Bücher der Saison

Romane und erzählende Literatur

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
12.04.2021. Juli Zeh zieht noch einmal ins Dorf Bracken, Dana Grigorcea fährt in die Familiengruft in Transsylvanien, Kazuo Ishiguro erzählt die Geschichte des Roboter-Mädchens Klara, Charlie Kaufman liefert 800 Seiten Wokeness und Aberwitz, Alexander Tisma blickt zurück auf sein Leben.
Die Leipziger Buchmesse fand aus den bekannten Gründen nicht statt, Ende Mai wird es stattdessen das Festival "Leipzig liest extra" mit der Verkündung des Buchpreises geben. Der Auftritt des Gastlandes Portugal wurde auf das nächste Jahr verschoben. Dennoch sollen Sie auch diese Büchersaison nicht auf gute Lektüre verzichten müssen! Wir haben die Neuerscheinungen der vergangenen Monate gesichtet und erstaunt festgestellt: Das große Thema ist nicht die Pandemie, stattdessen bewegten vor allem identitätspolitische Themen die Zeitungen (Unsere Resümees) und die Gemüter der Autoren. Auf die großen, meistbesprochenen Neuerscheinungen haben wir in unseren Bücherbriefen der vergangenen Monate schon hingewiesen: Bernadine Evaristos Roman "Mädchen, Frau etc." (Bestellen) wurde für Tempo und kritischen Witz gelobt, Mithu M. Sanyals Roman "Identitti" (Bestellen) überzeugte die KritikerInnen vor allem durch Differenziertheit, Humor und Wagemut, Sharon Dodua Otoos Roman "Adas Raum" (Bestellen) wurde als kunstvoll gebautes "Mosaik menschlicher Erfahrungen" von Identitäts- und Klassenunterschieden empfohlen. Den zweiten Teil der Saison bestreiten wir mit bekannten Namen wie Juli Zeh, aber auch spannenden Neuentdeckungen wie Claudia Durastanti oder Pola Oloixarac. Und nun:

Willkommen zu den Büchern der Frühjahrssaison 2021! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher in unserem Buchladen eichendorff21 bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den Perlentaucher. Wir bedanken uns im voraus und wünschen viel Spaß beim Stöbern.

Im kleinen Kreis: Deutschsprachige Literatur

Erstaunlich: Schon über den Titel knüpft Juli Zehs neuer Roman "Über Menschen" (Bestellen) an ihren Bestseller "Unter Leuten" (Bestellen) an - und doch ist das Buch bisher erst wenig rezensiert worden. Jörg Magenau hat die in dem fiktiven, ostdeutschen Provinznest "Bracken" spielende Geschichte über den Culture-Clash zwischen Dorf- und Stadtbewohnern allerdings schon für die SZ mit einiger Sympathie gelesen: Wenn er hier der vor der Coronakrise aufs Land geflohenen Städterin Dora folgt, die sich mit einem Dorfnazi anlegt und schließlich anfreundet, amüsiert sich Magenau bestens über die "witzigen und entlarvenden Dialoge". Zehs genaue Beobachtungsgabe lässt ihn gern über manches Klischee hinwegsehen. Für NDR-Kultur-Kritikerin Katja Weise ist es hingegen gerade das vermeintlich "Banale" des Romans, das für die Leser ein hohe Identifikationspotenzial bietet. Hinter dem "leichten" Anstrich verbirgt sich "harte Kost", meint sie. Auf Spiegel Online sieht Elke Schmitter über die "Übersichtlichkeit" des Romans dank einer gehörigen Portion "Ingrimm und Ironie" hinweg, Andreas Busche hat im Tagesspiegel allerdings schon bessere Entlarvungen des liberal-bürgerlichen Milieus gelesen.

Mit nach Transsylvanien nimmt uns die in Bukarest geborene Schriftstellerin Dana Grigorcea in ihrem neuen Roman "Die nicht sterben" (Bestellen). Die KritikerInnen folgen ihr fasziniert in die Familiengruft der Erzählerin. Es geht um eine junge Malerin, die auf dem Landsitz ihrer Tante Margot in der Walachei nicht nur eine Leiche, sondern auch das Grab von Vlad III. entdeckt und bald selbst vampireske Züge entwickelt. Im Dlf-Kultur ist Jörg Magenau begeistert, wie Grigorcea in ihrem so "schillernden" wie sinnlichen Schauerroman aus der postkommunistischen Gegenwart Erinnerungen an die Diktatur Ceausescus mit dem fantastischen Element des Vampirismus und zusätzlich mit der neokapitalistischen Gegenwart verbindet. Auch NZZ-Kritiker Roman Bucheli amüsiert sich prächtig, wenn die Autorin sich einen "maliziösen Spaß" daraus macht, die Toten mit den Lebenden, die Vergangenheit mit der Gegenwart und die städtische mit der ländlichen Bevölkerung Rumäniens zu kollidieren. Und bei so viel Witz, Anspielungen und einer Prise Tarantino verzichtet Zeit-Kritikerin Jutta Person sogar gern auf einen stringenten Plot. Sehr gut besprochen wurde auch Alem Grabovacs autobiografisch geprägter Roman "Das achte Kind" (Bestellen), der den jungen Alem begleitet, der als Sohn einer kroatischen Gastarbeiterin zur Hälfte bei ihr und zur Hälfte bei deutschen Pflegeeltern aufwächst. In der SZ staunt Fritz Göttler nicht nur, wie Grabovac das Schicksal von Einwanderern ganz ohne Opferperspektive skizziert, sondern er bewundert auch das Vermögen des Autors, dem Leser "subtil" die eigenen Vorurteile vor Augen zu führen.

Vorsicht! Jakob Noltes neuer Roman "Kurzes Buch über Tobias" (Bestellen) scheint uns einiges abzuverlangen. Aber die Lektüre lohnt sich, versichern die KritikerInnen. Wie durch unzählige geöffnete Tabs springt Tobias Langley-Hunt (FAS) durch das Buch, in dem Nolte laut Kritiker seine Kunst der Collage nochmal eine Spur überdreht. Bald erkennt er in der Geschichte um den Studenten, Autor, Prediger und YouTube-Guru Tobias, der in Hildesheim bei einem Vater und einer Mutter, die mal ein Junge war, aufwuchs, rastlos durch Leben und Welt streift, schließlich obdachlos wird und stirbt, aber die "digitale Gleichzeitigkeit" unserer Gegenwart. Ein genialer Erzähler, der nicht umsonst mit Thomas Pynchon verglichen wird, meint er. Und in der Zeit bewundert Anna-Lisa Dieter die leuchtenden Sätze in diesem sprunghaften und materialreichen "Anspielungswahnsinn". Mit "leuchtenden Augen" liest hingegen taz-Kritiker Moritz Baßler die in dem Band "Das Glück ist eine Bohne" (Bestellen) versammelten Gelegenheitstexte von Teresa Präauer. Wenn die österreichische Autorin hier von Après-Ski-Freuden, Jugendlektüren und italienischen Superhits von 1984 ebenso wie von Filmen, Fernsehshows und Musikvideos schreibt, erkennt Baßler bald das postironische, klug komponierte Programm des Buchs, das eine notwendige Kanonkorrektur vornimmt.


Eine tolle Entdeckung scheint auch dieser Roman zu sein, den uns der Schriftsteller Jochen Schimmang in der taz ans Herz legt: In "Punktlandung" (Bestellen) erzählt uns die Autorin Ute Christine Krupp von einem Juristen, der in der Terrorabwehr arbeitet, über eine gescheiterte Ehe hinwegkommen muss und noch immer darum kämpft, nicht wie sein Vater zu werden. Komplexe Figuren, wunderschöne Szenen, die Gabe, Trost aus unlösbaren Dingen zu ziehen und kluge Reflexionen über Grundrechte lassen Schimmang eine klare Leseempfehlung ausprechen. Auf den neuen Roman von Christian Kracht haben wir bereits in unserem Bücherbrief des Monats März hingewiesen: Krachts "Eurotrash" (Bestellen) über den "Erinnerungskampf" zwischen Mutter und Sohn wurde unisono für sein Raffinement, seine Erzählkunst und Märchenhaftigkeit gelobt.Lesenswert scheint auch "Zandschower Kliniken" (Bestellen) des deutschen Autors Thomas Kunst zu sein. Erzählt wird von paar Abgehängten vor einem Getränkemarkt in Zandschow. Wenn Kunst am Bierregal über Sklavenhandel, Piraterie und Revolution sinniert und allerhand "Sonderlinge" auftreten lässt, darunter den Auslandsleiter des DDR-Geheimdienstes oder die Märchenfigur Reh, findet Zeit-Kritiker Roman Lach die ganze Welt der Avantgarde in einem Roman. Und im Dlf Kultur entdeckt Frank Meyer gar Anleihen bei Ringelnatz, Robert Walser und Andreas Okopenko.


Nebenan: Literatur aus Europa

In "Die Fremde" (Bestellen) erzählt uns die italienische Autorin Claudia Durastanti, wie sie als Kind gehörloser Eltern zwischen Süditalien und den USA aufwuchs. Berührt lesen die KritikerInnen vom archaischen Süden und den Erfahrungen des Fremdseins in den USA, von familiärer Gewalt und der Rückkehr nach Italien, das Durastanti ebenfalls fremd erscheint. Humor und Empathie lassen nicht das Gefühl des allzu Privaten aufkommen, lobt Anna Vollmer in der FAZ. Einen "großen Wurf" nennt Andrea Seibel in der Welt das Buch, das ihrer Meinung nach aus der Vielzahl "banaler, ums eigene Ich kreisenden Entwicklungsgeschichten" heraussticht. SZ-Kritikerin Francesca Polistina bewundert, wie die Autorin Migration und Rebellion schildert und in ihrem Erzählen wechselt zwischen Poesie und Prosa. Im Literarischen Quartett des ZDF empfahl Jagoda Marinic das Buch. Autobiografisch geprägt und hochgelobt worden ist auch Dulce Maria Cardosos Roman "Die Rückkehr" (Bestellen). Die portugiesische Autorin erzählt uns hier aus der Perspektive eines zehnjährigen Jungen von der Vertreibung einer portugiesischen Siedlerfamilie aus der ehemaligen Kolonie Angola. Den Bürgerkrieg in Angola, die "Nelkenrevolution" in Portugal - all das deute Cardoso nur an, erläutert Dlf-Kultur-Kritiker Dirk Fuhrig, der hier vor allem von Umgewöhnung, Armut, Diskriminierung und familiärem Schweigen liest. Ein feinfühliger Entwicklungsroman, den Steven Uhly in einen "kühl-berichtenden, eindringlichen Duktus" übersetzt hat, lobt er.

Lana Bastasic wurde als Kind serbischer Eltern in Kroatien geboren und wuchs nach dem Zerfall Jugoslawiens in Bosnien auf. Von zerrissenen Identitäten handelt auch ihr Roman "Fang den Hasen" (Bestellen), der die Geschichte der beiden Freundinnen Leija und Sara aus Bosnien erzählt, die sich aus den Augen verloren, als Sara nach Irland ging. Die Suche nach einem verschollenen Bruder führt die beiden nach zwölf Jahren wieder zusammen. Wie die Autorin das Zusammentreffen der beiden Frauen nutzt, um die Unterschiede zwischen Ost und West kenntlich zu machen und dabei von unterschiedlich gelebter weiblicher Sexualität und unterschiedlichen Identitätsentwürfen erzählt, findet Norbert Mappes-Niediek in der FR großartig. Ein so politischer wie poetischer Roman, lobt Helmut Böttiger in der SZ. Um die Liebeswirren der Millennials geht es der in Dublin geborenen Autorin Naoise Dolan in ihrem Roman "Aufregende Zeiten" (Bestellen). Erzählt wird von der jungen Irin Ava, die nach Hongkong ausgewandert und die zwischen feministischen Idealen und der Frage, wie sie in der aktuellen Welt durchgesetzt werden können, hin- und hergerissen ist. Dem Vergleich mit Sally Rooney hält Dolan stand, meint Welt-Kritikerin Eva Biringer, die den Roman als faszinierenden Pageturner empfiehlt.


Und weiter: Literaturen der Welt

In den olympischen Höhen von James Joyce und Arno Schmidt verortet der SZ-Kritiker Fritz Göttler Charlie Kaufmans überintellektuellen, universell-eschatologischen Romankomplex "Ameisig" (Bestellen). Erzählt wird von dem Filmkritiker B. Rosenberg, dessen Wokeness sich weniger als Ausdruck liberaler Einstellung entpuppt denn als kleinliche Rechthaberei. Wenn sich dieser "verbissene Cineast" hier daranmacht, das verloren gegangene dreimonatige Riesenfilmwerk des Afroamerikaners Ingo Cutbuth zu rekonstruieren, amüsiert sich der Kritiker prächtig über all die Anspielungen, Seitenhiebe und Filmdiskurse. Aus "achthundert Seiten Aberwitz" wird am Ende für Göttler ein "Meisterwerk der Melancholie". Dlf-Kultur-Kritiker Fabian Wolff spürt Kaufmans Selbsthass auf jeder Seite des Buches. Für ihn liegt der Clou darin, wie der einst hoffnungsvolle Drehbuchautor in seinem Debütroman seine ganze Kunst der narrativen Spleens und den Typus des neurotischen jüdischen Intellektuellen noch einmal auffährt, um dann alles in einem grandiosen selbstzerstörerischen Akt gegen die Wand zu donnern. In die Trostlosigkeit der Lohnarbeit in den USA nimmt uns hingegen Hilary Leichter in ihrem Roman "Die Hauptsache" (Bestellen) mit. Wenn Leichter hier eine Frau mit vielen Jobs und wenig Liebe und Lebenssinn begleitet, liest sich das Buch für FAZ-Kritikerin Elena Witzeck wie eine Groteske oder Dystopie, aber "einprägsam" und obwohl scharfsinnig sozialkritisch dank der erzählerischen Könnerschaft der Autorin doch auch leicht und unangestrengt.

Bevor die in der argentinischen Provinz Cordoba geborene Transsexuelle Camila Sosa Villada als Schauspielerin gefeiert wurde, arbeitete sie als Prostituierte. Ihr Debütroman "Im Park der prächtigen Schwestern" (Bestellen) gewann in Lateinamerika wichtige Literaturpreise. Und auch taz-Kritikerin Marielle Kreienborg findet: Dieser Roman muss gefeiert werden! "Präzise und nüchtern", dann wieder voll schillernder Poesie erzähle die Autorin hier von ihrem Aufwachsen in prekären Verhältnisse und ihrem Ausbruch nach Córdoba, wo sie tagsüber studierte und nachts im Park anschaffte. Vor allem aber handelt ihre Geschichte von jenen Schicksalsschwestern, mit denen sie alles teilt - ihren Kampf, ihre Sehnsüchte, ihre Angst, ihre Drogen. Das Buch ist auch eine "Abrechnung" mit einer heuchlerischen Nation, die tagsüber verachtet, was sie nachts begehrt, schließt die bewegte Rezensentin. Im RBB-Kultur empfiehlt Sarah Murrenhoff das Buch. Für einen Skandal sorgte in Argentinien auch Pola Oloixaracs Roman "Wilde Theorien" (Bestellen), der drei junge Hacker im Buenos Aires der Gegenwart durch Online-Welten, Sexclubs und beim Versuch, Google Earth zu hacken, begleitet. In der FR lernt Stefan Michalzik Nerds zu lieben in dem Roman über junge argentinische Akademiker mit rebellischen Theorien zur Sub- und Internetkultur. Der von Matthias Strobel "exzellent" übertragene Roman scheint ihm zwar komplex durch die vielen Handlungsebenen, manchmal spröde, aber letztlich lohnend, auch durch Exkurse über Stammesriten, Homoerotik in Hellas, die machistische peronistische Linke oder Popkultur. Dass das Buch einen Skandal auslöste, weil es die verklärte argentinische Stadtguerilla Montoneros verlacht, liegt laut Dlf-Kultur-Kritiker Tobias Wenzel wohl auch daran, dass hier eine junge Frau ohne Zurückhaltung über Sexualität schreibt.

Ein Buch der Saison ist auch Kazuo Ishiguros Roman "Klara und die Sonne" (Bestellen). Der in Japan geborene Literaturnobelpreisträger erzählt uns hier die Geschichte des Roboter-Mädchens Klara, das ein Menschenmädchen mit der Kraft der Sonne von einer tödlichen Krankheit heilen will. Der Roman ist als Dystopie angelegt, vage wird eine in Klassen gespaltene, privatisierte Gesellschaft angedeutet, über allem liegt ein "Dunstschleier melancholisch-märchenhafter Selbstvergessenheit", meint Tobias Sedlmaier in der NZZ. Vor allem aber besticht der Roman durch die anspruchsvolle Behandlung moralischer Fragen mit "humanistischem Ernst", lobt er. "Easy reading auf hohem Niveau", attestiert ihm Katharina Granzin in der taz, während die im Buch gestellten Fragen der FAZ-Kritikerin Gina Thomas mitunter zu simpel ausfallen. Gut besprochen wurde auch Alaa Al-Aswanis Roman "Die Republik der Träumer" (Bestellen) über das Scheitern des Arabischen Frühlings. Der Text funktioniert hervorragend als Gegennarrativ zu den offiziellen, von der Zensur verfälschten Erzählungen über die Ereignisse in Kairo, meint Andrea Pollmeier in der FR. Als ersten "Corona-Lockdown-Roman" annonciert Dlf-Kultur-Kritiker Ulrich Noller Oyinkan Braithwaites "Das Baby ist meins" (Bestellen). Mehr noch: "Weltliteratur" nennt er die Geschichte des wohnungslosen Gigolos Bambi, der nach dem Corona-Tod seines Onkels bei seiner Tante in Lagos Unterschlupf findet, wo ihn während des Lockdowns allerdings auch die Geliebte des Onkels und ein Baby erwarten, dessen Mutterschaft beide Frauen für sich beanspruchen. Eine "blitzgescheite" Kritik an patriarchalen Strukturen erkennt er auch in dem Roman.


Blick zurück

Diese im Original bereits vor zwanzig Jahren erschienene Autobiografie von Alexander Tisma sollte den serbischen Schriftsteller vor der drohenden Vergessenheit bewahren, hofft Jörg Plath im Dlf-Kultur. In "Erinnere dich ewig" (Bestellen) verfällt er sofort wieder dem unverwechselbaren Sound des Autors, dessen Romane in den Neunzigern als Kommentare zum Jugoslawien-Krieg gelesen wurden. Gnadenlos erforsche sich Tisma hier nicht nur selbst, sondern auch die Spannungen zwischen der jüdisch-ungarischen Mutter und dem serbischen Vater, die in den Hintergrund treten, als das faschistische Ungarn Serbien besetzt, worauf Tisma mit seiner Großmutter nach Budapest flieht. Neben dem inneren Ringen um das Schreiben Tismas liest Plath auch von dessen politischen "Selbstanklagen": Zeitweise schrieb Tisma für die Belgrader Parteizeitung und trat der Partei bei, wofür er sich gleichzeitig verurteilte. Leidenschaftlich legt uns auch Wolfgang Schneider im Dlf dieses eindringliche "Bild einer Epoche" ans Herz. Sehr gut besprochen wurden auch die autobiografisch geprägte Erzählung des slowenischen Autors, Boxers, Seefahrers und Partisanen Vitomi Zupan, der in "Menuett für eine Gitarre" (Bestellen) von einem jugoslawischen Soldaten und dessen kriegerischen, intellektuellen und erotischen Erlebnissen im und nach dem Zweiten Weltkrieg erzählt. Ein "verzweifelt-abenteuerlicher" Kriegs- und Subjektroman im Stil von Céline oder Joyce, schwärmt Jörg Plath im Dlf-Kultur.

Gleich drei neue Bücher blicken unter unterschiedlichen Vorzeichen zurück auf das Berlin der vergangenen Jahrzehnte. In "Vom Aufstehen" (Bestellen) erzählt uns die Schriftstellerin und Psychotherapeutin Helga Schubert in lose verknüpften Fragmenten die eigene Lebensgeschichte, begonnen beim Aufwachsen in der DDR mit einer abweisenden Mutter und einer fürsorglichen Großmutter, über die Beobachtung durch die Stasi bis hin zur Versöhnung mit der Mutter nach deren Tod. Die KritikerInnen in FAZ, taz und Dlf-Kultur loben Figurenzeichnungen, die eindringliche "Innenansichten in einen untergegangenen Staat" gewähren und die "beiläufige Dringlichkeit" der Texte. Mit ins Berlin der Achtziger nimmt uns Ulrich Peltzer in seinem ebenfalls autobiografisch grundierten Roman "Das bist du" (Bestellen), der uns an der Seite eines jungen Künstlers in den legendären Westberliner "Dschungel" und in Kreuzberger Kellerbars führt. Wenn Peltzer hier über Songtexte, Filme, Bücher, Platten, Liebe und das Gefühl der Unsterblichkeit schreibt, das alles mit Exkursen zu Foucault über Handke bis Theweleit mixt, kommt FR-Kritiker Claus-Jürgen Göpfert zu dem Schluss: Wer dabei nichts fühlt, ist schon tot. Dringend empfohlen wurde außerdem die Neuauflage der Erzählungen des Drehbuchautors Wolfgang Kohlhaase aus dem Jahr 1972. Die in dem Band "Erfindung einer Sprache" (Bestellen) enthaltenen Erzählungen und Novellen, etwa über KZs, den Einmarsch der Russen oder das Leben in der DDR erinnern den FAZ-Kritiker Andreas Kilb in ihrer "existentiellen Ratlosigkeit" an Pavese und Hemingway.

Eine solche Liebe in Briefen wie die zwischen Boris Pasternak und Marina Zwetajewa gibt es wohl kein zweites Mal, glaubt FAZ-Kritikerin Hannah Bethke nach der Lektüre dieses Briefwechsel aus den Jahren 1922-1936 (Bestellen). Sie folgt atemlos der Schutzlosigkeit beider in der jahrelangen Korrespondenz und dem oft assoziativ, aber immer mitreißend formulierten Werden und Vergehen einer vor allem vorgestellten Seelenverwandtschaft. Dass am Ende des für die Rezensentin sowohl als Poesie als auch historisches Zeugnis Gültigkeit besitzenden Briefwechsels die Desillusionierung steht, scheint auch für die Leserin ein Schlag zu sein. Mit "Was wir scheinen" (Bestellen) legt die Germanistin Hildegard E. Keller einen Roman über die Debatte um Hannah Arendts Prozessbericht "Eichmann in Jerusalem" und ihren Begriff von der "Banalität des Bösen" vor. Taz-Kritiker Jens Uthoff liest in diesem "lebendigen" Buch noch einmal von den Kontroversen, die Arendts Werke auslösten und freut sich, dass auch Arendts bisher kaum beachtetes Faible für Lyrik hier zu seinem Recht kommt. Die älteste Entdeckung der Saison ist vermutlich Mary Shelleys Roman "Der letzte Mensch" (Bestellen) von 1826. Die Frankenstein-Autorin malt hier das durch die Pest bedingte Weltende im Jahr 2092 aus - und zwar so finster und dramatisch wie virtuos und aufwühlend, meint Dlf-Kritiker Eberhard Falcke.