9punkt - Die Debattenrundschau

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Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.06.2019. Schon wieder stehen heute Ärztinnen vor Gericht, weil sie auf ihrer Website über Schwangerschaftsabbrüche informieren. Schuld ist die SPD, ruft die Emma. Der in den USA vorbereitete Prozess gegen Julian Assange ist ein Anschlag auf die Pressefreiheit, warnt heise.de. Der Journalismusprofessor Jeff Jarvis ist sauer auf die New York Times, die in der Lobbyschlacht zwischen Verlegern und Plattformen einfach den Verleger-Standpunkt nachbete. Hätte es in Deutschland ein #MeToo gegeben, sähe es heute anders aus, meint Jagoda Marinic im Tagesspiegel.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.06.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Praxis mag einigermaßen liberal sein, die Gesetzeslage ist es nicht, sagt Juristin Ulrike Lembke im Gespräch mit Patricia Hecht von der taz zur Frage, wie es kommt, dass nun in Berlin schon wieder ein neuer Fall zum Paragrafen 219a verhandelt wird. Zwar sollte es nach der Wiedervereinigung eine Liberalisierung geben: "Das Bundesverfassungsgericht akzeptierte das aber nicht und gab detailliert den Inhalt jener Regelungen vor, die 1995 als §§ 218ff in Kraft traten. Im Urteil legte das Gericht auch fest, dass eine ungewollt Schwangere die Pflicht hat, die Schwangerschaft auszutragen. Wenn ich das meinen Studierenden sage, glauben die, ich mache Witze. Aber das steht da, das gilt und das ist auch so gemeint. Als Frau liest man das einmal und vergisst es nie wieder."

Die SPD ist schuld, dass heute wieder gegen Ärztinnen prozessiert wird, schreibt Chantal Louis bei emma.de. Es geht um die Berliner Ärztinnen Bettina Gaber und Verena Weyer, die so auf ihrer Website informierten: "Auch ein medikamentöser, narkosefreier Schwangerschaftsabbruch gehört zu den Leistungen von Frau Dr. Gaber." Der Kompromiss, dem die SPD zustimmte, funktionierte laut Louis so: "ÄrztInnen dürfen nämlich laut der Gesetzesreform, die im März 2019 in Kraft trat, ausschließlich 'auf die Tatsache hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche (...) vornehmen.' Jede weitere Information über diese 'Tatsache' hinaus wird nach wie vor mit Geld- oder Haftstrafe geahndet."

Der Paragraf 175 immerhin wurde irgendwann abgeschafft -  genauer: auch erst vor 25 Jahren. Daran erinnert in der taz Martin Reichert: "Erst im Jahr 1994 war es dann endgültig vorbei mit den '175ern', nach 130 Jahren wurde der Paragraph 175 abgeschafft, also rund vier Jahre nach der 'größten Wunderheilung der Weltgeschichte', nämlich der Streichung der Homosexualität von der Liste psychischer Krankheiten durch die WHO im Jahr 1990."

Hubertus Knabe geht im politischen Teil Verschwörungstheorien über eine angebliche IM-Tätigkeit Angela Merkels nach. Belege findet er nicht: "Man mag Merkel vorwerfen, dass sie als Bundeskanzlerin nicht wirklich offen über ihre DDR-Vergangenheit spricht. Ein Beleg für eine Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst ist ihre vergleichsweise unbedeutende Funktion in der FDJ in jedem Fall nicht."

Im Interview mit dem Tagesspiegel ärgert sich Jagoda Marinic, dass der Feminismus in Deutschland so lahmarschig und #metoo hier praktisch folgenlos geblieben ist: "Reale Folgen? Gab es kaum, auch bei uns hätten mindestens 50 Männer ihre Posten räumen müssen, wenn es #MeToo gegeben hätte. Und wenn es die Öffentlich-Rechtlichen nach #MeToo nicht schaffen, Talkshows gleichberechtigt zu besetzen, ist nicht viel angekommen, das ist im gesamten Medienbereich so. Problemlösungsstrukturen gibt es, die schaffen wir immer sofort, Kommissionen, Gleichstellungsbeauftragte etc. und dann bewegt sich nicht viel weiter, Konsequenzen bleiben aus. Schauen Sie mal bei CNN! Wieviele sogenannte Expertinnen es dort gibt. Da diskutieren einfach mal so vier Frauen mit sichtbarem Migrationshintergrund die Politik von Trump."

Eigentlich würden die Obamas ihre Presidential Library gern in der South Side von Chicago bauen, aber darum gibts jetzt Streit, berichtet Anna Lea Berg in der SZ. (Weiße) Umweltgruppen "kritisieren, dass die Stadt den öffentlichen Park für das Center zur Verfügung stellt und damit eine Ressource für die Bewohner gegen eine andere austauscht, anstatt eine der unzähligen Freiflächen in der South Side zu nutzen. Besonders skeptisch sind die Kritiker gegenüber den Plänen der Stadt, einen von Tiger Woods designten Golfplatz im Süden des Parks einzurichten, für den ein Naturschutzgebiet und ein kleiner öffentlicher Golfplatz weichen müssten." In der schwarzen Community streitet man sich unterdessen darum, ob man sich von weißen Ökos was diktieren lassen soll, oder ob die drohende Gentrifizierung des Viertels nicht doch ein Problem werden könnte.
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Medien

Ziemlich sauer reagiert der Journalismusprofessor Jeff Jarvis in Medium auf einen Artikel in der New York Times, der unter Bezug auf eine Studie behauptet, Google und Facebook würden Zeitungen durch Links 4,7 Millarden Dollar im Jahr wegnehmen - denn die Links, so Jarvis, nützen den Zeitungen. Die New York Times übernehme die Position der Verleger, die sich durch Gesetze gegen den Medienwandel stemmen: "Dazu gehört etwa eine schreckliche neue Urheberrechtsgesetzgebung in der EU, die versucht, Google und andere zu zwingen, Verhandlungen zu führen, um für das Zitieren von Snippets von Inhalten, auf die sie verweisen, zu bezahlen. Google wird das nicht tun; es wäre ein Narr. Deshalb befürchte ich, dass Plattformen immer weniger zu Nachrichten verlinken werden, was zu selbstverschuldeten Schäden für die Nachrichtenindustrie und Journalisten führt und, schlimmer, die Öffentlichkeit genau im falschen Moment schädigt." Der Artikel der New York Times übernimmt mehr oder weniger eine Pressemitteilung des amerikanischen Verlegerverbands "News Media Alliance".
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Politik

In Hongkong hat es die größten Proteste seit Jahren gegeben. Anlass war ein Auslieferungsgesetz, das die Hongkonger um ihren Autonomiestatus fürchten lässt, zu Recht, meint Sven Hansen in der taz, der die Chancen allerdings nicht auf Seiten Hongkongs sieht: "Schon 2003 hatte sich eine ähnlich große Zahl von DemonstrantInnen in Hongkong gegen ein von Peking gefordertes Anti-Aufruhr-Gesetz gewendet. Hongkongs damaliger Regierungschef trat zurück, das Gesetz wurde fallengelassen. Beides wäre auch jetzt angemessen. Doch die Zeiten haben sich geändert - zu Ungunsten Hongkongs."

Hardliner im amerikanischen Justiziministerium haben eine "Grand Jury" zusammentreten lassen, um Julian Assange anzuklagen und möglichst nach dem Espionnage Act zu verurteilen, der im Extremfall sogar die Todesstrafe zulässt. Ein Anschlag auf die Pressefreiheit, den es so in der amerikanischen Geschichte noch nie gab, schreibt Detlef Borchers bei heise.de: "In den 17 Anklagepunkten geht es um eine Verschwörung, nationale (geheime) Sicherheitsinformationen der USA zu erhalten, diese dann zu speichern und schließlich zu veröffentlichen. Dabei vergisst die Grand Jury jedoch, dass Assange mit seinen Enthüllungen der Kriegsverbrechen von US-Soldaten, die Zivilisten im Irak töteten, investigative Vorarbeit für die darauf folgende weltweite Berichterstattung leistete - unter anderem auch in der zitierten New York Times."
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Ideen

"Die alten Volksparteien sind nicht mehr zukunftsfähig", glaubt in der Welt der Zukunftsforscher Daniel Dettling. Überhaupt müsse sich die Parteiendemokratie in eine Netzwerkdemokratie verwandeln: "In dieser gelten die Prinzipien der Politik auf Augenhöhe und des Nonkonformismus. In der Netzwerkdemokratie löst das Konnektiv das Kollektiv ab. Es geht um eine Politik der Bedürfnisse statt Ideologien. Gefragt sind ein Mix aus liberalen, konservativen und sozialen Rezepten und das gemeinsame, kollaborative und konstruktive Lösen von Problemen in Projekten. Es geht um die Rückeroberung von Handlungsfähigkeit in einer sich blockierenden Welt. Politik ist in der Netzwerkgesellschaft nicht mehr eine moralische Glaubensfrage, sondern eine Frage des Stils und der Methode: spielerisch und pragmatisch. Gute Performer und Politunternehmer werden belohnt, Populisten und Unsympathen bestraft."

Keine Angst vor den Populisten, ruft der Politologe Jan-Werner Müller in der NZZ. Die sind nur eine kleine, wenn auch sehr lautstarke, Minderheit. Gefährlich werden sie immer dann, wenn sie Verbündete finden: "Bis heute ist in Westeuropa (mit der möglichen Ausnahme Italiens) und Nordamerika kein Rechtspopulist ohne die Kollaboration etablierter konservativer Eliten an die Macht gekommen. Farage hat den Brexit nicht eigenhändig herbeigeführt, vielmehr brauchte er die Unterstützung erfahrener Tories. Trump ist nicht als Anführer einer spontanen Graswurzel-Bewegung wütender weißer Arbeiter - wie es das Klischee will - zum Präsidenten gewählt worden, sondern als Kandidat einer sehr etablierten Partei (manche würden sogar sagen: der Partei des Establishments). ... Der CSU-Mann Manfred Weber hat sich im Europawahlkampf als heroischer antipopulistischer Kämpfer dargestellt. Fakt ist, dass es dem europäischen Pionier der rechtspopulistisch Regierungskunst, Viktor Orban, ohne Webers Unterstützung nicht so leicht gelungen wäre, die ungarische Demokratie systematisch zu demontieren."
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Wissenschaft

Alarmiert berichtet der Historiker Martin Schulze Wessel in der FAZ über die Gleichschaltung der ungarischen Akademie der Wissenschaften durch das Orban-Regime: "Hunderte Wissenschaftler der Ungarischen Akademie aus allen Fachrichtungen haben sich nun an den Fraktionsvorsitzenden der EVP im Europäischen Parlament, Manfred Weber, gewandt, um das Gesetz zur Zerschlagung der Akademie noch zu verhindern. Sie richten ihren 'Ruf um Hilfe' an eine europäische Instanz, nachdem sie alle Möglichkeiten, die ihnen innerhalb Ungarns zur Verfügung stehen, vergeblich erprobt haben. "
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