9punkt - Die Debattenrundschau

Öffentlicher Diskurs findet immer weniger statt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.05.2014. Die Bild-Zeitung schlottert mit Mathias Döpfner: Muss ich vor Google Angst haben? Der SPD-Politiker Martin Schulz anwortet im Tagesspiegel: Stimmt richtig und wartet auf mich. In der FAZ fordert der Ökonomieprofessor Max Otte Erosionsschutz für die alten Medien. SZ und Eurozine berichten vom Treffen europäische Intellektueller in Kiew. In der NZZ kritisiert Rafik Schami die Syrienberichte in deutschen Medien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.05.2014 finden Sie hier

Internet

Eine Woche vor der Europa-Wahl: Der Springer-Verlag und die FAZ setzen ihre schamlose Lobby-Kampagne unter dem Mantel der Berichterstattung und Fürsorge für das Volkswohl fort: Die Bild-Zeitung brachte am Sonntag zweieinhalb Seiten über Google: "Problematisch ist Google auch in politischer Hinsicht. So gehört die Firma und ihre Führungsmannschaft zu den großzügigsten Förderern im Wahlkampf von US-Präsident Barack Obama - was der angeblich mit einer sehr Google-freundlichen Gesetzgebung entlohnt. Auch in anderen Ländern investiert das Unternehmen massiv in Lobbyarbeit", zitiert Markus Beckedahl aus der Bild. Sein Kommentar: "Die Doppelmoral in der Argumentation ist aber kaum zu überbieten, wenn man zum Beispiel im folgenden Absatz einfach Google durch Axel-Springer-Verlag und Obama durch Merkel ersetzt."

In der FAZ malt der Ökonomieprofessor Max Otte unterdessen die zwei großen Teufel an die Wand, die den deutschen Bürger am friedlichen Einschlafen hindern: das Finanzkapital mit seinem Streben nach maximalem Profit und das Netz, das nicht nur Daten sammelt, sondern auch die Öffentlichkeit manipuliere: "Inhalte und Prozesse werden zunehmen auf der Basis von Aufmerksamkeit, Klicks, Werbeeinnahmen und optimierter Benutzerführung gestaltet. Öffentlicher Diskurs findet immer weniger statt. Gedankengänge und Reaktionsmuster werden durch Algorithmen berechnet, vorausgeplant und -gesteuert. Hatten gedrucktes Wort und Radio im Fernsehzeitalter noch für ein Gegengewicht zum Prinzip der Aufmerksamkeitsökonomie gesorgt, so erodieren viele der traditionellen Medien zunehmend und beugen sich der neuen Logik des Netzes. ... Martin Schulz hat eine längst überfällige Debatte angestoßen: Die freiheitlichen Werte Europas, in mehr als 2000-jähriger Geschichte unter unsäglichen Mühen errungen, sind gefährdet."

Der SPD-Politiker Martin Schulz, der am Sonntag Präsident der EU-Kommission werden will, fängt laut Tagesspiegel schon an, sich für die FAZ- und Springerkampagne zu bedanken: "Im Kartellstreit zwischen der EU und Google sollte nach den Worten des SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz (SPD) für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten erst die neue EU-Kommission entscheiden. Die Entscheidung könne "nicht mehr von einer Kommission getroffen werden, die am Ende ihrer Amtszeit steht", sagte Schulz dem Tagesspiegel. Berichten zufolge verlautete aus Brüssel, dass EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia nach der Sommerpause eine Entscheidung über einen von Google vorgeschlagenen Vergleich fällen wolle."

Unterdessen mauert die Merkel-Gabriel-Regierung weiter gegen die EU-Datenschutzreform, meldet Netzpolitik.

Seit der EuGH-Entscheidung gegen Google (und im Prinzip auch andere Suchmaschinen) häufen sich Anfragen von Personen, die missliebige Aspekte ihrer Vergangenheit vergessen machen wollen, berichtet Syldie Kaufman in Le Monde: "In Großbritannien sind es laut BBC vor allem Menschen, die ihre kriminelle Vergangenheit vergessen machen wollen. Paradoxerweise beginnt das Recht auf Vergessen mit der Erinnerung an die Tatbestände. Und das ist nicht das einzige Paradox dieser Entscheidung des EuGH, die wie ein Blitz in einem bereits arg verdüsterten Himmel einschlug. Die minimalistische Reaktion des Google-Konzerns, der eisig seine "Enttäuschung" bekannte, täuscht niemanden. Im Hintergrund sind gewiss schon ganze Armadas von Juristen, um eine Antwort zu finden."

Leicht verrückt liest sich ein Kommentar des amerikanischen Gemanisten Per Urlaub zum Google-Urteil in der Welt: "Jene Netzaktivisten, die das Urteil des EuGH als Stärkung der Privatrechte des Nutzers feiern, loben gleichzeitig Assange und Snowden für deren Engagement zur Steigerung der Transparenz." Aber: Wo sind die Netzaktivisten, die das Urteil feiern?
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Europa

Cathrin Kahlweit berichtet in der SZ vom Treffen europäische Intellektueller in Kiew. Auch Abgesandte von der Krim hatten kommen wollen, schreibt sie, aber sie waren auf der Insel geblieben, um der Deportation der Tataren duch Stalin am 18. Mai 1944 zu gedenken: "Nur: Die neue russische Macht, welche die Tataren vor dem März-Referendum noch mit Sirenengesängen und Versprechen von Toleranz, Mitbestimmung und Privilegien umworben hatte, verbot die traditionelle Gedenkfeier zum Jahrestag. Die Tataren gedachten der Deportation daher gezwungenermaßen auf ihren Friedhöfen. Soviel zu Minderheitenschutz und Menschenrechten in Russland." Eine Menge Beiträge und Informationen zu Konferenz finden sich auf der von Eurozine erstellten Website der Veranstaltung.

Sabine Herre ist für die taz noch auf Tour entlang der östlichen Außengrenze der EU, eben dort, wo bald ein neuer Eiserner Vorhang herunterfallen könnte. Letzte Woche war sie im lettischen Daugavpils, heute besucht sie Presov in der Ostslowakei und Iwano-Frankiwsk in der Westukraine: "'Eigentlich sind uns die Probleme in der Ukraine nicht viel näher als die des Nahen Ostens', sagt [Marián Marko, Direktor des ukrainischen Theater von Presov] und fügt dann ein nachdenkliches 'Vielleicht sollte dies ja nicht so sein' hinzu. Genauso sieht dies auch Ján Hanzo, Direktor des Stadttheaters in Presov: 'Ja, wir sind eine multikulturelle Stadt. Doch k. u. k ist Vergangenheit. Heute schauen wir nach Westen.' Und dann sagt er noch etwas, was die Ukrainer jenseits der Grenze ziemlich erschüttern dürfte: 'Für uns waren früher alle Besucher, die aus der Sowjetunion kamen, Russen. Kiew ist für uns genauso weit entfernt wie Berlin.'"

Oleg Orlow, Mitbegründer der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, war in der Ostukraine unterwegs und erzählt im Interview mit der taz, was er dort gesehen hat. Auf die Frage, was genau Putin in diesem Konflikt eigentlich will, antwortet er: "Die Ukraine destabilisieren. Eine Angliederung von Lugansk und Donezk an Russland wäre für Putin keine ideale Lösung. Sein Hauptziel ist es, die ukrainischen Machthaber zu zwingen, einer Föderalisierung zuzustimmen, die tatsächlich eine Konföderalisierung ist. Er will eine große Enklave an der Grenze zu Russland, die nur noch formal zur Ukraine gehört. In so einer Enklave werden extreme Separatisten das Sagen haben und sie werden die Lage langfristig destabilisieren."
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Urheberrecht

Europäische Bibliotheken und Archive fordern von der EU eine Refom des Urheberrechts und nennen im wesentlichen drei Kritikpunkte am jetzigen Zustand, die Leonhard Dobusch auf Netzpolitik so zusammenfasst:
- "Während der Urheberrechtsschutz zwingendes Recht ist, sind die Ausnahmenbestimmungen ('Schranken') bloß optional, was zu einem unübersichtlichen Flickwerk an Ausnahmebestimmungen in Europa führt.
- Nationale Schrankenbestimmungen werden in zunehmendem Maße durch Lizenzierungsvorgaben von Rechteinhabern in anderen Ländern zu Lasten von Bibliotheken und Archiven umgangen.
- Die Komplexität der vielen unterschiedlichen Ausnahmebestimmungen erschwert europäische Forschungskooperationen und macht es Bibliotheken und Archiven schwer, ihre Rolle auf legale Weise zu erfüllen."
Das Papier der Bibliotheken findet sich hier als pdf-Dokument.
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Politik

Natürlich gibt es in Syrien unter den Gegnern Assads viele Islamisten. Kein Wunder, meint der deutsch-syrische Autor Rafik Schami im Interview mit der NZZ: Die liberalen, linken und nichtreligiösen Kräfte wurden gleich nach Ausbruch der Revolution verhaftet. "Hier muss aber auch einmal gesagt sein, dass man stets nur im Zusammenhang mit sunnitischen [von Saudiarabien und Karar unterstützten] Extremisten wie an-Nusra und Isis von 'Jihadisten' spricht, dabei aber mit stupider Gleichgültigkeit die Heere der schiitischen Jihadisten und Militärexperten übersieht, die aufseiten des Regimes kämpfen. Im Gegensatz zu den staatenlosen Verbrechern von Nusra und Isis kommen zwei der wichtigsten, aggressivsten Killer aus Libanon und dem Irak, also aus Ländern, deren heuchlerische Regierungen mit dem Westen verbunden sind".

Es wurde eine geheime Botschaft im Europa-Wahlkampf entschlüsselt, meldet Markus Beckedahl in Netzpolitik:




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Religion

Der Theologieprofessor Jan-Heiner Tück erklärt in der NZZ nach Lektüre eines Gesprächsbandes mit dem Erzbischof von Buenos Aires Jorge Mario Bergoglio und dem Rabbiner Abraham Skorka, was Papst Franziskus über das Judentum denkt.
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Medien

Neben der Entlassung der New York Times-Chefredakteurin Jill Abramson (Neues dazu bei Mashable) macht der von Buzzfeed geleakte imposante, aber eigentlich interne "Innovation Report" der Times von sich reden, in dem die Reaktion der Zeitung auf die Digitalisierung fast hundert Seiten lang analysiert wird. Uwe Schmitt liest ihn für die Welt: "Sechsundneunzig Seiten stark ist die vor Tagen Buzzfeed zugespielte Rohfassung der Selbstdiagnose; acht Monate Zeit hatte ein Redakteursteam..., um in internen Interviews wie in Expertisen von Experten eine Art Mayo-Klinik-Untersuchung anzustrengen. Das Ergebnis sollte Pflichtlektüre jedes Journalisten sein." Auch Thomas Küwer resümiert den Report auf Indiskretion Ehrensache.

Hier ist der Bericht:

NYT Innovation Report 2014





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Weiteres

Im Tagesspiegel kritisieren die Berliner Professoren Gabriele Metzler und Martin Heger scharf die ruinöse Bildungspolitik des Berliner Senats. Immer mehr Studenten stünden immer weniger Lehrern gegenüber: "Ein Kollege von uns brachte es auf den Punkt: 'In Berlin schafft man Studienplätze, indem man aufschreibt, dass es sie gibt'." Samuel Herzog verspeist für die NZZ eine Portion Tiger-Fugu. In der FAZ meldet Oliver Tolmein, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft Anklage gegen Roger Kusch vom Verein "Sterbehilfe Deutschland" und den Psychiater Johann Friedrich Spittler Anklage wegen Totschlags erhoben hat.
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