Efeu - Die Kulturrundschau

Wer jetzt aus allen Wolken fällt

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09.04.2024. Der neue Song der Antilopen-Gang sorgt mit seiner Kritik am linken Antisemitismus für Aufregung: man hört auch nur, was man hören will, seufzt der Tagesspiegel. Die Welt dankt Steven Zaillian auf den Knien für dessen für Netflix entstandene Highsmith-Adaption des "talentierten Mr. Ripley". Die SZ bewundert in der Wiener Albertina Modern die Schönheit von Diversität. Die taz lernt, dass auch Architektur sexistisch sein kann.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.04.2024 finden Sie hier

Musik

Helle Aufregung um den Song "Oktober in Europa" der Antilopen Gang: Das Rap-Trio um Danger Dan prangert darin den die Grenze zum Antisemitismus oft überschreitenden israelkritischen Konsens in Gesellschaft, Kultur und eigener Szeneblase an - und stößt damit bei vielen erwartbarerweise auf Empörung und Ablehnung. Manche stellen sich dabei vielleicht auch absichtlich dumm und deuten offensichtlich bewusst zweideutig gehaltene Zeilen wie "Zivilisten in Gaza sind Schutzschild der Hamas / Schutzschild der Nachfahr'n der Juden-Vergaser / Schutzschild der sonst immer so mutigen / 'Blabla, nie wieder Blabla'-auf-Instagram-Sager" so um, als hielte die Antilopen Gang eindeutig die Palästinenser für die Nachkommen der Nazis. "Man hört eben, was man hören will", kommentiert dazu Jana Weiss im Tagesspiegel. "Was man dabei jedoch nicht außer Acht lassen darf: Die Möglichkeit, dass Menschen diese Zeilen falsch verstehen könnten oder wollen, muss einer Band wie der Antilopen Gang bewusst gewesen sein. Die Provokation ist sicherlich kein Unfall."



Auch Lea Fauth von der taz entscheidet sich für eine eindeutige Lesart und sieht in den drei Zeilen nicht etwa eine Aufzählung dreier unterschiedlicher Milieus, sondern unterschlägt die dritte Schutzschild-Zeile, um so die zweite Zeile zu einer bloßen Emphase der ersten umzudeuten, was den mit Blick auf die Antilopen Gang eher fernliegenden Vorwurf argumentativ erleichtert, aus dem Text spreche "eine Sehnsucht im kollektiven Unterbewusstsein der Deutschen" danach, "sich der deutschen Schuld - auf welche Art auch immer - zu entledigen. ... Abgesehen von der Holocaust-Verharmlosung, die dem innewohnt, sowie der Reduzierung Zehntausender Toter auf die Funktion eines Schutzschildes: ... Die Täter-Abstammung jemand anderem anhängen zu wollen, die deutsche Schuld und Täterschaft also abzuwälzen, kann nicht im Sinne des Kampfs gegen Antisemitismus sein." Dass es eher die Hamas ist, die die Zivilisten in Gaza in diese Rolle zwingt, erwähnt Fauth nicht. Wer jetzt aus allen Wolken fällt, dass die Antilopen Gang aus dem bunten Supermarkt der linken Positionen für sich eine antideutsch grundierte wählt, hat in den letzten Jahren wohl nicht zugehört, schreibt derweil Ueli Bernays in der NZZ: Danger Dan und die Antilopen haben in zahlreichen Songs wiederholt auch den linken Antisemitismus thematisiert". Im Gespräch mit Dlf Kultur ist der Rapper Ben Salomo, der seit Jahren Antisemitismus in der Rapszene anprangert, sehr dankbar für dieses Stück: "Endlich spricht jemand aus, was wir im Herzen fühlen."

Konstantin Nowotny verzweifelt derweil im Freitag, wie brav und sozialpädagogisch sich dagegen Die Ärzte mit ihrer aktuellen Single "Demokratie" ausnehmen, in der sie Wählengehen und anheimelnde "Wir sind mehr"-Atmosphäre dem politischen Rechtsruck entgegen setzen, während sie Rechtsextremen früher noch beherzt Kraftausdrücke entgegen schmetterten: "Bloß nicht spalten, bloß nicht beißen, lieber den Schrei nach Liebe beantworten - wir können sie ja noch bekehren. Oder? Höchste Zeit, wieder mehr 'Arschloch' zu sagen."

In der SZ blickt Reinhard J. Brembeck zurück auf den Siegeszug der Alte-Musik-Bewegung, die in den Neunzigern für Furore sorgte. Von diesem lodernden Feuer ist heutzutage nichts mehr zu spüren, seufzt er: "Das Milleniumsjahr 2000 war der Endpunkt dieser Entwicklung", seitdem "hat die Historikerszene keine nennenswerten Neuerungen mehr zu verzeichnen, auch wenn sie sich nach und nach die romantische Musik eroberte, auch wenn ihr noch immer viele hinreißende Musiker folgen. Mit Ausnahme des renitent romantischen Christian Thielemann haben, angefangen bei Claudio Abbado und Simon Rattle, alle großen Dirigenten, Instrumentalistinnen und Sänger die Techniken und Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis in ihr Musizieren integriert. Egal, ob die neuen Helden Raphaël Pichon oder Jakub Józef Orliński, heißen, sie alle liefern keine neuen Revolutionen, sondern Fortsetzungen und Verfeinerungen des in den 1990er-Jahren Erreichten. ... Der Aufstand ist zu Alltag geronnen."

Weitere Artikel: Jens Uthoff spricht für die Jungle World mit Anja Huwe, die in den Achtzigern mit ihrer Gothicpunk-Band Xmal Deutschland Erfolge feiern konnte und jetzt nach 30 Jahren Musikferne ein Solo-Comeback vorgelegt hat. Beyoncés Coverversion von Dolly Partons "Jolene" enttäuscht Tagesanzeiger Philippe Zweifel. Walter Weidringer (Presse) und Ljubiša Tošić (Standard) schreiben knappe Nachrufe auf den Dirigenten Michael Boder.
Archiv: Musik

Film

Irrt durch das Museum der Dinge: "Ripley" (Netflix)

Welt-Kritiker Elmar Krekeler dankt Steven Zaillian auf den Knien für dessen für Netflix entstandene Highsmith-Adaption des "talentierten Mr. Ripley" - und vor allem für dessen Entscheidung, den Stoff in Schwarzweiß zu drehen. Die achtteilige Miniserie sieht für Krekeler damit aus "wie ein Anti-'Barbie'-Manifest. Wie ein Echo des Neorealismo. ... Zaillian spannt ein optisches Metaphernnetz, das so dicht ist wie das literarische von Patricia Highsmith. Tom, der Aufsteiger, wird ständig Treppen hinauf geschickt. Süditalien sah nie so morbid aus. ... Man kriegt gar nicht genug von den Bildern, den Treppen in dieser Aufsteigergeschichte, den Skulpturen, die ständig in Nirgendwo zeigen, von den Brunnen, dem Meer, den Schleiern über dem Horizont. Und von dem Tempo. Und von der Musik. Und dem ganzen Museum der Dinge, in das Zaillian einen taucht." Für den Freitag bespricht Thomas Abeltshauser die Serie. Für 54books wirft Wieland Schwanebeck einen Blick auf die Geschichte von "Ripley"-Verfilmungen.

Weitere Artikel: Valerie Dirk resümiert im Standard den ersten Diagnole-Jahrgang unter dem neuen Leitungsduo Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh. Nachrufe auf den Schauspieler Peter Sodann schreiben Irmtraud Gutschke (Freitag) und Holger Gertz (SZ, online gestellt vom Tagesanzeiger). In der FAZ gratuliert Dietmar Dath Dennis Quaid zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Dev Patels "Monkey Man" (Tazler Michael Meyns sah ein "im besten Sinne globalisiertes Actionepos"), Michael Mohans Nonnen-Horrorfilm "Immaculate" (FAZ), Sam Taylor-Johnsons Amy-Winehouse-Biopic "Back to Black", das SZ-Kritikerin Johanna Adorján einfach nur schlecht findet, die vierte Staffel der ARD-Serie "Charité" (Welt) und Ian Penmans Buch über Rainer Werner Fassbinder (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

Für die Kafka-Serie der SZ hat sich der Schriftsteller Lutz Seiler nochmal Kafkas "Hungerkünstler" vorgenommen - und ist zutiefst erschüttert, dass sich seine Erinnerung an das Ende der Geschichte damit nicht in Einklang bringen lässt. In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen dem Schriftsteller Arnold Stadler zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Natascha Wodins "Der Fluss und das Meer" (FR), Aris Fioretos' "Die dünnen Götter" (online nachgereicht von der Welt), eine Neuausgabe von Anna Seghers' "Der Weg durch den Februar" (online nachgereicht von der FAS), Delafs Comic nach Franquin "Gaston - Die Rückkehr eines Chaoten" (SZ) und Nona Fernández' "Twilight Zone" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

"Erwartung/Der Wald" an der Oper Wuppertal. Foto: Börn Hickmann.

Um "toxische Weiblichkeit" geht es in einer für FAZ-Kritiker Jan Brachmann sehr reizvollen Stück-Kombination an der Oper Wuppertal. Manuel Schmitt hat "Erwartung" von Arnold Schönberg mit "Der Wald" von Ethel Smyth zusammengebracht. Und das funktioniert, freut sich Brachmann: "Edith Grossman bietet als Jolanthe die vibrierende Sinnlichkeit einer Wagner-Venus auf. So monströs diese Frau auch sein mag (immerhin hat Smyth hier, womöglich in emanzipatorischer Absicht, eine Figur toxischer Weiblichkeit ersonnen, die wie Don Giovanni hierarchischen Sex erzwingen will, also eine Vergewaltigerin), so verströmt sie doch vokal nichts als Zauber und Glück. Sehr angenehm fallen die warmen, biegsamen Stimmen von Samueol Park als Landgraf Rudolf, Zachary Wilson als Hausierer und Erik Rousi als Peter auf."

Außerdem: Die Berliner Zeitung gibt mit dpa Updates zum Wasserschaden am Berliner Ensemble.

Besprochen werden Hakan Savaş Micans Adaption von Dinçer Güçyeters Roman "Unser Deutschlandmärchen" am Maxim Gorki Theater Berlin (SZ), Alexandra Liedtkes Inszenierung von Tschechows Stück "Der Kirschgarten" am Salzburger Landestheater (nachtkritik), David Böschs Inszenierung von Grigori Frids "Das Tagebuch der Anne Frank" an der Staatsoper Hamburg (taz).
Archiv: Bühne

Architektur

Wie sieht eigentlich feministische Stadtplanung aus, fragt Alina Komorek in der taz und findet Antworten bei der Grünen-Politikerin Anja Liebert, die sich für eine inklusive und frauenfreundliche Stadtplanung einsetzt. Denn: Sexismus exisitiert auch im Städtebau, lernt Komorek: "Die Wuppertaler Architektin Isabella Rosenkaymer nennt ein weiteres Beispiel für Sexismus in der Architektur. Sie hat im Studium noch ihre Entwürfe nach Le Corbusiers Modulor ausrichten müssen. Der einflussreiche Modernist entwickelte den Modulor an einem Mann mit einer Körpergröße von 1,83 Metern, für seinen Komfort legte Le Corbusier Zimmerhöhe, Gänge oder Türen aus." Als Vorbild kann ein Großprojekt in Wien gelten, so Komorek: beim Bau der Seestadt Aspern setzt Obersenatsrätin Eva Kail auf sichere Wege für Frauen und Entlastung im Alltag. Es gibt "Stellplätze für Kinderwagen in den Gebäude, Räume zum Spielen, die autofrei bleiben, Mehrfamilienhäuser mit Büros und Cafés, die gleich um die Ecke sind. Kail ließ in Aspern die obsolete funktionale Stadt durch gemischte Nutzungen aufweichen. Das bedeutet: Gehwege und Infrastruktur liegen in einem kleinen Radius rund um die Wohnung. Solch eine feministische Stadtplanung ist auch inklusiv: 'Wenn wir Barrieren wegnehmen, nützt das allen", sagen Rosenkaymer und Liebert."
Archiv: Architektur

Kunst

DSungi Mlengeya | Wallow, 2022 | Privatsammlung, Courtesy of Afriart Gallery © Sungi Mlengeya 

Die Schönheit der Unterschiedlichkeit wird SZ-Kritikerin Emily Weber in der Wiener Albertina Modern vor Augen geführt. Die Ausstellung "The Beauty of Diversity" bemüht sich, so die Kritikerin, künstlerische Positionen abseits des Kanons abzubilden als Ergänzung zur klassischen Sammlung, denn natürlich: je älter:" desto weißer, männlicher, westlicher sind sie". Weber ist beeindruckt: "Eine weibliche Person of Color, sie sieht aus, als würde sie tanzen, blickt den Betrachtenden selbstbewusst in die Augen. Das Weiß ihrer Kleidung geht im weißen Hintergrund auf. So entsteht ein Negativraum mit Platz für Interpretation. Das Porträt ist typisch für das Werk von Sungi Mlengeya, die sich mit der Repräsentation schwarzer Frauen und Weiblichkeit beschäftigt." Zum Ende der Ausstellung stellt sich für Weber aber doch die Frage, was die hier gezeigten Werke eigentlich gemeinsam haben, außer ihrer "Diversität" - es wäre für die Kritikerin jedenfalls ein Gewinn, wenn sie auch ganz allein für sich stehen könnten.

Claus Leggewie berichtet in der FR vom Streit um ein Kunstwerk der Gruppe Gelitin (Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reither und Tobias Urban): Das Brunnenprojekt "Wir Wasser" in Favoriten besteht aus "33 kubistisch-surreale Betonfiguren, die um eine Fontäne gruppiert sind" - das "harmlose" Kunstwerk wurde zum Gegenstand einer heftigen Debatte, befeuert von rechts, so Leggewie - ein Symptom für die schlechte soziale Lage in Wien-Favoriten: "Was die Ressentiments der Kunstbanausen letztlich antrieb, ist die in Favoriten umgehende und von denselben Desinformationsmedien geschürte Unsicherheit, seit es dort an einigen Brennpunkten Bandenkriege und die nicht völlig aufgeklärte Vergewaltigung einer Zwölfjährigen gab."

Außerdem: Jens Hinrichsen besucht für den Tagesspiegel die Kyiv Perenniale, die gerade in Berlin stattfindet. Ebenfalls dort schreibt Birgit Rieger einen Nachruf auf den Künstler und Gewerkschaftler Herbert Mondry.

Besprochen werdne die Ausstellung "Anselm Kiefer - Angeli caduti" im Palazzo Strozzi in Florenz (tsp), die Ausstellung "Constant Vision" mit Werken von Jorinde Voigt in der Liebermann-Galerie in Berlin (FR), die Ausstellung "Entangled Pasts. 1768-now. Art, Colonialism and Change" an der Royal Academy in London (taz), die Ausstellung "Echos der Bruderländer" im HKW (taz) und die Ausstellung "Bijoy Jain: Studio Mumbai - Breath of an Architect" in der Pariser Fondation Cartier (tsp).
Archiv: Kunst