Efeu - Die Kulturrundschau

Alles kann ein Gott sein

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07.08.2023. Pavel Girouds Dokumentarfilm über die Padilla-Affäre beschwört die Gespenster vergangener Debatten herauf und rührte Mario Vargas Llosa zu Tränen, erzählt die FAZ. Berlin scheint nicht zu verstehen, welchen Wirtschaftsfaktor die Berlinale darstellt, sagt die Festivalgeschäftsführerin Mariette Rissenbeek im Deadline-Interview. Die Schriftstellerin Malinda Lo fürchtet in der SZ, dass christliche Frömmler in den USA demnächst noch Michelangelo verbieten. Mit Vivaldis Oper "Olimpiade" bei den Innsbrucker Festwochen erlebt sie ein grandioses Comeback hoher Männerstimmen. Und HipHop wird auch mit fünfzig längst nicht müde, freut sich die Welt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.08.2023 finden Sie hier

Film

Bemerkenswert offen spricht die 2024 scheidende Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek in Deadline über die finanziellen Probleme ihres Festivalls: etwa vier Millionen fehlen der Berlinale an Mitteln, 2025 kommen noch drei weitere obendrauf - vor allem aufgrund steigender Personal- und Grundkosten. "Ich verhandle gerade mit der Bundesregierung. Zugleich stellen wir unsere Strukturen neu auf, um die bestmöglichen Synergien von innen heraus zu erzielen. ... Und wir sprechen mit der Stadt Berlin, ob sie ein Budget hat. Derzeit leistet sie keinerlei finanzielle Unterstützung. ... Eine Bank in Berlin hat 2019 errechnet, dass die Berlinale um die 100 Millionen in die Stadt bringt, während unser Budget bei 32 Millionen liegt. Der Senat scheint aber nicht willens zu sein, dieses Argument zu begreifen, oder vielleicht glaubt er, dass der Bund zugänglicher sein sollte. Es ist ein Kampf zwischen diesen beiden Seiten. Bis 2002 war die Stadt Eigentümerin der Berlinale. Damals war die Stadt sehr arm und überließ das Festival für einen Euro an den Bund."

67 statt 68: TV-Sheriff Eduard Zimmermann (Bild: ZDF/Renate Schäfer)

Mit dem Essayfilm "Kulenkampffs Schuhe" sorgte Regina Schilling vor einigen Jahren für viel Aufsehen und Austausch. Mit "Diese Sendung ist kein Spiel" zeigt das ZDF kommenden Donnerstag eine Art Nachfolger: Diesmal geht es um Eduard Zimmermanns Klassiker "Aktenzeichen XY", erklärt Bert Rebhandl, online nachgereicht in der FAS. Die Sendereihe begann etwa zeitgleich mit den Studentenprotesten in Deutschland, Schilling "lässt aber deutlich werden, dass sich im Publikum von 'Aktenzeichen XY . . . ungelöst' schon früh die Gegenbewegungen zu den Liberalisierungen formierten, von denen Deutschland heute umfassend geprägt ist. Oder dass Zimmermann mit seiner Pädagogik der Angst diesen Bewegungen monatlich neue Motive suggerierte. ... Auch Alice Schwarzer legte sich mit Zimmermann an, aus dem guten Grund, dass seinen Moderationen ein konservatives Familienbild zugrunde lag. Frauen, die allein ausgingen, waren grundsätzlich in Gefahr, Prostitution hingegen wurde beschwiegen, als dürfte es sie nicht geben. In den Anhalterinnen, die womöglich nach Mitternacht von einer Disco nach Hause zu trampen versuchten (oder gar von Zuhause einfach mal in die große, weite Welt), fand 'Aktenzeichen XY . . . ungelöst' eine Schlüsselfigur."

Weitere Artikel: Beim Filmfestival in Locarno hat sich der US-Produzent Ted Hope auf die Seite des Hollywood-Streiks gestellt, meldet Pascal Blum im Tages-Anzeiger. Tilmann Schumacher resümiert auf critic.de das Frankfurter Festival Terza Visione, das sich auf italienisches Genrekino spezialisiert hat (unser Resümee). Die Allianz Cinéconomie will den Filmstandort Schweiz stärken, meldet Gerhard Lob in der NZZ.

Besprochen werden Ben Wheatleys Horrorfilm "Meg 2" (Filmdienst), die ARD-Serie "37 Sekunden" (Zeit) und die Paramount-Serie "Slip" (FAZ).
Archiv: Film

Architektur

In der FAZ spricht sich die Kunsthistorikerin Gabi Dolf-Bohnekämper gegen die Umbennenung des Berliner Café Moskau in Café Kyiv aus: "Der Denkmalstatus des Café Moskau ist klar und verbindlich und wird durch die hierzu gesetzlich ermächtigten, ja verpflichteten Fachbehörden abgesichert. Ort, Form, Substanz, Erzählung und Name konstituieren Sinn und Wert des Denkmals. Klaus Wittkugels Leuchtbuchstaben an der Dachreling sind unentbehrliche Teile des Denkmals. Undenkbar, sie abzunehmen, ihr Leuchten abzuschalten oder sie mit anderen Buchstaben zu überblenden. Der Erbestatus des Cafés ist komplexer zu denken. Er bestimmt sich nicht nur durch Bewertungen von Fachbehörden und Wissenschaftlern, sondern auch durch die mit dem Bauwerk verbundenen Erinnerungen, Zugehörigkeitsgefühle und auch Konflikterfahrungen, vorzugsweise, aber nicht nur von ehemaligen Bürgern der DDR. Der Vorschlag des ukrainischen Botschafters lässt all dies unbeachtet."
Archiv: Architektur
Stichwörter: Café Moskau

Kunst

Kohei Nawa, PixCell-Reedbuck (Aurora), 2020. Courtesy the artist and Scai the Bathhouse / Tokyo Gendai art fair


In der NZZ unterhält sich Philipp Meier auf der Kunstmesse in Tokio mit dem japanischen Künstler Kohei Nawa über die Lehren des Shintoismus und die neuen Götter der Postmoderne, KI und Big Data: "Wir glauben uns heute von Göttern befreit zu haben, aber wir folgen diesen neuen Autoritäten oft blind wie die Menschen im Mittelalter ihren Königen...Die japanischen Inseln sind das Zuhause von rund acht Millionen Göttern. Alles kann ein Gott sein: Wasser, Steine, ein Berg, ein Baum. Daher kann sich niemand eine klare Vorstellung von einem Gott machen. Aus diesem Grund ist das Innere eines Shinto-Schreins leer. Das passt zu unserer diversen Zeit. Wir können uns Religionen und Überzeugungen aussuchen und unter ganz verschiedenen Ideen und Vorstellungen auswählen. Da können überall Götter sein. Das ist die große Herausforderung unserer Zeit."

Besprochen werden die Ausstellungen "Lee Miller. Fotografin zwischen Krieg und Glamour" im Bucerius Kunstforum in Hamburg (taz), "Judit Reigl. Kraftfelder." in der Neuen Nationalgalerie in Berlin (FR) und "Himmlischer Barock - Jürgen Ovens" im Schleswiger Dom (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Kathleen Hildebrand unterhält sich in der SZ mit der amerikanischen Autorin Malinda Lo, deren Jugendroman "Last Night at the Telegraph Club" (neben vielen weiteren Büchern) von fundamentalistischen Christen in den USA mit systematischen Kampagnen aus Bibliotheken getrieben wird - weil es in dem Roman um eine lesbische Liebesbeziehung geht. "Die Bücher werden als pornografisch bezeichnet. Sie sagen, dass sie Kinder groomen. Aber sie verwenden diesen Begriff bewusst falsch, als würde das Lesen über Homosexualität homosexuell machen. ... Die Verwendung in diesem falschen Sinne ist eine Rückkehr zu älteren, homophoben Ängsten. Es ist paradoxerweise schwer, gegen solche Vorwürfe zu argumentieren, weil sie einfach nicht wahr sind. Die Bücher, die da verbannt werden, haben Preise gewonnen. In literarischen Werken kann Sex vorkommen, ohne dass sie dadurch gleich zu Pornografie werden. ... Es ist, als würde man Michelangelos David verbannen, weil er pornografisch ist." Wollen wir hoffen, dass dies die frömmelnden Dummköpfe nicht auf Ideen bringt.

Der Standard unterhält sich mit der Schriftstellerin Mareike Fallwickl, die sich mehr Romane aus weiblicher und queerer Perspektive wünscht. Dass Benjamin von Stuckrad-Barre für "Noch wach?" als großer MeToo-Autor gefeiert wurde, hat sie, die bereits 2019 mit "Das Licht ist hier viel heller" einen MeToo-Roman geschrieben hat, zwar nicht sauer gemacht, aber doch überrascht: "In meinem Roman geht es um einen Schriftsteller, der sich die Geschichten von Frauen aneignet und daraus einen Roman macht. Damals meinten einzelne Stimmen, damit käme heute kein Mann mehr durch. Dann hat Stuckrad-Barre genau das gemacht und wurde dafür gefeiert. Es hat sich für mich angefühlt, als ob die Romanhandlung wahr geworden wäre."

Paul Ingendaay hat in Madrid den Filmemacher Pavel Giroud getroffen, dessen Essayfilm "The Padilla Affair" seit einigen Wochen für Wirbel sorgt (unser Resümee zur Deutschlandpremiere beim Filmfest München). Heute fast kaum noch erinnert, entfachte die Inhaftierung und im Anschluss wohl unter Folter erzwungene "Selbstkritik" des Schriftstellers Heberto Padilla im Jahr 1971 eine brennende Kontroverse in der literarischen Intelligenz. "Dank Girouds Film hat die moralische Dimension der Padilla-Affäre die Kraft, den Zuschauer auch gut fünfzig Jahre nach dem Geschehen aufzuwühlen. ... Padilla blieb auch in den Augen vieler Kollegen ein Gezeichneter. Einer von ihnen, der Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa, war erschüttert, als Giroud ihm jetzt in Madrid seinen Film zeigte und die Gespenster der damaligen Debatte wachrief. Zuvor hatte er nicht geglaubt, Padilla habe der Welt eine Botschaft senden wollen; nun erkannte er seinen Irrtum. 'Es machte Vargas Llosa traurig', sagt Giroud, 'dass er es Padilla nicht mehr sagen konnte.'"

Weitere Artikel: Axel Halling bilanziert im Tagesspiegel-Gespräch mit Lars von Törne zehn Jahre Comicförderung in Deutschland: "Das könnte immer noch viel mehr sein, aber die Richtung stimmt." Die Schriftstellerin Antonia Baum erzählt auf ZeitOnline von Ärger am "Super-Bürgi-Spielplatz". Georg Stefan Troller erinnert sich in der Literarischen Welt (online nachgereicht) an seine Begegnung mit der Witwe des Schriftstellers Rudolf Borchardt. Alexander Grass erinnert in der Zeit an den Schriftsteller Plino Martini. Der Standard veröffentlicht ein Gedicht von Michael Krüger.

Besprochen werden unter anderem Emmanuel Carrères "V13 - Die Terroranschläge in Paris" (Standard, Zeit), Olga Martynovas "Gespräch über die Trauer" (Standard), Tomer Dotan-Dreyfus' "Birobidschan" (Zeit), Marko Martins "Brauchen wir Ketzer?" (FR), Alison Bechdels Comic "Fun Home - Eine Familie von Gezeichneten" (Standard), Manuel Fiors Comic "Hypericum" (taz), Mario Wurmitzers "Es könnte schlimmer sein" (Standard), Stephan Lohses "Das Summen unter der Haut" (FR), neue Bücher über Thomas Manns Leben und Werk (Standard), Emma Clines "Die Einaladung" (NZZ) und neue Krimis, darunter Nicola Lagioias' "Die Stadt der Lebenden" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Norbert Hummelt über Rainer René Muellers "... man nennt es Glück":

". . . vielleicht auch Trauer. Man
nennt es Glück : das
Hinhauchen von Dolden ..."
Archiv: Literatur

Bühne

Bruno de Sà (Aminta) & Bejun Mehta (Licida) © Birgit Gufler 

Antonio Vivaldi war ein toller Opernkomponist, erfährt SZ-Kritiker Helmut Mauró mal wieder mit der Aufführung der "Olimpiade" bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik. Aber nicht nur deshalb ist diese Aufführung außergewöhnlich, so Mauró. Regisseur Stefano Vizioli und Dirigent Alessandro De Marchi bringen hier die damalige Mode hoher Männerstimmen zurück auf die Bühne: es singen die Countertenöre Raffaele Pe und Bejun Mehta sowie der Sopran Bruno de Sà aus São Paulo. Dessen Darstellung des Aminta ist für den Kritiker das Glanzstück des Abends: "Wo das Komponierte nicht hinreicht, dürfen freie Kadenzen hinzuimprovisiert werden bis in höchste Höhen und in rasenden Läufen wieder herunter. Bruno de Sà singt sie so perfekt und klangschön, dass das gerade noch belustigte Publikum still wird vor Bewunderung. Das sind große musiktheatralische Momente, in denen klar wird, dass nicht nur der Opernkenner, sondern auch der musikalische Laie eine Ahnung haben kann. Denn natürlich ist das ja alles nicht. Die Männer, die mit Kopfstimme singen in der hohen Stimmlage von Frauen und dabei dennoch männliche Helden verkörpern. Hat man damals Geschlechter anders empfunden, mit einer grundlegend anderen Klangästhetik konnotiert? Offenbar".

Weitere Artikel: Taz-Kritiker Uwe Mattheis resümiert das ImpulsTanz-Festival in Wien: Was viel der Performances verbindet ist ihre Nähe zum "posthumanistischen Zeitgeist".

Besprochen wird Markus Poschners und Roland Schwabs Inszenierung von Wagner "Tristan und Isolde" bei den Bayreuther Festspielen (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

50 Jahre HipHop - Daniel Haas gratuliert in der Welt dem versatilsten und aufregendsten Popgenre der Gegenwart. Das erfolgreichste ist es eh: Schon längst hat es alle anderen Popgenres in Sachen Publikumsgunst und Umsatz auf die hinteren Plätze verwiesen. Denn "HipHop wird niemals müde. HipHop ist niemals erschöpft. Andere Genres nutzen sich ab, werden selbstzufrieden, bewirtschaften, eitel und träge geworden, mit dem immer gleichen Sound ihren Nimbus." HipHopKünstler hingegen "mischen die selbstzufriedene Kulinarik der Konkurrenz mit immer neuen Kreuzungen und Aufpropfungen von Stilen und Klängen auf. ... HipHop ist Weltliteratur, ein gigantischer Textfundus, in dem nicht nur die leidvolle Geschichte Afroamerikas fortgeschrieben wird, sondern auch die aktuell relevanten Diskurse zirkulieren."

Weitere Artikel: In der NZZ wirft Marco Frei einen Blick auf die Karriere der Dirigentin Nathalie Stutzmann, die aktuell in Bayreuth den "Tannhäuser" dirigiert (unser Resümee) und dabei  "die tückische Akustik in Wagners Festspielhaus mustergültig gemeistert hat, und das auf Anhieb". Gerald Felber resümiert in der FAZ die Bachwoche Ansbach. In der NZZ gratuliert Marianne Zelger-Vogt der Sopranistin Antigone Sgourda zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden das Konzert des Asian Youth Orchestras beim Berliner Festival Young Euro Classic (Tsp), Georg Nigls Liederabende bei den Salzburger Festspielen (SZ) und das Album "Yawning Abyss" von Creep Show ("Schöner lässt sich kaum dem Untergang entgegentänzeln", frohlockt tazlerin Stephanie Grimm).

Archiv: Musik
Stichwörter: Hiphop, Tannhäuser