Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Yun Heunggil: Der Mann, der neun Paar Schuhe hinterließ. Teil 3

06.10.2005.
     Der Professor hielt ihn mit Mühe davon ab, das Haus zu verlassen, und drängte ihn wieder auf seinen Platz zurück.
     "Wir wollen die Verhandlungen zu Ende bringen."
     "Ich zwinge Sie zu nichts."
     "Was um Himmels willen soll ich getan haben? Warum quälen Sie mich so? Was haben Sie überhaupt gegen mich in der Hand?"
     "Sie brauchen mich nicht zu siezen, Herr Professor."
     "Seit Sie mich zum ersten Mal angerufen haben, muss ich fortwährend überlegen, worum es gehen könnte. Nicht, weil mich mein Gewissen quält. Niemand, der mich kennt, wird meine Integrität in Frage stellen. Und doch, ich blickte zurück auf meine Vergangenheit, ob ich nicht unbewusst einen Fehler begangen haben könnte. Aber jedes Mal kam ich zu demselben Ergebnis. Bis heute habe ich nichts getan, was gegen das Gesetz verstößt. Daher verstehe ich nicht, was Sie von mir wollen."
     "Selbstredend stehen Sie jenseits der Straftaten. Und viele Menschen glauben an Ihre Integrität und verehren Sie. Genau hier liegt das Problem. Deshalb haben meine Unterlagen auch ihren Verkaufswert. Angenommen, Sie hätten öffentliche Gelder unterschlagen, einen Menschen ermordet oder eine Frau vergewaltigt - verzeihen Sie, das sind nur Beispiele - wenn Sie Ähnliches getan hätten, wären diese Papiere nichts wert. Denn sobald Ihre Taten bekannt werden, verhaftet man Sie, und ich bekomme mein Geld nicht. Anders verhält es sich, wenn es um eine delikate Angelegenheit geht, die in der Grauzone zwischen Gesetz und Moral liegt. Wenn man herumposaunt, dass jemand wie Sie, der für seinen Namen und seine Integrität respektiert wird, gewisse Geheimnisse hat und Fehler begangen hat, dann sperren alle die Ohren auf. Wir sind gut organisiert und verfügen über ein dichtes Informationsnetz. Fähige Mitglieder unserer Organisation haben Sie nach einem ausgeklügelten Plan lange beschattet. Selbst als Sie im Ausland weilten, haben wir Sie beobachtet."
     "Sie sind jung und haben Ihre Zukunft noch vor sich. Warum tun Sie also so etwas? Wenn Sie Geld brauchen..."
     "Wir schweifen immer wieder ab. Kommen Sie zur Sache, und fassen Sie endlich Ihren Entschluss."
     "Langsam habe ich eine Ahnung, wovon Sie sprechen. Aber..."
     "Ich weiß nicht, welchen Fall Sie konkret meinen."
     "Na, wenn Sie von einer delikaten Angelegenheit sprechen, dann kann es doch nur der eine Fall sein, oder?"
     "Reden Sie weiter."
     "Wie Sie wissen, handelt es sich dabei um etwas, das jedem hätte passieren können."
     "Und?"
     Der hoch verehrte Wissenschaftler und tugendhafte Bürger Professor Song begann also, seine Erinnerungen tastend zurückzuverfolgen und jene Kleinigkeiten und Misserfolge, die lange im Tiefsten seines Inneren vergraben gelegen und einen Winkel seines Gewissens erdrückt hatten, auszuplaudern, als ob er sich bei einem Vertrauten über sein Schicksal beklagte. Jedes Mal, wenn die eine Geschichte beendet war, brachte ihn das raffinierte Verhör des jungen Mannes dazu, eine weitere Geschichte zu enthüllen, die noch schwerwiegender ausfiel als die vorherige, während dieser mal zustimmend, mal missbilligend, gelegentlich verhöhnend und schimpfend den Professor an den Rand der Erschöpfung trieb. Auf diese Weise bewirkte er, dass Professor Song sich nicht mehr zurückhalten oder den Willen aufrechterhalten konnte, noch länger seine Geheimnisse zu bewahren. Wie vor einem Priester beichtete er alles, wirklich alles, was ihn belastet hatte.
     Es geschah im letzten Herbst. Er war aus dem Wagen gestiegen und tief in Gedanken versunken, als er eine Gasse entlang lief, in der nur wenige Passanten waren. Plötzlich fiel ihm auf der Straße ein 100-Won-Schein ins Auge. Unwillkürlich bückte er sich, um ihn aufzuheben. Der Schein aber begann sich langsam zu bewegen. Ohne weiter zu überlegen, lief er einfach ein paar Schritte hinterher. Da schwang sich der Schein mit einem Mal in die Luft, und der Professor hörte ein schallendes Gelächter. Hinter dem Fenster eines kleinen Ladens stand ein blasser Junge und wedelte mit dem Geld, das am Ende einer Spule hing. Er lachte gellend. Am nächsten Tag traf der Professor am selben Platz wieder auf diese Situation. An die Schmach vom Vortag denkend, beschloss er, sich zu rächen und erbarmungslos vorzugehen. Ahnungslosigkeit vortäuschend wich er zunächst dem Schein aus, doch nur, um auf den Faden der Spule, den er ausfindig gemacht hatte, fest zu treten und den Schein vom Faden abzureißen. Im Laden begann der Junge laut zu weinen. Unter Tränen kam er herausgerannt und schlug mit seinen kleinen Fäusten gegen den Bauch des Professors. Er hatte Kinderlähmung. Professor Song erblickte hinter dem Fenster des Ladens die Mutter des Jungen, die ihn vorwurfsvoll ansah, und errötete. Das Gesicht des Jungen, der hinter dem Fenster versteckt laut gelacht, dann aber geweint hatte, und der vorwurfsvolle Blick der Mutter quälten ihn noch lange.
     Auch diese Geschichte ereignete sich im letzten Jahr. Er war nachts unterwegs, als er einer lärmenden Gruppe begegnete. Eine Handvoll junger Männer war dabei, einen älteren Herrn mit leicht ergrauten Haaren brutal zu schlagen und zu treten. Es passierte mitten auf einer hell beleuchteten Straße, und viele Zuschauer hatten sich versammelt. Wer Recht und wer unrecht hatte, war in dem Moment nicht wichtig, und der Professor wäre am liebsten dazwischen gegangen, um die Männer aufzuhalten. Wenn sie weiter auf den Alten einschlügen, würden sie ihn noch umbringen. Zur Tat drängte allerdings nur sein Gedanke, denn in Wirklichkeit schaute er aus sicherer Entfernung zu, wie die Kerle, die weder Recht noch Moral kannten, dem Mann Gewalt antaten. Der Professor blieb wie angewurzelt stehen. Dann wandte er rasch seinen Blick ab, lief den Weg, den er kam, wieder zurück und murmelte in sich hinein ?Es ist Mord. Es ist zweifellos ein Mord?.
     Einige Jahre zuvor hatte er für eine Zeitschrift in mehreren Folgen seine Erfahrung geschildert, wie er den Gipfel der Jungfrau erklommen hatte, und dafür gute Kritiken bekommen. Der Bericht war von vorne bis hinten erfunden. Aber zu dieser Lüge wurde er von der Öffentlichkeit angestachelt. Während seiner Reise durch Europa hatte er eigentlich vor, unbedingt die Alpen zu besteigen, so wie jeder Bergsteiger einmal davon träumt. Nach der wissenschaftlichen Tagung, an der er teilgenommen hatte, blieb jedoch nicht mehr genügend Zeit, auch konnte er weder eine geeignete Truppe zusammenstellen noch die Ausrüstungen besorgen. Außerdem reichte sein Geld nicht mehr. Daher musste er seinen ursprünglichen Plan verwerfen und flog wieder heim. Nur ein oder zwei Bücher über die Alpen hatte er im Gepäck. Kaum war er gelandet, wurde er von befreundeten Bergsteigern und Reportern umringt, die ihn mit Fragen bedrängten, wie es in den Alpen gewesen sei. Zunächst war er verlegen, aber weil sie ihm weiter hartnäckig zusetzten, bekam er es mit der Angst zu tun. Wenn er gesagt hätte, dass er die Alpen nicht gesehen habe, dann hätten sie ihm vorgeworfen, dass er sich als Bergsteiger schämen müsse. Um zumindest ihre Erwartungen nicht zu enttäuschen, blieb ihm keine andere Wahl. Er musste irgend etwas erzählen. Zum Glück besaß er noch einen Bericht von einem drittklassigen französischen Schriftsteller. Mit dessen Hilfe konnte der Professor letztlich, wenn auch ungewollt, die Route, die die quälendste und schwierigste in seinem ganzen Leben sein sollte, durchlaufen und die Jungfrau besteigen. Es war eine Erfahrung, die ihm Unbehagen und Ekel bereitete.
     Einmal kam wegen seiner Dissertation Ärger auf. Es stellte sich allerdings heraus, dass es sich um die infame Intrige von Professor Tschö handelte, und die Beschuldigung aus der Luft gegriffen war. Die Behauptung von Tschö war nicht ganz falsch, denn Song hatte in seiner Arbeit Johansens Theorie von der homozygoten Vererbung zu Rate gezogen. Wenn man im selben Fach forscht, dann kommt es schon mal vor, dass in Arbeiten gelegentlich Stellen auftauchen, die einander ähneln. Auch unterschied sich seine Methode nicht viel von der geläufigen Art anderer Wissenschaftler, die die Verdienste ihrer Vorgänger für sich nutzen, um ihre Theorie zu untermauern. Daher war es nicht fair, ihn allein des Plagiats zu beschuldigen. Zwar soll Tschö gelegentlich noch immer diese Geschichte herumerzählen, bis heute gab es jedoch niemanden, der darauf bestand, dass der Professor seinen Doktortitel wieder zurückgeben müsse.
     Weil er nur zwei Töchter hatte, verdächtigten ihn ab und zu Leute, Affären mit anderen Frauen zu haben, um einen Sohn zu bekommen. Aber mit seinen beiden süßen Töchtern war er mehr als glücklich. Als sein bester Freund früh an einer Krankheit verstarb, suchte er die Witwe auf, immer wenn er Zeit dafür fand, um sie zu trösten, sie zu ermutigen und ihr zu helfen. Darüber zerrissen sich einige das Maul. Als die Witwe dann wirklich einmal Hilfe nötig hatte, konnte er nicht anders als sie abzuweisen, weil er die Blicke der anderen gefürchtet hatte. Nun bereute er seine Tat. Denn ganz gleich, was man über ihn gedacht und getratscht hätte, es wäre seine Pflicht gewesen, der Frau seines verstorbenen Freundes nach Kräften zu helfen.
     Als es an der Universität eine Auseinandersetzung darüber gab, wie Studenten zu bestrafen seien, war er derjenige, der die größten Schwierigkeiten bekam. Er geriet zwischen alle Fronten. Die einen kritisierten ihn, er würde ungebührlich die Partei der Studenten ergreifen, während die anderen ihn als Pseudo-Professor beschimpften, der gewissenlos und unkritisch sei. Es war eine unverrückbare Tatsache, dass er während einer Sitzung des akademischen Senats einige Studenten gerügt hatte. Doch war das nur ein winziger Teil seiner Äußerung, auch galt seine Rüge nicht der gesamten Studentenschaft. Die paar Studenten, die seiner Meinung nach auf keinen Fall ungestraft davonkommen durften, hatten durch ihre unüberlegten Handlungen schon des öfteren Ärger verursacht und dadurch alle Studenten in Verruf gebracht. Der Professor konnte seine Wut nicht unterdrücken, als er Zeuge wurde, wie sie unter dem Vorwand eines Hungerstreiks den Vorlesungssaal besetzt hielten, sich von Kuchen und Cola ernährten, die sie unter ihren Jacken hineingeschmuggelt hatten, und sich ihre Zeit mit Kartenspielen vertrieben. Der Vorfall nahm einen unglücklichen Verlauf, als seine Äußerung falsch weitergetragen wurde - sicher wusste er, welchem Magier er diese Verleumdung zu verdanken hatte -, wodurch seitens der Studenten Missverständnisse und Misstrauen entstanden, ohne dass der Professor sich etwas zuschulden hatte kommen lassen. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr kam die Wahrheit ans Licht, und es blieb kaum etwas vom einstigen Missverständnis übrig, aber für ihn, der seine Studenten über alles liebte, war dieser Abschnitt seiner Vergangenheit der schmerzlichste und erniedrigendste.
     Nachdem er alle seine Taten, die ihn belastet hatten, gebeichtet hatte, fühlte sich sein Kopf klarer an, als ob er tatsächlich getauft worden wäre. Aber nach dem zähen und nervenaufreibenden Kampf mit dem jungen Mann war er müde und erschöpft wie jemand, der eine Tracht Prügel bekommen hat. Es war nicht einfach, die Übertreibungen des jungen Mannes, der solche unbedeutenden Geschichten aufgebläht und in etwas Schwerwiegendes verwandelt hatte, der Wahrheit näher zu bringen.
     Der junge Mann, der bis dahin dem Professor gierig zugehört hatte, wartete weiterhin gespannt, obwohl bereits alles gesagt war.
     "Was dann?"
     "Was dann? Was meinen Sie? Ich sagte doch, dass ich alles erzählt habe."
     "Alles erzählt? Bis jetzt haben Sie sich nur selbst gerechtfertigt. Sie haben nur so getan, als würden Sie beichten. Die Wahrheit haben Sie dabei mit keinem Wort gesprochen. Es besteht noch immer ein großer Unterschied zwischen dem, was Sie gesagt haben, und dem, was ich an Beweisen gesammelt habe. Aber, meinetwegen. Wir können hier zum Schluss kommen. Sie haben die entsprechenden Mittel, die Ware zu kaufen?"
     "Bis jetzt hat nur einer geredet, und zwar ich. Sie haben kein einziges Wort..."
     "Das ist richtig. Ich habe kein Wort gesagt."
     "Dann habe ich keinen Grund, Ihnen Geld zu geben."
     "Und ob. Selbst wenn ich über Ihre Vergangenheit nichts gewusst hätte, das, was Sie von sich aus gebeichtet haben, entspricht vollkommen dem Wert, den ich verlange. Außerdem ist hier dieser Umschlag. Verstehen Sie mich?"
     Der Professor verstand gar nichts. Er wurde nur noch verwirrter.
     Das einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass er keine andere Wahl hatte, als diesem Kerl das Geld zu geben. Schließlich holte er aus der Innentasche seiner Jacke das Bündel hervor.
     "Es sind 50.000 Won. Das habe ich heimlich von meinem Sparkonto abgehoben. Meine Frau weiß nichts davon."
     "Ich verstehe. Dann gebe ich mich mit der Hälfte zufrieden. Den Rest erlasse ich Ihnen als Zeichen meiner Verehrung, Herr Professor."
     So kam es, dass der tugendhafte Bürger Professor Song den Umschlag gegen ein Bündel Geld tauschte. Kaum war der junge Mann aus dem Wohnzimmer, riss der Professor hastig den Umschlag auf. Ein paar Bilder fielen auf den Tisch.
     Flüchtig erkannte er, dass es Aufnahmen von schönen Landschaften und alten Sehenswürdigkeiten waren wie vom Palast Kyong-bok-gung oder vom Sol-ak- Gebirge.
     Ihm wurde schwarz vor Augen, als er den Brief las, der zusammen mit den leeren Blättern im Umschlag gelegen hatte. Seine Hände zitterten.

     An Herrn Professor Song.
     Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, bin ich ein mittelloser Student der Sozialpsychologie. Ich schreibe an einer Arbeit über die Auswirkungen des sozialen Umfelds auf das Gewissen der Intellektuellen. Jedes Mal, wenn ich ein Ergebnis meiner Untersuchung erhalte, wird mir auf schmerzliche Weise bestätigt, dass es heute kaum jemanden mehr gibt, der sich seiner Integrität sicher ist.
     Aber nach meiner Prüfung sind Sie, Herr Professor, wahrlich einer von den Menschen, die man zu den gewissenhaftesten des ganzen Landes zählen kann. Sie können stolz auf sich selbst sein.
          In Verehrung
          ein mittelloser Student

     Das war alles. Den zerknüllten Brief in seine Hosentasche steckend, brach der Professor in lautes Lachen aus. Das Lachen, das einmal aus ihm herausbrach, war nicht zu bremsen. Als würde es nicht eher aufhören, bis alles Unreine in seinem Inneren, in Lachen verwandelt, seinen Körper verlassen hatte. Seine Familie, die sich vergewissern wollte, dass der junge Mann wieder gegangen war, stürzte erschrocken zu ihm. Professor Song zeigte vor ihr, die den Grund seines Lachens nicht kannte und darum ungeduldig wartete, dass er aufhörte, kein Anzeichen, sich mäßigen zu wollen. Sein schallendes Lachen erschütterte das ganze Wohnzimmer.
     Am nächsten Tag traf der hoch verehrte Wissenschaftler und tugendhafte Bürger Professor Song in seinem Stammcafe die ebenso als Wissenschaftler hoch verehrten und als Bürger tugendhaften Professoren Bak und Kim. Sie vertrieben sich die Zeit mit Gesprächen über die Ba-duk-Meisterschaft, die gerade ausgetragen wurde. Da seine Freunde nicht den Anschein hatten, über etwas anderes reden zu wollen, vermied es auch Professor Song, den Vorfall mit den seltsamen Anrufen zu erwähnen.
(Februar 1973)

Mit freundlicher Genehmigung des Pendragon Verlages

Informationen zum Buch und Autor hier