Efeu - Die Kulturrundschau

Was das Publikum will und was nicht

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30.03.2024. Die FAS lernt von der Klangkünstlerin Miya Masaoka (und Hilfe von Édouard Glissant) die Poetik der Beziehung zwischen Mensch und Pflanze. In der taz erklärt die Comickünstlerin Anke Feuchtenberger, warum auch Schnecken Gesprächspartner sein können. In der NZZ wünschte sich der Übersetzer und Kurator Stefan Zweifel, der Surrealismus würde endlich in seiner ganzen Radikalität verstanden. Die SZ fragt, warum der WDR Nina Gladitz' Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit" über Leni Riefenstahl höchstens für Festivals freigibt. Die Musikkritiker feiern Beyoncés Country-Album. Und: Die Feuilletons gratulieren Achim Freyer zum Neunzigsten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.03.2024 finden Sie hier

Kunst

Miya Masaoka im Savvy Contemporary. Bild: Instagram


Schwer ins Denken kommt Niklas Maak in der Ausstellung "Refuge in the Vegetal World" der amerikanischen Klangkünstlerin Miya Masaoka, zu sehen derzeit im Berliner Savvy Contemporary. Ihr Thema ist die Koexistenz des Menschen mit anderen Lebewesen, eine "Poetik der Beziehung", wie es Maak mit dem aus Martinique stammenden Philosophen Edouard Glissant beschreibt. Glissant hielt nichts von einer Trennung der Kulturen nach Herkunft. "Kreolisierung", also Mischung, war für ihn das Grundrezept jeder Kultur. Das galt ihm auch für das Verhältnis des Menschen zur Natur, und damit versucht Maak Masaoka auf die Spur zu kommen: Sie "interessiert sich in ihren Werken für die Wege, die Informationen in der nichtmenschlichen Welt nehmen, für die Frage etwa, wie Pflanzen 'Entscheidungen' treffen, wohin sie wachsen, wie sie an Licht und Nährstoffe kommen. So finden sich Pflanzen mit Sensoren in der Ausstellung und verkabelte Erdteppiche, die nach dem Muster der Fibonacci-Reihe im Goldenen Schnitt angeordnet sind."

Radikale Kunst, wie es der Surrealismus war, versteht heute niemand mehr, klagt in der NZZ der Übersetzer und Kurator Stefan Zweifel. Surrealismus werde heute meist nur noch verniedlicht dargeboten. "Dabei haben die Surrealisten unter der bunten Oberfläche die brennenden Fragen unserer Zeit vorweggenommen: Die Frage nach Kunst und Krieg, die Rolle der Revolte und des Aufruhrs gegen alle bestehenden Tabus, die Entgrenzung der Erotik ins nonbinäre Imaginäre, die Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten der 'écriture automatique' und dem Umgang mit neuen Medien wie damals dem Film."

Jenny Schlenzka, neue Leiterin des Gropius Bau in Berlin, erklärt im Interview mit Zeit online, wie sie an ihrem neuen Haus mit Nahostkonflikt und BDS umgehen will. "Wir versuchen, mit unserem Ausstellungshaus konstruktiv zu agieren. Der Gropius Bau soll ein offener Raum für Gespräche sein, in dem Meinungen, die sich widersprechen, nebeneinander existieren können." Das dürfte nicht einfach werden, denn "sehr viele verstehen nicht, warum jüdische Künstler*innen in Deutschland von Veranstaltungen oder Ausstellungen mit der Begründung ausgeladen werden, sie seien antisemitisch. ... Viele Künstler*innen kamen nach Berlin, weil sie anderswo nicht so frei arbeiten konnten wie in Deutschland. Jetzt befürchten sie hier Zensur."

In "Bilder und Zeiten" (FAZ) antwortet Tobias Schäfer, Propst am Dom zu Worms, auf Vorwürfe der Historikerin Gundula Werger, die - ebenfalls in "Bilder und Zeiten", zahlbar - antisemitische Muster im 1987 von Heinz Hindorf gemalten Marienfenster des Doms verortet hatte. Er kann keine "gekrümmte Nase" erkennen, gibt aber zu: "Wir müssen reden. Über den jahrhundertelangen offenen und den noch längeren latenten Antisemitismus im Christentum und in der Kirche. ... Und vielleicht müssen wir auch darüber reden, ob vielleicht doch etwas dran sein könnte an der Sichtweise der Autorin und ob ich zu naiv auf Hindorf und seine Fenster schaue."

Weitere Artikel: "Zensur", ruft der Künstler Gottfried Helnwein laut Standard, weil das Wiener Domkapitel von St. Stephan nach seinem "Fastentuch", auf ein Oster- und Pfingsttuch Helnweins verzichten will. Das Ostertuch zeigt ein Kind mit den Wundmalen Christi, die Kirchenoberen fürchten, das Bild könnte "Menschen verstören". Eva Karcher stellt im Tagesspiegel die südafrikanische Künstlerin Esther Mahlangu vor und ihre "Art Cars". Sebastian Moll resümiert in der taz die New Yorker Whitney-Biennale. In der Welt unterhält sich Gunnar Meinhardt mit Erika Schirmer, Scherenschnittkünstlerin und Komponistin des Kinderlied-Klassikers "Kleine weiße Friedenstaube" über Krieg, Flucht und Pablo Picasso. Jean-Pierre De Rycke betrachtet in "Bilder und Zeiten" (FAZ) aus österlichem Anlass Piero della Francescas "Geißelung Christi"

Besprochen werden die Schau "Harlem Renaissance and Transatlantic Modernism" im Metropolitan Museum in New York (FAS), die Ausstellung "Hanna Bekker vom Rath. Eine Aufständische für die Moderne" im Berliner Brücke-Museum (Welt), das Projekt "Klingende Bilder", für das der RIAS Kammerchor die passende Musik zu zwölf Gemälden von Abendmahl, Kreuzigung und Grablegung aus der Berliner Gemäldegalerie eingesungen hat (FAZ) und die Ausstellung "Suburbia" im CCCB Barcelona (Welt).
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Literatur

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Für die taz spricht Katrin Gottschalk mit Anke Feuchtenberger über deren Comic "Genossin Kuckuck", der eben für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war und non-linear bis assoziativ von einer Kindheit in der DDR erzählt. Dabei geht es mitunter mystisch bis animistisch zu, manchmal verwandeln sich Menschen auch in Tiere. "Die Kindheit hat viel mit Animismus zu tun - Kinder animieren eine Teekanne, verbrüdern sich mit Hunden oder nehmen Schnecken als Gesprächspartner", sagt Feuchtenberger. "Das ist nicht albern, sondern eine Welterfahrung, an die ich mich gut erinnere. Ich bin nicht so abgebrüht, dass mir das fremd wäre. ... Ich stelle mir vor, dass Verwandlung notwendig ist, um Traumata zu heilen oder sich weiterzuentwickeln... In 'Genossin Kuckuck' geht es um Wesen im Dazwischen."

Weitere Artikel: Linus Schöpfer wirft für die NZZ einen Blick auf aktuelle Schweizer Debatten um Jeremias Gotthelf. Der Schriftsteller Michael Kleeberg rät in "Bilder und Zeiten" der FAZ, auch abseits von "Manhattan Transfer" und der USA-Trilogie im Werk von John Dos Passos zu lesen: "Ein literarischer Kontinent harrt seiner Wiederentdeckung." Fürs "Literarische Leben" der FAZ spricht Martin Seng mit dem Mangaka Gou Tanabe über seinen Zyklus von Lovecraft-Adaptionen. Im Tagesanzeiger verneigt sich Guido Kalberer vor Franz Kafka. Für einen Essay in "Bilder und Zeiten" der FAZ blättert der Schriftsteller Deniz Utlu in seinen Tagebüchern aus Jugendtagen und staunt über den Menschen, den er darin antrifft. Wolfgang Matz erinnert in "Bilder und Zeiten" der FAZ an die erste, 1972 erschienene Ausgabe der französischen Kulturzeitschrift L'Éphémère. In den "Actionszenen der Weltliteratur" denkt Mladen Gladić (Welt) an die Zeit zurück, als Grimmelshausen in Kriegswirren entführt wurde. Georg Fritsch erinnert im Standard an seinen vor 100 Jahren geborenen Vater, den Schriftsteller Gerhard Fritsch. In der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Schriftsteller Gert Heidenreich zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Deniz Ohdes "Ich stelle mich schlafend" (taz), Rebecca F. Kuangs "Yellowface" (Standard), eine vom Kafka-Biografen Reiner Stach kommentierte Neuausgabe von Franz Kafkas "Der Process" (Standard), Kerstin Hensels "Die Glückshaut" (taz), Stefanie de Velascos "Das Gras auf unserer Seite" (FR), Pedro Almodóvars Storyband "Der letzte Traum" (NZZ), Delafs nach Franquin gestalteter Comic "Gaston. Die Rückkehr eines Chaoten" (Welt), eine Arte-Doku über Art Spiegelmans Comicklassiker "Maus" (Tsp), eine von Charly Hübner und Caren Miosga gelesene Aufnahme von Uwe Johnsons "Jahrestage" (online nachgereicht von der Zeit), neue Kinderbücher (taz) und Maren Kames' "Hasenprosa" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Auf der Medienseite der SZ ärgert sich Aurelie von Blazekovic, dass der WDR Nina Gladitz' in den frühen Achtzigern von Leni Riefenstahl erfolgreich in den Giftschrank geklagten Dokumentarfilm "Zeit des Schweigens und der Dunkelheit" (mehr dazu hier) allenfalls für Festivals freigibt, aber nicht im linearen Programm oder wenigstens in der Mediathek zeigen will. Dabei ist der Film einerseits inhaltlich historisch längst bestätigt und das vom Riefenstahl erlassene Unterlassungsurteil seit 2017 verjährt. Der Sender macht Einwände bezüglich der Standards für diese Entscheidung geltend: "Der Sender bemängelt, dass keine Historiker zu Wort kommen, außerdem den technischen Standard mit wackelnden Texttafeln, das zeittypische Bildformat 4:3. Ohne Gerhard Beckmanns offenen Brief wäre der Film noch heute unter Verschluss. Man habe das Schreiben zum Anlass genommen, erklärt eine WDR-Sprecherin, den Film und die archivierten Akten erneut zu sichten. 'Nach Abschluss der Prüfung sehen wir die Bedeutung des Films für die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufarbeitung der Ausgrenzung und Ermordung von Sinti und Roma während des Nationalsozialismus.' Ein Fachpublikum könne man dem Film mit Einordnung aussetzen. Den Fernsehzuschauer? Nein. 'Einige Redakteure in den öffentlich-rechtlichen Anstalten meinen sehr genau zu wissen, was das Publikum will und was nicht und was sie ihnen zumuten können', sagt Sabine Rollberg, die heute als Professorin für Film und Fernsehen in Freiburg lehrt und beim WDR in Rente ist. Nun ja, auf Youtube kursiert immerhin das Digitalisat einer VHS-Aufnahme der Erstausstrahlung:



Weiteres: Für einen Filmdienst-Longread durchstreift Patrick Holzapfel die Filmografie von Marlon Brando, der am kommenden 3. April 100 Jahre alt geworden wäre. Thomas Klein denkt im Filmdienst anhand von Martin Scorseses "Die letzte Versuchung Christi" über das Heroische im Kino nach. Besprochen werden Jessica Hausners "Club Zero" (Welt, unsere Kritik), ein auf AppleTV+ gezeigter Porträtfilm über Steve Martin (Zeit Online) und die RTL-Serie "Disko 76" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Achim Freyer bei der Verleihung des Nestroy-Theaterpreises 2015. Foto: Manfred Werner - Tsui unter CC-Lizenz.
Der Regisseur, Bühnen- und Kostümbildners Achim Freyer wird 90 Jahre alt. Es gratulieren Peter von Becker im Tagesspiegel, Ingeborg Ruthe in der FR und Wolfgang Schreiber in der SZ. Im Interview mit der FAZ erinnert sich Freyer an die Zeit, als Kunst noch keine Ware war, im Untergrund der DDR: "Eine sehr gute, aber harte Zeit, als Kunst öffentlich unterdrückt wurde, sehr sublim. Man sprach von 'Kunst', meinte damit aber nur eine bestimmte: eine dienende für die Gesellschaft. Da die Partei immer alles wusste, wie etwas aussehen muss und was Kunst ist, gab es keine Chance, dass öffentlich etwas ausgestellt würde, was nicht sofort verstehbar ist. Genau dort aber fängt Kunst an. Wir wollen auf unserer Suche, unserer Forschungsreise das Nicht-Aussprechliche aussprechen."

Weitere Artikel: Manuel Brug besucht für die Welt die lettische Mezzosopranistin Elina Garanca in Wien bei Proben zu "Parsifal". In der FAZ gratuliert Andreas Rossmann dem "letzten Prinzipal des deutschsprachigen Theaters", Roberto Ciulli, zum Neunzigsten.

Besprochen werden Ronny Jakubaschks Adaption von Gabriele Tergits Roman "Effingers" am Staatstheater Karlsruhe (nachtkritik), Ferdinand Schmalz' "hildensaga" am Deutschen Theater Berlin (nachtkritik, Tsp), Wagners "Parsifal" in der Inszenierung von Kirill Serebrennikov mit Elīna Garanča als Kundry (Standard) und Strauss' "Elektra" mit Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern im Festspielhaus Baden-Baden (NZZ).
Archiv: Bühne

Musik



Mit ihrem neuen Album "Cowboy Carter" erobert Beyoncé nicht nur die Streaming-Charts und Social Media wie im Sturm, sondern auch die brav den Gesslerhut werfenden Feuilletons. Wie der Vorgänger von 2022, "Renaissance, Act 1", ist auch dieses Album wieder eine musikarchäologische Grabungsarbeit - diesmal allerdings in den Archiven des Country. Mit ihrer Vorab-Single "Texas Hold'em" dominiert sie, als erste schwarze Frau überhaupt und übrigens tatsächliche Texanerin, seit Wochen die Country-Charts in den USA. Diese "Renaissance der Hillbilly-Musik ist eine dialektische Provokation, ein feierliches, fröhliches Bekenntnis zum konservativen Süden und zu ihrer Herkunft mit der Botschaft: Country, älter, männlich, weiß, ist ein Klischee und kann auch jünger, weiblich, schwarz sein und für alle da", schreibt Michael Pilz in der Welt. "Dabei war weißer Country immer schon ein Märchen, eine amerikanische Legende. ... Wo der Country herkam, aus den Appalachen und dem Hinterland der Südstaaten, lebten bekanntlich nicht nur Weiße. Mit den schwarzen Sklaven hatten sich die weißen Siedler auch gewisse Spielarten der afrikanischen Musik ins Land geholt. Ohne den Blues der schwarzen Landarbeiter hätte es den Country nie gegeben." Hier covert Beyoncé Dolly Partons "Jolene" (Parton selbst tritt in einem kleinen Einspieler und in einem Duett auf dem Album in Erscheinung).



"Es geht bei Beyoncé also mal wieder um Rückeroberung", schreibt Julia Lorenz auf Zeit Online und staunt, "wie ernsthaft, wie frei von Brüchen oder Twists die stets ostentativ geschmackssicher agierende Beyoncé mit Spezifika, sogar Klischees des Genres Country umgeht". Aber Lorenz packt hier und da doch auch leiser Zweifel: "Egal, wie respektvoll sie ihre Vorgängerinnen und Vorgänger mit Credits und Querverweisen zu ehren versucht: Giganten glaubt man so schrecklich schwer, dass sie auf den Schultern von Giganten stehen. ... Im besten Falle schärft ein Star wie Beyoncé das popkulturelle Geschichtsbewusstsein ihres Publikums", doch "im schlechtesten Falle überschreibt sie eben jene übersehenen, übergangenen Stimmen, auf die sie aufmerksam machen will, mit ihrem eigenen Highperformertum."

Weiteres zu Beyoncés Album: Für Pop-Philologen ist dieses Album ein gefundenes Fressen, ein reich gefüllter Steinbruch, jubelt Joachim Hentschel in der SZ nach dem ersten Hördurchgang. Jonathan Fischer erzählt auf Zeit Online die Diskriminierungsgeschichte schwarzer Musiker im Country. In der NZZ zeichnet Ueli Bernays Beyoncés künstlerischen Werdegang vom Nineties-Girlie-Pop unter der Fuchtel ihrer Eltern zum emanzipierten Autorinnen-Pop der Gegenwart nach. Weitere Besprechungen außerdem im Standard und auf FAZ.net.

Außerdem: FAZ-Kritiker Clemens Haustein betrachtet mit dem neuen, vom RIAS-Kammerchor eingesungenen Audio-Guide die zwölf Passionsbilder in der Berliner Gemäldegalerie: Diese "herausragend schönen Aufnahmen ermöglichen beglückende Bildmeditationen". In der taz annonciert Katja Kollmann die Tour des ukrainischen Quartetts DZ'OB. Vor fünfzig Jahren legte Punk mit dem ersten Auftritt der Ramones seine Initialzündung hin, schreibt Karl Fluch im Standard. Günther Haller erinnert in der Presse an Anton Bruckners Kindheit.

Besprochen werden die Wiederaufführung von Jonathan Demmes Konzertfilmklassiker "Stop Making Sense" mit den Talking Heads (Jungle World), André Hellers Bühnencomeback in der Hamburger Elbphilharmonie (Standard) und das Comeback-Album der Libertines (WamS). Wir hören rein:

Archiv: Musik
Stichwörter: Beyonce, Country