Bücherbrief

Rache an der Berlin-Mitte-Literatur

05.02.2018. Fernando Aramburu erzählt plastisch und überwältigend vom ETA-Terror im Baskenland. Madeleine Thien erinnert in anmutig schwingender Sprache an die Brutalität der chinesischen Kulturevolution. Arno Geiger ist mit "Unter der Drachenwand" auf der Höhe seines Schreibens angekommen. Andreas Bähr erklärt, wie ein "grausamer Komet" den Dreißigjährigen Krieg beeinflusste. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Februar.
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Weitere Anregungen finden Sie der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Angelika Klüssendorf
Jahre später
Roman
Kiepenheuer und Witsch, 160 Seiten, 17 Euro



"Jahre später" ist der dritte Teil eines an die Lebensgeschichte der Autorin angelehnter Romanzyklus um April, eine Frau, die in ziemlich brutalen Familienverhältnissen in der DDR aufwächst ("Das Mädchen"), im Leipzig der frühen Siebziger und später im Westen nach einem physischen wie emotionalen Ort für sich sucht ("April") und "Jahre später" von der Ehe mit einem egozentrischen Chirurgen erzählt. Die Rezensenten sind allesamt hingerissen von der unsentimentalen Erzählweise Klüssendorfs, ihrer präzisen Analyse der scheiternden Ehe, des Ehemanns, sich selbst. Dass Klüssendorf in der Zeit, von der sie erzählt, mit dem späteren FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher verheiratet war, nehmen die Kritiker zur Kenntnis, aber ein Enthüllungsroman ist "Jahre später" nicht. Vielmehr iobt etwa Ijoma Mangold in der Zeit die Diskretion und die Form, mit der die Autorin "psychologische Urmuster" herausarbeitet. SZ-Kritiker Jens Bisky bewundert die kunstvolle Konstruktion des Romans, seine suggestive Darstellung instabiler Verhältnisse und Beziehungen und eine Unmittelbarkeit des Berichtens, die laut Rezensent in Spannung steht zur Selbstbeobachtung der Figuren. Wunderbare Prosa, findet er. Und für den taz-Rezensenten Stephan Wackwitz die Trilogie schlicht der "Anton Reiser der wiedervereinigten Republik".

Fernando Aramburu
Patria
Roman
Rowohlt Verlag, 907 Seiten, 25 Euro



In Spanien längst ein großer Erfolg, verschlägt Fernando Aramburus Roman "Patria" - Deutsch: Heimat - über den Bürgerkrieg im Baskenland auch hierzulande den KritikerInnen den Atem. "Überwältigend und machtvoll", jubelt etwa Zeit-Kritikerin Friederike Oertel, nachdem sie die auf 750 Seiten, aber in sogkräftiger und kristalliner Sprache erzählte Saga über zwei durch den ETA-Terror unheilvoll miteinander verstrickten Familien gelesen hat: Sämtliche Aspekte der baskischen Auseinandersetzungen - vom Narrativ des ausgebeuteten Volkes über den bewaffneten Kampf bis hin zum Verschleiern der Opfer - sind hier im Privaten angelegt, staunt sie. Spannung, Facettenreichtum und Plastizität vor allem in der Zeichnung der eindringlichen, vertraut wirkenden Figuren attestiert auch SZ-Kritiker Ralph Hammerthaler dem Roman. Während Cornelia Geißler in der FR insbesondere Humor und Lesepausen in diesem gelehrten und "emotional mitreißenden" Buch lobt, bewundert FAZ-Rezensent Mario Vargas Llosa neben Sprachmagie und subtiler Komposition vor allem Aramburus leidenschaftliches Plädoyer gegen den Nationalismus. Mit viel Lob bedenken die RezensentInnen auch die Übersetzung von Willi Zurbrüggen. Hymnische Besprechungen gibt es noch in Spiegel und DLF-Kultur. Und im taz-Interview spricht der Autor über seinen Roman und den Alltag des Terrors.

Madeleine Thien
Sag nicht, wir hätten gar nichts
Roman
Luchterhand Literaturverlag, 656 Seiten, 24 Euro



Von nicht weniger als den letzten hundert Jahren chinesischer Kultur und Geschichte erzählt uns die kanadische Schriftstellerin Madeleine Thien in ihrem großen Epos - und niemand Geringeres als Karl-Markus Gauß zieht in der NZZ den Vergleich mit den wichtigsten chinesischen Autoren der letzten Jahre - Liao Yiwu und Yiyun Li. Warum? Weil Thien am Schicksal der in Kanada aufgewachsenen Li-ling, deren Vater, ein Komponist, in China Selbstmord verübte, "aufwühlend" und voller Mitgefühl von Menschen erzählt, die an Musik und Schönheit im Alltag festhalten, während sie durch die Barbarei der Kulturrevolution zu Verrat gezwungen werden und Musiker wie Ravel, Schostakowitsch oder Debussy längst als Volksfeinde gelten, wie Gauß resümiert. Mehr noch: Wie Thien in "anmutig dahinschwingender" Sprache Historie, Politik und Privates verwebt, ringt dem Kritiker größte Anerkennung ab. Im DLF-Kultur möchte Gabriele von Arnim gar nicht mehr aus diesem Buch auftauchen - so dramaturgisch raffiniert erzähle Thien von den zerbrochenen, unbeugsamen wahren Helden Chinas, lobt sie. Noch ein Tipp: Ebenfalls sehr gut besprochen wurde Yan Liankes Roman "Die vier Bücher" über die Zeit der großen chinesischen Hungersnot.

Arno Geiger
Unter der Drachenwand
Roman
Carl Hanser Verlag, 480 Seiten, 26 Euro



Meisterwerk! Arno Geiger ist auf der Höhe seines Schreibens angekommen!, jubeln die Kritiker den neuen Roman, der sie an der Seite des im idyllischen oberösterreichischen Mondsee unter Pervitin-Einfluss rekonvaleszierenden Wehrmachtssoldaten Veit Kolbe auf die letzten Kriegsmonate zurückblicken lässt. In der FAZ staunt Andreas Platthaus, wie treffend der 1968 geborene Autor jene Atmosphäre zwischen Beklemmung und Glück einfängt, den Text immer wieder durch weitere Erzählstimmen, die vom Kriegsalltag berichten, durchbricht und die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion geschickt verwischt: Besser als Arno Schmidt oder Robert Seethaler, schwärmt er. Zeit-Kritikerin Iris Radisch merkt den von Geiger in dieser "genialen Authentizitätsfiktion" verwerteten Briefen und Tagebüchern dank des präzisen, "neusachlichen" Erzähltons nicht mal mehr die historische Distanz an, auch SZ-Kritikerin Meike Fessmann nennt den Roman ein Glanzstück der Empathie. Eindringlichkeit, Lebendigkeit und Feinfühligkeit lobt auch Jörg Magenau im DLF-Kultur, während Paul Jandl in der NZZ vor allem den Verzicht auf pädagagogische Untertöne schätzt. Weitere sehr gute Besprechungen in FR, Standard und Tagesspiegel. Im Interview mit DLF-Kultur spricht der Autor über den Roman.
 
Szczepan Twardoch
Der Boxer
Roman
Rowohlt Verlag, 464 Seiten, 22,95 Euro



Seit "Morphin" und "Drach", den ersten beiden Romanen von Szczepan Twardoch, sind die KritikerInnen ganz hingerissen von dem jungen  Schriftsteller, den sie als neuen Stern am polnischen Literaturhimmel würdigen. Mit dem "Boxer" entführt uns Twardoch nun an der Seite des charmanten jüdischen Kleinganoven Jakub Shapiro in die Warschauer Unterwelt des Jahres 1937, informiert FAZ-Kritikerin Marta Kijowska. ganz fasziniert von der gelungenen Mischung aus Krimi, Gangsterroman und historischer Fantasie. Dass Twardoch mit der Vorstellung vom Warschau der Zwischenkriegszeit als "Paris des Nordens" aufräumt, rechnet ihm die Kritikerin hoch an. Einigen Vulgarismen zum Trotz hat sie viel Spaß an dem Roman. Im DLF-Kultur attestiert Olga Hochweis diesem Thriller, der auch rechtsnationale und rechsradikale Bewegungen im Zwischenkriegs-Polen nachzeichnet, "virtuose" Sprache und ein Höchstmaß an Spannung und Action, vermisst allerdings Tiefe der Figurenzeichnung. In der Welt ist Richard Kämmerlings hin und weg von der Körperlichkeit dieses Romans, "grandios", urteilt Tobias Schwartz im Tagesspiegel.

Michael Wildenhain
Das Singen der Sirenen
Roman
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 22 Euro



Als "Rache der Berlin-Mitte-Literatur" der letzten Jahre liest FAZ-Rezensentin Katharina Teutsch den neuen Roman von Michael Wildenhain, zu dem sie am liebsten durch Randgebiete wie den Betriebsbahnhof Schöneweide oder bis zur Hellersdorfer Platte tanzen möchte. Denn die Geschichte um einen ehemaligen militanten Aktivisten und Hausbesetzer, der als Wissenschaftler zwischen Berliner Ex-Frau und Sohn und indischstämmiger Geliebter in London hin- und herpendelt, dabei an Liebesverwicklungen und "ideologischem Tourette-Syndrom" scheitert und auf Zeiten pfeift, in denen man mit "Rechten reden" muss, ist schön verschachtelt und rasant erzählt, lobt Teutsch. Auch SZ-Kritiker Jörg Magenau lässt sich gebannt von Wildenhains kunstvoller,  parataktisch gedrängter und zerfurchter Sprache in das Spannungsfeld von Körper und Geist, Trieben und Gefühlen, Natur und Kunst ziehen: Wildenhains Sätze sind mitunter "hingeschleuderte Wahrnehmungsbrocken" -  jedoch immer präzise, immer originell, schwärmt er. Nur im DLF-Kultur vermisst Wolfgang Schneider trotz eindringlicher Beschreibungen Londons oder der amerikanischen Provinz im Vorgefühl Trumps Stringenz der Handlung. Auch die Schilderungen des Liebeslebens des Heldens geraten ihm zu ausführlich.


Sachbuch

Andreas Bähr
Der grausame Komet
Himmelszeichen und Weltgeschehen im Dreißigjährigen Krieg
Rowohlt verlag, 304 Seiten, 19,95 Euro



Auch das Gedenkjahr an den Dreißigjährigen Krieg wird 2018 eine Flut von Jubiläumsschriften hervorbringen, aber Andreas Bährs Studie über die Bedeutung von Himmelszeichen und Prägung durch religiösen Glauben im Dreißigjährigen Krieg können die Kritiker schon jetzt wärmstens empfehlen: SZ-Rezensent Harald Eggebrecht schätzt den Berliner Historiker Bähr ohnehin für die Vorgehensweise individueller Tiefenschürfung, mit der dieser anhand von Einzelschicksalen Geschichte lebendig werden lasse. So verdankt er Bähr in diesem Band faszinierende und mitreißend erzählte Einblicke in zeitgenössische Wahrnehmungen jener Jahre, insbesondere im Hinblick auf die Himmelszeichen der Epoche, die etwa von Kepler oder dem Jesuiten Johann Baptist Cysat auf unterschiedliche Weise gedeutet wurden. FAZ-Kritiker Caspar Hirschi schätzt neben dem sorgfältigen Studium zeitgenössischer Quellen auch den zum Schluss geschlagenen Bogen zum Ersten Weltkrieg. Und für Richard Kämmerlings (Welt) ist das Buch gar das nicht fiktionale Pendant zu Kehlmanns neuem Roman "Tyll". In der SWR-Mediathek steht eine Diskussion mit Andreas Bähr, Thomas Macho und Ulrich Woelk zum Thema online.

Francois Jullien
Es gibt keine kulturelle Identität
Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur
Suhrkamp Verlag, 80 Seiten, 10 Euro



Erstaunlich, wie unterschiedlich man ein Buch lesen kann. Aus Francois Julliens Herleitung, dass es so etwas wie eine in sich abgeschlossene, gegen das "andere" zu verteidigende Kultur nicht gibt, schließt Dirk Pilz in der FR, dass der Universalitätsanspruch des westlich-europäischen Denkens in der Begegnung mit anderen Kulturen nur bedingt zu halten ist. Pilz findet diese Selbstrelativierung auf jeden Fall sehr lesenswert, zumal Jullien den Begriff des Universellen nicht aufzugeben und ein "rebellisches Universelles" zu fordern scheint. Mark Siemons erkennt in der FAZ nicht einfach eine Selbstrelativierung eines eigenen "westlichen" Universalismus, sondern sagt, dass Jullien die Vorstellung "sich scharf voneinander abgrenzender kollektiver Kulturen" verabschiede - also auch Abgrenzungsversuche anderer Kulturen. Auch er empfiehlt die Lektüre. Allerdings hätte er sich ein wenig mehr zur Idee des "Dialogs der Kulturen" gewünscht. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass es auf dem deutschen Buchmarkt auch eine scharfe Polemik "Gegen François Jullien" gibt - einen Streit unter Soziologen sozusagen. Julliens Kollege Jean François Billeter polemisiert hier gegen Julliens Blick auf China als einer "ganz anderen" Kultur.

Dennis Altman, Jonathan Symons
Queer Wars
Erfolge und Bedrohungen einer globalen Bewegung
Klaus Wagenbach Verlag, 160 Seiten, 18 Euro



Angesichts der Tatsache, dass homosexuelle Handlungen noch immer in 78 Ländern strafbar sind und in acht Ländern sogar mit der Todesstrafe geahndet werden, ist dieser schmale Band der australischen Wissenschaftler Dennis Altmann und Jonathan Symons ein wichtiger, findet Ingo Arend in der taz. Schockiert liest er in dieser Mischung aus "politischem Report und moralischer Streitschrift" über die Ächtung von Homosexualität rund um den Globus, von einem aktuellen sexualpolitischen "Rollback" am Beispiel Ugandas und erfährt, wie der Kampf um Gleichstellung weltweit zum politischen Instrument umfunktioniert wurde. So konstatieren die Autoren etwa das Aufkommen einer "Konservativen Internationale" von Russland über Brunei bis Indonesien und Uganda: Menschenrechten westlicher Prägung stellen diese Länder die "traditionellen Werte" entgegen, liest der Kritiker. Provokativ scheint Arend der Aufruf der Autoren an die LGBTQ-Szene, allzu aktivistisches Aufbegehren zu vermeiden. Auch ihr Vorschlag eines Dritten Weges der evolutionären Emanzipation wird für jede Menge Wirbel sorgen, prophezeit er, auch wenn dahinter kein Werterelativismus stecke.

David Motadel
Für Prophet und Führer
Die islamische Welt und das Dritte Reich
Klett-Cotta Verlag,, 568 Seiten, 30 Euro



Zwischen Hitler und den frühen Islamisten gab es eine Menge Bezugspunkte und echte Sympathien - das haben einige Studien in den letzten Jahren gezeigt. Auch der arabische Nationalismus berief sich gern auf die Nazis. David Motadel fasst laut Klappentext in dem Buch zusammen, welche Politik die Nazis gegenüber dem Islam führten und wie sie ihn zu instrumentalisieren versuchten. Tanjev Schultz ist in der SZ für die Studie dankbar: Dank der enormen Rechercheleistung Motadels, der dreißig Archive aus vierzehn Ländern auswertete, erfährt der Rezensent hier nicht nur, wie das nationalsozialistische Orientreferat versuchte, Großmuftis anzuwerben, sondern auch, wie "improvisiert" und wenig glaubwürdig die Islampolitik des NS-Regimes am Ende ausfiel. Positive Besprechung auch in der FAZ.

Rebecca Solnit
Die Mutter aller Fragen
Tempo Verlag, 200 Seiten, 15,99 Euro



 "Warum haben Sie keine Kinder?", das ist laut der amerikanischen Kulturhistorikerin Rebecca Solnit "die Mutter aller Fragen" und so lautet auch der Titel dieser, wie die KritikerInnen finden, lesenswerten Sammlung feministischer Essays zu sexueller Gewalt und Kinderlosigkeit im Speziellen und Wandelbarkeit unserer Vorstellungen im Allgemeinen. taz-Kritikerin Shirin Sojitrawalla schätzt Solnit ohnehin für ihren Scharfsinn und Humor und auch diese Texte bestechen einmal mehr durch Eingängigkeit und Kurzweile, meint sie: Herrliche Aperçus machen die Lektüre für die Rezensentin trotz der ein oder anderen fehlenden Antwort zu einem nachhaltigen Vergnügen. Ein wichtiges, radikales, Mut machendes Buch aus dezidiert feministischer Perspektive, meint im DLF-Kultur auch Katharina Döbler, die hier die "wohltuend kühl" erzählte Vorgeschichte der #MeToo-Anklagen liest. Während Spiegel-Kritikerin Silke Weber besonders Solnits Texte zu Frauen in der Literatur schätzt, hätte Zeit-Kritikerin Anja Kümmel gern auch mal eine andere Stimme als die einer weißen, bürgerlich-akademischen, anglozentrischen Cis-Frau im feministischen Diskurs gehört. Sehr gut besprochen wurden übrigens auch Solnits unter dem Titel "Wenn Männer mir die Welt erklären" vergangenes Jahr erschienene Essays aus den Jahren 2008-2014.