Bücher der Saison

Sachbücher

23.11.2016. Die Weltgeschichte aus östlicher Sicht. Die amerikanische Revolution und ihre Gegner. Das Leben Johann Sebastian Bachs. Das Splatter-Epos der Romanows. Die tollkühnen Pionier der Wettervorhersage: Die grenzenlose Gier nach Wissen.
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Geschichte

Es ist bekannt, dass die Wiege der Zivilisation nicht in Europa, sondern ein gutes Stück südöstlich stand. Dass diese Gegend als Naher beziehungsweise Mittlerer Osten geläufig ist, belegt für den britischen Historiker Peter Frankopan einen Eurozentrismus, der die Geschichtswissenschaft bis heute präge. In seinem Buch "Licht aus dem Osten" entwirft er eine Weltgeschichte, die nicht von Europa, sondern von Asien und dem Orient ausgeht. Kritiker monieren zwar eine manchmal missionarische Einseitigkeit, die darin gipfelt, dass dem Westen "provokativ genüsslich" der Abstieg, dem Osten der Aufstieg vorhersagt wird. Und doch haben die meisten das Buch mit Gewinn gelesen, weil es den Blick weitet. Dabei bietet es weniger neue Erkenntisse als vielmehr bisher "nicht hinreichend zur Kenntnis genommene Tatsachen", schreibt Thomas Schmid, der auch die "stupende Belesenheit" des Autors bewundert, in der Welt. "Wer Peter Frankopans Buch liest, sieht die Welt mit neuen Augen", stellt auch Urs Hafner in der NZZ fest, während Alexander Cammann in der Zeit die geradezu filmische Erzählkraft diser "hochaktuellen" Universalgeschichte hervorhebt. Nur der Konstanzer Globalhistoriker Jürgen Osterhammel ist in der FAZ mit dem Werk seines Oxford-Kollegen nicht einverstanden: statt eines geschichtstheoretisches Konzepts findet er nur die Standardthemen der Weltgeschichte abgehakt, in proportionell fragwürdiger Weise und mit gelegentlichen Ausrutschern in "Historienkitsch".

Überhaupt herrscht an erstklassigen historischen Neuerscheinungen in dieser Saison kein Mangel. Welche Epoche hätten Sie denn gern?

Angesichts der Ereignisse ist es vielleicht nicht falsch, Amerika an den Anfang zu stellen. Viel besprochen Michael Hochgeschwenders Studie über "Die Amerikanische Revolution" die auf 500 Seiten ein recht komplexes Bild der Umstürze zu zeichnen scheint. Die Kritiker heben nicht zu den allergrößten Begeisterungsstürmen ab - aber das beste Buch eines deutschen Historikers zum Thema ist es wohl doch. Im Detail wird deutlich, dass der Ausgang der Ereignisse längst nicht so klar auf der Hand lag, wie es im Nachhinein scheint, schreiben die meisten Rezensenten. Hochgeschwender zeige beispielsweise auf, dass, anders als häufig vermittelt, ein großer Teil der Amerikaner auf der Seite der Krone stand, und er befasst sich mit der Frage, warum die Amerikanische Revolution im Schatten der Französischen steht, schreibt Stephan Speicher in der SZ. Manfred Berg bemängelt in der FAZ das Fehlen von zeitgenössischen Stimmen. Für seine gute Lesbarkeit wird das Buch aber allenthalben gelobt. Laut Armin Pfahl-Traughber in hpd.de schildert Hochgeschwender auch das Zweiparteiensystem als eine Folge der Amerikanische Revolution, vielleicht ein Hinweis darauf, wie einschneidend die Wahl Trumps und die Krise der Republikanische  Partei tatsächlich sind.

Faszinierend klingt, was Harald Eggebrecht in der SZ (eigentlich eher als Musikkritiker bekannt) über Charles C. Manns Buch "Amerika vor Kolumbus" erzählt: So erfährt Eggebrecht hier etwa, dass die Urbevölkerung Amerikas zahlenmäßig keineswegs so klein war, wie lange angenommen, sondern immer mehr Berichte von vor Menschen "wimmelnden" Dörfern und Städten auftauchen. Darüber hinaus lernt der Rezensent, dass die Vorstellung von einer unberührten Wildnis, die die europäischen Entdecker angeblich angetroffen haben, mit Blick auf die bereits entwickelten Hochkulturen verschiedener Indianerstämme, die auch das Land kultivierten, längst hätte revidiert werden müssen. Das Buch ist in den USA schon vor einigen Jahren erschienen. "Was aufscheint ist eine epische Geschichte, eine Tragödie, deren Akzente sich verändert haben", schrieb damals Kevin Baker in der New York Times. "Trotz aller europäische Gräueltaten in Amerika war die Eroberung schon weitgehend vor ihnen abgelaufen - durch die Mikroben, die ankamen, bevor die Mensche in großer Zahl auftauchten."

Wer sich über die Genese der politischen Gegenwart informieren will, kann gleich nach Hochgeschwender zu Luuk van Middelaars Geschichte der EU "Vom Kontinent zur Union" greifen. Der niederländische Autor scheint zum Glück einigen Optimismus in Bezug auf Europa mitzubringen, wenn man dem SZ-Rezensenten Rezensent Thomas Kirchner glaubt. Zwar ist es Europa nicht geglückt, zu einem eigenen, vereinten Staat heranzuwachsen - und Kirchner ist sich mit van Middelaar einig, dass dieser Weg auch künftig versperrt sein wird. Doch auch die permanente "Vorhölle" der Staatenbildung sei kein Unglück, sondern von hohem Wert. Und wer sich fragt, ob wir überhaupt eine EU brauchen, werfe einen Blick in Ian Kershaws "Höllensturz" über Europa zwischen 1914 und 1949.

Auch drei Bücher über Russland seien empfohlen. Simon Sebag Montefiore erzählt in seinem Historienschmöcker "Die Romanows" nach dem für Leser stets behaglichen Muster vom "Glanz und Untergang" der Zarendynastie. Das monumentale Buch ist bisher nur in der SZ besprochen, aber was Sonja Zekri erzählt, klingt schaurig und für die Gegenwart belehrend zugleich, ein "Glanz- und Splatter-Epos" sei das. Untergegangen sind dann ja nicht nur die Romanows, sondern mit ihnen die Hoffnung des Landes und seiner Bewohner auf einen Anschluss an Moderne, Demokratie und Wohlstand. Parallel dazu lässt sich "Die Armee der namenlosen Revolutionäre" lesen, die Revolutionschronik des russischen Schriftstellers Michel Matveev. Dass sie nun erstmals auf Deutsch erscheint, grenzt für Luisa Marie Schulz (FAZ) an ein kleines verlegerisches Wunder. Auch wenn ihr der Autor keinen erschöpfenden Überblick über die Geschehnisse von 1905 zu geben vermag, sondern eher aus der Froschperspektive berichtet, von Metallarbeitern, Schustern und Tischlern auf dem Weg in die Revolte, aber das ist ja genau das, was bei den Romanows fehlt. Spannend klingt auch Gabriel Gorodetskys große Präsentation der "Maiski-Tagebücher" bei C.H. Beck, die noch nicht in die Feuilletons Eingang fand. Iwan Maiski war unter Stalin Botschafter in London und erzählt den Zweiten Weltkrieg aus einer ganz eigenen und durch die Anlage als Tagebuch besonders spannenden Perspektive. Der israelische Historiker Gabriel Gorodetsky hatte im letzten Jahr im Boston Globe von seinem spektakulären Tagebuch-Fund berichtet (unser Resümee).

Mehr für das Lesevergnügen empfohlen, ohne allzu starke Anklänge an Aktualität, seien Arnold Eschs Studie über Rom vor der Reformation die Stephan Speicher in der Zeit durch ihre geschickte Verknüpfung von großer Geschichte und kleinen Lebenswelten bestrickte, sowie wie Geert Maks faszinierende Geschichte der Patrizierfamilie Six, die in die Geschichte des Goldenen Zeitalters der Niederlande eingebettet ist

Unter den zahllosen Luther-Neuerscheinungen der Saison ragt Lyndal Ropers ausnahmslos gefeierte Biografie "Der Mensch Martin Luther" eindeutig heraus. Zu den Rezensenten zählte der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann - selbst Autor eine aktuellen Geschichte der Reformation - der sich in der FAZ freute, dass er in Ropers Biografie auch originelle Perspektiven und Akzente, wie den Blick auf das mansfeldische Bergbaumilieu, Luthers Lebensfreundschaften oder seine Wahrnehmung der Körperlichkeit fand. Diese spielt eine besondere Rolle, betonen alle Kritiker. Luther war drastisch, der Sexualität nicht feindlich gesonnen. Und Röper versuche Luther erstmals "leibseelisch" zu begreifen, so Elisabeth von Thadden in der Zeit, die erzählt, das Roper zehn Jahre lang die osteuropäische Provinz auf sich nahm, um die Quellen zu Luther zu studieren und zu bündeln. Schon vor vier Jahren legte Heinz Schilling seine ebenfalls viel empfohlene Luther-Biografie vor.


Musik

Über Johann Sebastian Bach kann man nicht einfach so Biografien schrieben: Man weiß viel zu wenig über sein Leben. Also muss es schon um "Bachs Welt" gehen - und das ist ja auch sinnvoll, denn diese Welt ist trotz der ungebrochenen Kraft seiner Musik doch recht ferngerückt. Volker Hagedorn, bekannt als Musikkritiker der Zeit, hat's unter genau diesem Titel versucht und bekommt viel Lob von seinen Kritiker-Kollegen. Die Welt Bachs wird tatsächlich in kräftigen Farben ausgemalt - und SZ-Kritiker Harald Eggebrecht versichert in der Zeit (Hagedorns Hausmedium), selten ein derart humorvolles, fesselndes und sogar "poetisches" Buch über Musik gelesen zu haben. Das Musikleben in Arnstadt, Erfurt oder Eisenach und die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, die Pest-Zeit auch - all das hat zur Musik Bachs beigetragen, so Martin Ebel in der Welt. Gelobt wird auch das Bach-Buch des Dirigenten John Eliot Gardiner. Auch nicht eigentlich eine Biografie, erläutert Eleonore Büning in der FAZ: Die großen Chorwerke, Kantaten, Messen und Passionen haben es ihm angetan. Und hier wird Gardiner ganz klar und subjektiv, ja flammend, stellt Büning fest.

Im Pop-Bereich wurde Bruce Springsteens Autobiografie "Born to Run" viel gefeiert: Sie dürfte auch vor dem Hintergrund der amerikanischen Wahlen interessant sein, denn Springsteen kommt aus jener weißen Arbeiterklasse, deren Verfall zum Wahlergebnis beitrug. Springsteen erzählt von seinem brodelnden Elternhaus mit einem irischen Säufer als Vater und einer italienischen Mutter, von den harten Verhältnissen in New Jersey und vom Ehrgeiz, da herauszukommen und zwar groß, schreibt Springsteen-Fan Richard Ford in einer Buchbesprechung für die New York Times.

Weitere Musikbücher: Suhrkamp legt eine verdienstvolle Übersetzung von Vladimir Jankelevitchs musikalischen Schriften vor die in Frankreich legendär sind und laut Andreas Mayer in der FAZ als eine Art Gegen-Adorno gelesen werden können. Aus aktuellem Anlass sei auch auf "Die Stimmen aus der Unterwelt" hingewiesen, Heinrich Deterings Buch über die Texte Bob Dylans.


Kunst und Kulturgeschichte

Wenig Aufregendes besprachen die Feuilletons über Kunst. Cees Nootebooms prächtig ausgestatteter Band über Hieronymus Bosch (bestellen) gehört dazu: kein eitles Alterswerk, versichert Marko Martin in der Welt, sondern ein belesener Bericht voll aufmerksamer Beobachtungen, denen Nooteboom noch eine glaubhafte Portion aufrichtigen Staunens beizumengen vermag. Arno Widmann, ein großer Bewunderer Nootebooms, erzählt in seinem Perlentaucher-Nachttisch, wie es zu dem Band kam: "Da dieser Essay im Auftrag des Prado entsteht, darf er ran an die Bilder, wie sonst nur die Restauratoren. Er schürt den Neid des Lesers und ist doch in seiner Hilflosigkeit, was die Entschlüsselungen der Bedeutungen der Boschschen Bilderwelt angeht, ganz solidarisch mit ihm."

Weiterhin gelobt: David Hockneys, mit seinen 35 Kilogramm treffend betiteltes "A Bigger Book" eine Art künstlerische Autobiografie: In chronologischer Reihenfolge führt der Künstler durch sein verschiedenen Schaffensphasen und kuratiert so die "Ausstellung eines Lebenswerkes zum Durchblättern", schreibt Marcus Woeller in der Welt, der auf dieses Angebot gern eingegangen ist. Und der Essayband "Duchamp in Mexiko" der seinen Autor als schwurbelnden "Überwältigungskünstler" empfiehlt, der dem NZZ-Rezensenten Jörg Plath seinen Duchamp gleich ein halbes Dutzend Mal verkaufen kann.

Edmund de Waals "Die weiße Straße" ist eine ganz persönliche Geschichte des Porzellans, mit unglaublicher Leidenschaft erzählt, lobt eine hingerissene Rezensentin Susanne Kippenberger in der Zeit. De Waal, selbst Töpfer, kann geradezu filmisch genau beschreiben, lernt sie, er springt von einer Idee zur nächsten, von der Fabrik in ein Archiv und weiter zu einem Mönchskappenkännchen. Das liest sich für die Rezensentin wie ein überbordender Abenteuerroman. Der "sehr eigene, literarische Ton" des Autors und seine Fähigkeit, sachliche Informationen mit Reflektionen über die Schönheit des Handwerks und persönlichen Erinnerungen zu verblenden, hat auch den SZ-Rezensenten Ulrich Rüdenauer einfach bis zum Ende mitgerissen, obwohl Porzellan nicht unbedingt zu seinen Leidenschaften gehört. Schon im Bücherbrief empfohlen: Anja Meyerroses Studie über die Klassengesellschaften im 19. Jahrhundert am Beispiel der "Herren im Anzug"


Naturwissenschaften

Peter Moore erzählt in "Das Wetter-Experiment" von den tollkühnen Pionieren der Meteorologie. Die Armen machten sich oft zum Gespött ihrer Mitwelt, weil sie die Idee hatten, das Wetter voraussagbar zu machen, lernt Jennifer Stötzel (FR). Der Telegraf half ihnen bald dabei, dann wurden Korrespondentennetze aufgebaut und erste Wetterkarten gezeichnet - alles im 19. Jahrhundert. Das Buch schildert Stötzel als sehr instruktiv, manchmal in den Biografien zu ausführlich - und ausschließlich auf den britischen Beitrag zur Disziplin fokussiert. Aber alle Kritiker haben's mit Wonne gelesen.

Bisher nur einmal besprochen wurde Klaus Taschwers Recherche zum "Fall Paul Kammerer" - aber die Geschichte klingt so spannend und wurde von Michael Hagner in der FAZ so dringend empfohlen, dass hier darauf hingewiesen sei. Kammerer gehörte in den zwanziger Jahren zu jenen Vertretern eines linken Lamarckismus, die glaubten, dass auch erworbene Eigenschaften vererbt werden können, und daher Prävention, Hygiene, Bildung und Gleichberechtigung. Diesen zweiten Mechanismus der Evolution neben Darwins natürlicher Selektion hatte er mithilfe der Geburtshelferkröte nachweisen wollen, seine Forschungsergebnisse erwiesen sich jedoch bald als manipuliert, und Kammerer beging Selbstmord. Wer wie wo manipuliert - das ist laut Hagner faszinierend zu lesen. Hinzukommt, dass es sich hier um das vielleicht ideologischste Feld der Natursissenschaften handelnt - bis heute. Außerdem viel besprochen: Thomas Rids "Maschinendämmerung" eine kurzweilige Geschichte der Kybernetik.


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