" schreibt er: "Das einzige, was von einer Epoche intakt übrigbleibt, ist für gewöhnlich die Kunstform, die sie sich ausgedacht, die sie erfunden hat. Vom Neolithikum sind Tonscherben und Müllhalden übrig, aber die Ausübung der Malerei setzt sich ungebrochen von Lascaux bis in die Gegenwart fort. Solche Erfindungen dienten ursprünglich dem schieren Überleben, welches davon abhängt, zur rechten Zeit richtige Informationen zu haben. Während eine Epoche langsam in die nächste übergeht, verwandeln einige Individuen die früheren Mittel des physischen Überlebens in neue Mittel des psychischen Überlebens. Letztere nennen wir Kunst. Was ich damit andeuten möchte, ist dies: Keine Aktivität kann eine Kunst werden, bevor ihre ureigene Epoche zu Ende und ihr Gebrauchswert als Mittel des nackten Überlebens dahin geschwunden ist. (…) Ich bin im Maschinenzeitalter geboren. Das Kino war die typische Überlebensform im Maschinenzeitalter. Es erfüllte lobenswerte Aufgaben: Es lehrte uns, wie alles aussah, wie es funktionierte, wie man die Dinge angehen sollte - und natürlich auch, wie wir fühlen und denken sollten. Wir glaubten, es würde ewig währen, aber das Maschinenzeitalter ist zu Ende. Das Kino ist die Letzte Maschine. Es ist womöglich die letzte Kunst, die den Geist durch die Sinne erreicht."

In den vier, fünf Jahrzehnten seit dem Ende des Maschinenzeitalters wurde dementsprechend stärker als zuvor auf die kulturhistorische Bewahrung des Films gesetzt. Aber weil man ihn dabei als Objekt oder als beliebig abfüllbaren Content missverstand, statt als maschinengemachtes Zeit-Ereignis mit eigener Container-Funktion, liegt er jetzt - bis auf wenige herausragende Aufführungsorte und Ausnahmeprojektionen - still und stumm und inaktiv im Archiv. Denn er hat das Kino verloren, das sich nun eines anderen Mediums bedient. Letzteres, ein File-Format namens Digital Cinema Package, ist nur eines von vielen Gesichtern des weltumspannenden Hypermediums, das sich seit den letzten sozioökonomischen und lebensweltlichen Umbrüchen als nahezu hegemonial verstehen darf - und das längst seinen eigen Utopien nachhängt (etwa jener, den Geist durch andere Impulse zu erreichen als über die Sinne). Dieses Hypermedium braucht den Film nur mehr ganz formlos oder als vogelfrei "Filmisches", eben als Content (so wie einst der Film das "Theatrale" am Theater, das "Romaneske" am Roman für seine eigenen Re-Mediatisierungen verwendete - und dann hinter sich ließ, jedenfalls in seinen eigenständigen Formen).

Und das Kino verliert weiter sein Publikum. Es wird immer weniger gebraucht. Menschen wandern zusammen mit "dem Filmischen" anderswo hin, in andere Medienkonstellationen und teilweise auch zurück zu den älteren Künsten, wenn man etwa die enorme Präsenz von Bewegtbildern im Ausstellungswesen und auf den Bühnen bedenkt. Denn die Verhältnisse haben sich umgekehrt: Der Kultur- und Medienbetrieb und die Digitalindustrie haben an "Filmischem" alles übernommen, was auszuschlachten war (so wie sie auch die kulturindustriellen Aspekte des Kinos übernahmen - vom Starsystem über die Charts und Oscars bis zum Marketing). Man könnte von einer Zerstäubung des Films sprechen, die sich gleichzeitig anfühlt wie eine umfassende Ansteckung: eine epidemische Welteroberung von allem, was im weitesten Sinn Film evoziert. Und zerstäubt, in eine immer größere Zahl von immer kleineren Tröpfchen, ist auch das, was mit Filmkultur, Cinephilie, "Film-Intellektualität" beschrieben wurde (allerdings ohne Chance auf Welteroberung in ihrem Bereich).

Szene aus Chris Markers "La jetée", 1962


Für viele ist das die Utopie Film in ihrer heutigen Gestalt. Sie hätte sich dann, wie andere Utopien auch, der Herrschsucht des gerade Neuen in der Gegenwart gefügt, um endlich aus dem Schatten ins Licht zu treten. Sie hätte das Versprechen, das vom Kino gegeben worden ist, auf diese Weise eingelöst und dabei natürlich zu einem Gutteil verraten. Es erscheint dumm oder sinnlos, dies kulturkonservativ zu beweinen (so wie es derzeit, in ihrem Feld, viele Vertreter/innen der "Buchkultur" und des Buchhandels tun). Stattdessen spricht einiges dafür, Siegfried Kracauers "kleinen Messianismus des Wartens" (Karin Harrasser) zum Vorbild zu nehmen und weiterhin - im Hinblick aufs Filmische wie auf alles andere auch - mögliche, noch verpuppte Zukünfte zu erkunden, darunter jene aus der Vergangenheit. Ein bisschen so, wie es Jean-Luc Godard, Chris Marker, Thom Andersen oder Harun Farocki in ihren jeweils unterschiedlichen "Meta-Geschichten des Kinos" während der letzten 40 Jahre getan haben.

Karin Harrasser: "Kracauer möchte einen dritten Weg sichtbar machen: das Warten, das 'zögernde Geöffnetsein' auf etwas hin, das noch niemand kennen kann. Das Warten versteht er als eine Art Exerzitium, als eine Übung, um die Gegenwart in ihrer Heterogenität wahrnehmbar zu machen; ein Denken, das sich nicht nur in theoretischen Sphären bewegt, sondern in Gegenwart und Vergangenheit jene Fragmente zu identifizieren sucht, die in der Zukunft einen Unterschied gemacht haben werden. Kracauer ist hier schon der Historiker, von dem sein letztes Buch ("Geschichte - Vor den letzten Dingen") handelt: einer, der im Vorraum der letzten Dinge die verlorenen Prozesse des Geschichtsverlaufs aufsammelt, um sie so zu konstellieren, dass ein Ausgang sichtbar wird. Was, wenn wir uns mit einer Aufmerksamkeit ausstaffieren, die in der Gegenwart das sucht, was einen Unterschied gemacht haben wird? Wenn wir dann diese Momente verstärken, vergrößern, verlangsamen, beschleunigen? Könnte es nicht gelingen, dadurch etwas anwesend zu machen?"

Alexander Horwarth

Der vorliegende Text entstand auf Anregung der Bayrischen Staatsoper, für das Programmheft der Inszenierung von Joseph Haydns "Orlando Paladino" durch Axel Ranisch.