Vorgeblättert

Leseprobe zu Margherita von Brentano: Das Politische und das Persönliche. Teil 2

29.04.2010.
(Seite 429 ff)

Ansprache zum Richtfest des Instituts für Philosophie am 23. April 1982

Zur Vorgeschichte dieses Bauwerks ist das Wichtigste schon gesagt. Ich will nur eine Bemerkung nachtragen. Die Arbeit in einer so groß gewordenen und soviel vor- und zurückreformierten Universität ist bekanntlich recht mühsam, bringt mehr Enttäuschung als Erfolge. Auch die Vorarbeit zur personellen Ergänzung des Instituts war, wenn auch schließlich erfolgreich, lang und mühsam.
     In einem Punkt aber geschahen gleich zwei Wunder: In einem der wichtigsten Vorgespräche - es war nämlich endlich gelungen, ein "Gipfeltreffen" mit Senator und Präsidenten zustande zu bringen - trugen wir (Peter Furth und ich) all die Folgelasten vor, die zusätzlich zur Berufung von vier Professoren zu lösen seien. Darunter, als eines von vielen, das Raumproblem. Wunder Nummer eins war, daß uns in kürzester Zeit mitgeteilt wurde, daß eigens für die Philosophie ein Haus gebaut, und dazu noch ein Architektenwettbewerb ausgeschrieben werden solle. Für ein Haus braucht es ein Grundstück, die sind in Berlin bekanntlich besonders rar. Wir rechneten, wenn überhaupt, mit einem Standort relativ weit vom Zentrum der FU und von den uns sachlich benachbarten Instituten. Wunder Nummer zwei war, daß in ebendiesem Zeitpunkt ein (scheußliches Behelfs-)Gebäude auf einem Grundstück, das näher zum Zentrum und schöner gar nicht sein konnte, abbrannte. Ich weiß nicht, Herr Borrmann [Detlev Borrmann war zwischen 1973 und 1989 FU-Kanzler], ob Sie wissen, daß ein Verdacht in drei Versionen kursiert: Borrmann hat das Ding angezündet, die Brentano hat es angezündet, beide haben es getan. Nun, ich habe ein Alibi, ich war gerade im Fachbereich.

Nun aber, zur angemessenen Würdigung des Tages, einige Gedanken zum Verhältnis von Architektur und Philosophie, von Architekten und Philosophen. Falls ein Motto dafür gewünscht wird - wem fällt da nicht Heideggers Titel Bauen Wohnen Denken ein.
     Zuerst zu den Architekten und der Philosophie:
     Sie, Herr und Frau Baller [gemeint sind die Berliner Architekten
Hinrich und Inken Baller] und Ihre Mitarbeiter, haben sich vorgenommen (ich zitiere aus dem Text), "das Prinzipielle philosophischer Arbeit aufzuspüren und räumlich in aller Zurückhaltung zu unterstützen". Sie haben nicht nur das, sondern weit mehr geleistet. Wenn man dies nun im Rohbau errichtete Haus betrachtet, so ist es nicht nur Unterstützung des, es ist geradezu Gestalt gewordenes Philosophieren(s).
     Ich will das nur an zwei Aspekten belegen:
     Philosophieren, das ist und erfordert Konzentration, Meditation, Einsamkeit, Klausur. Man betrachte das Haus von der Straße aus. Da zeigt sich fast die Struktur eines Karthäuserklosters. Wer von Ihnen Karthäuserkloster gesehen hat, erinnere sich: da hat, im Gesamtkomplex, jeder Mönch seine Klause, Hütte, in rechter Abgeschiedenheit. So auch hier. Die Arbeitsräume, schon von außen sichtbar, sind als einzelne Klausen, vom eigenen Dach behütet, voneinander abgesetzt. Philosophie ist aber auch öffentliches Denken, auf Öffentlichkeit, Gemeinschaft und Gesellschaft bezogen und angewiesen. Auch das ist hier verwirklicht. Die offenen und ins Freie weisenden Räume, voran das große Foyer geben Weite und Richtung für die Philosophie nach dem Weltbegriff. Ja, auch die umwälzende Kraft des Denkens, der dann bekanntlich die Wirklichkeit nicht standhalten kann, haben Sie in der Struktur angedeutet und in Ihrer Erläuterung angesprochen, - so daß die Kollegen, die sich mehr dem bewahrenden Denken verpflichtet fühlen, erbleichen.
     Der zweite Aspekt ist: Den Streit unter Philosophen, ob es denn eine Philosophie gebe oder ob diese Einheit, falls sie je bestand, nicht längst in viele, unverbundene Disziplinen auseinandergefallen sei, haben Sie gelöst und versöhnt. Ein Blick auf diesen Bau zeigt: es ist ein Haus und zugleich sind es viele Häuser - eine geradezu dialektische Synthese aus Gegenständlichem haben Sie ins Bild, in Gestalt gebracht. Wenn man den Anfang der Philosophie als Entdeckung der Kluft zwischen Denken und Anschauung, Begriff und Bild interpretieren kann und die Arbeit der Philosophie als Anstrengung, diesen Riß zu heilen - dann ist hier der Begriff der Philosophie selbst Gestalt und anschauliche Wirklichkeit geworden.
     Es zeigt sich klar: Architekten, sind sie nur gute Architekten, sind rechte Philosophen.
     Das ist gar nicht verwunderlich; denn frage ich nun umgekehrt,
wie es mit der Beziehung der Philosophie zur Architektur steht, so fällt es einem ja wie Schuppen von den Augen. Die Philosophen, schaut man nur ihre Grundworte, Grundsätze an, kommen ohne Anleihen bei der Architektur gar nicht aus. Grundworte, Grundsätze, das sind selbst schon fast Architekturmetaphern.
     Das gilt auch im einzelnen. Nehmen wir zwei Grundbegriffe der alten Philosophie: hypokeimon, lateinisch übersetzt subiectum, als "Subjekt" in unserer Sprache eingegangen, heißt wörtlich das Darunter-, Zugrundeliegende, was das darauf gegründete trägt. Ousia, übersetzt als "Wesen", "Wesenheit" heißt wörtlich das Anwesen im Sinne von Haus und Hof. Beides sind Anleihen bei der Architektur, also Architekturmetaphern.
     Descartes beschreibt seine Begründung der neuen Philosophie und Wissenschaft als ein Bauvorhaben: das alte Gebäude muß abgerissen werden, ein fundamentum inconcussum muß gelegt werden, damit nun auf ihm das neue, sichere Gebäude des Denkens und der im Denken konstruierten Welt errichtet werden kann.
     Eines der wichtigsten Kapitel in Kants Kritik der reinen Vernunft heißt gar ausdrücklich: "Die Architektonik der reinen Vernunft". Und wenn ein Studierender zum ersten Mal die Gliederung dieses oder der anderen großen Werke Kants sieht, muß er ihn fast für einen verhinderten Architekten halten.
     Vom Marxismus gar nicht zu reden: wer sonst nichts weiter von ihm weiß, kennt mindestens die Grundmetaphern, klar der Architektur entlehnt, von "Basis" und "Überbau".
     Wittgenstein hat nicht nur metaphorisch die Architektur bemüht, er hat selber ein Haus entworfen. Wer eine Abbildung dieses strengen, asketischen, klaren Bauwerks gesehen hat, weiß, daß es ebensoviel über sein Denken sagt wie seine Schriften.
     Ein Titel von Heidegger hat sich als Motto angeboten, seine "Rede vom Haus des Seins" bietet sich als Schluß an.

Die Arbeit an der Universität ist schon seit einiger Zeit nicht sehr lustvoll, sondern eher eine Sysiphusarbeit. Ich rede hier natürlich nicht vom Kern der Arbeit - Forschung und Lehre - sondern vom dritten Element unserer Arbeit, der Selbstverwaltung, die aber erstens droht den Kern zu überlagern und zweitens eine Folge der Sysiphusarbeit darstellt. Kaum hat man den Stein ein Stück bewegt, rollt er mit Donnergepolter wieder hinunter. Das liegt an vielem - vor allem wohl an der recht schieren Größe der Institution, der wir kaum gewachsen sind, und an dem Sparprogramm, das uns zunehmend vor Notsituationen stellt und unsere Selbstverwaltung zu purer Mangelverwaltung macht.
     Aber es gibt auch glückliche Augenblicke, und dies ist einer: die Philosophen nehmen heute ein Haus in Besitz und Gebrauch, das von Gestaltung und Gebrauchswert kaum besser gewünscht werden könnte. Ein Gebäude, ein Haus ist nur ein Rahmen und ein Angebot, sein Leben erhält es durch die Weise, wie es mit Leben und Arbeit gefüllt, wie es als Gebrauchswert in Gebrauch genommen wird. Das wird an uns liegen. Ich hoffe, wir werden es mit Arbeit und Leben füllen, und ich glaube auch, daß Gestalt und Brauchbarkeit des Hauses auf unsere Arbeit, unsere Zusammenarbeit und die Weise der Kommunikation produktiv und integrativ zurückwirken wird.
     Wir haben ja das Haus bereits in Gebrauch genommen. Seine integrative Funktion hat sich, was die beruflich hier Arbeitenden angeht, die durch die Schwierigkeiten des Umzuges etwas belastet waren, aber - so wie ich zu bemerken glaube - vor allem was die Studenten angeht, bereits gezeigt. Studenten haben gesagt, daß sie zu Lehrveranstaltungen hier mit mehr Freude kommen als zu den Lehrveranstaltungen dort drüben. Die Bibliothek wird mehr genutzt als drüben, ich sehe auch, daß Gespräche und Kommunikation hier eher zustande kommen als bisher. Ich hoffe, daß die durch das neue Haus bessere Qualität des Zusammenarbeitens und Zusammenlebens wächst.
     Als letztes Wort aber: Dank an alle, die mitgewirkt haben, Senat, Präsident, Verwaltung, Planer, vor allem aber Sie, die Bauleute, die uns Philosophen eine so schöne Arbeitsstätte errichtet und mit ihr fast die platonische Idee unserer Tätigkeit, des Philosophierens, realisiert haben.


Kant-Vorlesung*)

Wir stehen bei der Erläuterung von Kants Begriff der Vernunft. Dabei wurde zuletzt der Abschnitt behandelt, in dem Kant zu Beginn der Transzendentalen Dialektik unter dem Titel "Von der Vernunft überhaupt" das Vernunftsvermögen

- als "oberste Erkenntniskraft" sozusagen gesondert untersucht,
- als Vermögen der Prinzipien bestimmt und
- hier ausdrücklich vom Verstand unterscheidet.

[?] Kant nennt die Vernunft "in sich systematisch". Sie ist das Vermögen der Einheit, des Ganzen, des Zusammenhangs. In Kants Sprache [ausgedrückt,] ist die Vernunft das Vermögen der Synthese, das heißt das synthetische Vermögen, gegenüber dem Verstand als analytisches Vermögen. Kant nennt die Vernunft weiterhin als Vermögen der Zwecke demgegenüber dem Verstand als Vermögen der Mittel, der Rationalität. Diese beiden Bestimmungen gehören zusammen, denn sie nennen ja jeweils dasselbe nur unter etwas verschiedenen Gesichtspunkten [?] Die menschliche Erkenntnis ist also ein komplexes Ganzes, und die Vernunft ist daher nicht nur der Name für eines ihrer Elemente, sondern sie ist im ganzen "menschliche Vernunft", vernünftig. Das heißt aber auch, daß sie im ganzen, als komplexe Erkenntnis synthetisierend, von Prinzipien geleitet und zwecksetzend bzw. zweckmäßig ist.

     Die Sonderung unserer Vermögen in Wahrnehmung, Verstand und Vernunft sowie die Reihenfolge - die Erkenntnis hebt mit der Wahrnehmung an, kommt von da zum Verstand, geht zur Begrifflichkeit weiter und endet bei der Vernunft - bedeuten aber nicht, wie es die Empiristen verstehen, daß unsere Wahrnehmung ein diffuses Material aus unendlich vielen elementaren Sinnesdata ist, die dann erst analytisch-logisch geordnet werden müssen. Wir sehen nämlich nicht Farbflecke, sondern immer schon konkrete Ganzheiten (Menschen, Tische, Stühle, Fenster), ja mehr noch: wir sehen hier nicht nur Menschen und Geräte, sondern auch den Hörsaal und ihn im praktischen Zusammenhang der Vorlesung, die auf weitere Umfelder verweist (Universität, Studium). Wir sehen also die Umwelt, und für uns Menschen ist die Umwelt Welt. Wir hören nicht Lautelemente, die wir dann zusammensetzen, sondern hören Sprache und Rede, und dies in einem Umfeld. Und wir sehen nicht einerseits, hören andererseits und setzen dann zusammen, sondern nehmen diesen konkreten Zusammenhang wahr.
     Daher ist die Wahrnehmung, wenn wir sie isolieren und abstrahieren, zugleich synthetisch und synthetisierend, das heißt, sie ist nicht bloß passiv, sondern auch aktiv. Ihre Tätigkeit besteht nicht nur im "Nehmen", sondern auch im "Wahrnehmen". Sagen wir nun statt "Wahrnehmen" "Sinn", ist das Aktive bereits in der Wahrnehmung der Sinnhaftigkeit. Diese wiederum hat mit Zwecken zu tun: was nämlich unsere Umwelt zur Umwelt macht, sind die zweckgerichteten Tätigkeiten (Studium, Lehre, Forschung, Lernen).
     Kant untersucht in der Kritik der reinen Vernunft die Erkenntnis, und zwar die theoretische und nicht die praktische. Er untersucht also die menschliche Erkenntnis als das, was sie immer schon war - vernünftig. Und als solche ist sie eben eine synthetische, aktive, prinzipienbestimmende und zweckgeleitete Tätigkeit. Mit anderen Worten, die Erkenntnis ist nicht tabula rasa, eine leere Platte, auf der sich passive Eindrücke abbilden.
     Kant hat ein Mißverständnis der Philosophie, die im Kern Metaphysik ist, aufdecken wollen und ein zugleich kritisches und konstruktives Verständnis dieser Naturanlage ermöglichen wollen. Er fragt also nach der Metaphysik, nach jenem Transzendierenden, das zu einer besonderen Wissenschaft vom Übersinnlichen führt, zu Begriffen und Aussagensysteme, die sich widersprechen und uns somit in einen Kampfplatz der Meinungen und in eine Logik des Scheins bringen. [Aber worin liegt das] Mißverständnis der Philosophie? Kant zeigt es anhand der Analyse eines bestimmten Modells von theoretischer Wissenschaft, das erst zu seiner Zeit sichtbar wurde: die theoretische Physik, die eine fortschreitende, sichere, neue und "objektive" Erkenntnis und daher in ihren Ergebnissen für jedes Subjekt zwingend ist. Für Kant beruht diese Leistung der theoretischen Wissenschaft auf ihren apriorischen, konstruktiven und aktiven Anteilen, wobei die apriorischen Elemente der Anschauung Raum und Zeit und die des Verstandes die kategorischen Einheiten [bilden]. [?]
     Das Mißverständnis der Metaphysik liegt also darin, daß ihre Sätze, Aussagen, Urteile und Theoreme so aufgefaßt werden, als handle es sich dabei um Newtonische Theoreme, das heißt um Aussagen über seiende Dinge, die bloß im Unterschied zu den Naturdingen nicht sinnlich sind. Wenn zum Beispiel theoretisch bewiesen werden soll, daß Gott existiert, werden die Kategorien der Substanz und der Existenz (Dasein) so verbunden, als sei die Substanz ein Ding und die Existenz eine Eigenschaft. Die Substanz ist jedoch eine Kategorie der Relation (sie ist Trägerin der Eigenschaften zu den Eigenschaften) und die Existenz eine der Modalität (das heißt, ein Begriff kann sich entweder auf Seiendes oder auf Nichtseiendes beziehen).
     Das Ergebnis der kritischen Analyse der konstruktiven Leistungen läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Weil die synthetischen Formen der Erkenntnis (die Anschauung und das Denken) aktive und konstruktive Leistungen sowie Bedingungen der Möglichkeit konsistenter Erfahrung darstellen, sind sie einerseits nur auf Erfahrbares, also auf wirklich oder potentiell gegebene Objekte anwendbar. Andererseits aber ist die Erfahrung nicht nur passiv, sondern auch aktiv. Das heißt also, daß uns selbst wirkliche Gegenstände nie bloß passiv gegeben sind. Wir haben die Natur und das Natürliche nicht gemacht, aber die Gegenständigkeit ist eine Leistung der Natur.

     Wie kommt die Natur bei den Aufklärern vor?
     - Für die optimistischen, direkten Aufklärer ist sie neutral, sie ist das Material menschlicher Erkenntnis und Herrschaft: Für Locke ist die Natur reich genug; Hegel sieht in ihr eine bloße Gestalt, die Entäußerung des Geistes; und Rousseau meinte, die Natur sei gut (einschließlich der Natur des Menschen bzw. des vormenschlichen Naturwesens), denn sie sei keine Bedrohung, da nur der losgelassene Egoismus eine Gefahr darstelle.
     - Die Skeptiker der Aufklärung sehen in der Natur nicht erst eine Gesellschaft, sondern den Kampf aller gegen alle.

     Kant stellt fest, daß selbst wenn alle einzelnen Menschen aufgeklärt wären, dies noch keine vernünftige und gerechte Gesellschaft ergeben würde. Denn ein Gattungsobjekt gibt es nicht, und daher muß eine vereinigende Ursache hinzukommen: Die Idee nämlich, daß die Menschen sich zu einer autonomen, gerechten und vernünftigen Gesellschaft zusammenschließen können, kann selbst zur Ursache ihrer Verwirklichung werden. Für die Verwirklichung gibt es natürlich keine Garantie, denn die Menschen sind nicht nur vernünftig, sie ist aber doch als unendlicher Prozeß mit Rückschlägen denkbar.
     Hegel, der ja bereits die Aufklärung relativiert hatte, setzte die liberale John Locke-Adam Smith-Linie fort: der Prozeß des Fortschritts zur Vernunft in der Geschichte gehe hinter dem Rücken des Subjekts vor sich. Das Subjekt dieses Prozesses ist der naturwüchsige Antagonismus, welcher selbst Prozeß der Selbstverwirklichung eines absoluten Geistes ist. Es handelt sich also hierbei um einen theologischen Rest, der sowohl die individuelle Autonomie als auch die naturwüchsige Durchsetzung des Fortschritt relativiert: das vermeintliche (einzelne) Subjekt ist nur eine Phrase, und der Geschichtsprozeß (im ganzen) ist bloß eine Erscheinungsweise, die phänomenologische Seite des Absoluten.
     Die Vernunft kann also, so Kant, alles Erfahrene transzendieren, alles Gegebene überschreiten. Das liegt daran, daß der Mensch in jeder Erkenntnis transzendiert und dabei Prinzipien und übergreifende Formen bzw. Kategorien anwendet. Falsch ist es, wenn die Grenzüberschreitung blind geschieht, so als ob sie ein Überschritt zu übersinnlichen Dingen sei. Die Metaphysik als Vernunftswissenschaft schlägt demnach zuerst eine andere Richtung ein: Ihre Aufgabe [besteht] zunächst darin, das Überschreiten selbst kritisch zu untersuchen und zwischen seinen legitimen und illegitimen Funktionen zu unterscheiden. Die Metaphysik, als Wissenschaft begründet, ist also Transzendentalphilosophie. Sie ist der Beweis für die Möglichkeit der Bindung der theoretischen Erkenntnis an die Erfahrung. Die transzendentale Dialektik untersucht demnach nichts anderes als die Kategorien, insofern sie Wahrheit leisten.
     Wir haben gesehen, daß Kant sich in "einiger Verlegenheit" befindet, wenn er die Vernunft, die er ja als das Vermögen der Prinzipien definiert, als oberste Erkenntniskraft erklären soll. Er fügt dem hinzu, daß der Ausdruck "Prinzip" zweideutig ist. Das Prinzip ist einerseits eine Prämisse, die für Folgerungen gebraucht wird - und Konsequenzen ziehen tut der Verstand unentwegt -, sowie die Formulierung von Bedingungen. Der eigentliche Grundsatz der Vernunft ist demnach die Bedingung der Bedingung - das Unbedingte - zu finden. Der einzige Begriff der transzendentalen Dialektik, das heißt die Untersuchung des Vernunftsüberschritts, die nicht schon in der Untersuchung des Verstandesdenkens vorkommt, ist der des Unbedingten.
     Man kann vielleicht - sehr frei - sagen: Die transzendentale Dialektik ist die Untersuchung jenes notwendigen Begriffs des Unbedingten oder des Absoluten, und ihr Ergebnis ist die Einsicht, daß das Unbedingte kein Begriff ist, oder wenn es als Begriff verstanden wird, ein leerer ist, denn ihm entspricht kein Gegenstand, kein Ding. Das Unbedingte ist nämlich vielmehr eine Idee, und zwar eine Idee der Vernunft selbst. Es ist der Name für das Bedürfnis der Vernunft nach Wirklichkeit. Die Metaphysik als kritische Wissenschaft ist wiederum die Einsicht und der Nachweis, daß dieses Bedürfnis der Vernunft nicht durch einen wirklichen oder gedachten Gegenstand erfüllt werden kann, weil Gegenstände immer bedingt sind. Sie sind als Seiende durch die Natur und als Objekte der Erfahrung durch die aktive Tätigkeit der Erkenntnis bedingt. Das Unbedingte ist also kein Begriff, der konstitutiv, zur Konstituierung eines Gegenstandes, gebraucht werden kann, sondern eine Idee der Vernunft selbst, die sich hier als Praxis begreift.
     Die Vernunft - ich habe das schon vorher angesprochen - ist das Vermögen der Zwecke, die nicht Gegebenes, sondern Gewolltes und nicht Seiendes, sondern Seinsollendes sind. In ihrer Zwecksetzung und im Handeln nach Zwecken ist die Vernunft frei, nicht aber in ihrer Realisierung der Zwecke. Die Vernunft ist aktiv - und zwar bereits in der theoretischen Erkenntnis der gegebenen Natur -, frei aber ist sie allein in der Bestimmung ihrer selbst als Willen, als praktische Vernunft. Die Zwecke, die die Vernunft setzt, sind de facto durchaus relativ. In der Reflexion auf relative Zwecke entdecke ich, daß mein relatives Ziel des Wollens wiederum durch anderes begründet ist. Ich entdecke auch, daß der formale Begriff des Zeckes ("gut für ?") schlechthin am Begriff des Guten hängt und daß ich hiermit die Idee des Unbedingten fasse. Die Idee des Guten bzw. des unbedingten Zweckes ist wiederum kein Begriff eines Seienden, sondern eine Bestimmung des Handelns, des Willens durch die Vernunft selbst. [Mit anderen Worten:] die Idee des Guten ist kein Ding, aber ihrer ist die Vernunft mächtig.
     Ich habe schon vorher betont, daß man das Ergebnis der Kritik der reinen Vernunft als Destruktion eines Mißverständnisses der Metaphysik, als eine theoretische Wissenschaft von nichtsinnlichen Gegenständen und als Fundierung einer sich selbst besser verstehenden Metaphysik sehen kann. Die Metaphysik ist in ihrem kritischen Teil Transzendentalphilosophie; sie untersucht die Bedingung der Möglichkeit des legitimen Transzendierens und der Kritik der falschen dogmatischen Transzendenz. Nun kann man dem hinzufügen, daß die Metaphysik in ihrem positiven Teil Einsicht in die praktische Natur der Vernunft, Erkenntnis des Menschen als vernünftiges Wesen und Wissenschaft als praktische Vernunft ist, die das Handeln der Menschen auf die notwendige Vernunftsidee des Guten - die einzige unbedingte Idee - bezieht.

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*) 13. Dezember 1982, 7. Sitzung im Wintersemester 1982/1983. [Im Jahr 1983 veröffentlichte Margherita von Brentano einen Artikel über "Kants Theorie der Geschichte und der bürgerlichen Gesellschaft", in: Norbert W. Bolz und Wolfgang Hübener (Hrsg.), Spiegel und Gleichnis. Festschrift für Jacob Taubes,
Würzburg, S. 205-214.]

Teil 3