9punkt - Die Debattenrundschau

Reformwillig, aber nicht reformfähig

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.01.2024. Die Proteste am Wochenende galten nicht nur der AfD, sondern dem Rechtsruck, sagt Luisa Neubauer in der taz. Der "Antifaschismus" der Proteste ist wohlfeil, meint Thomas Schmid in der Welt. Der Berliner Kultursenator Joe Chialo lässt die Antidiskriminierungsklausel fallen, melden die Zeitungen. In der FAZ schreibt Dan Diner über die Gründung Israels. In der FR erklärt Christoph Menke, warum die Hamas nicht von Freiheit reden kann.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 23.01.2024 finden Sie hier

Kulturpolitik

Gute Nachricht für Antisemiten in Berliner Kulturinstitutionen: Sie dürfen nun wieder mit Subventionen rechnen, wenn sie BDS-nahe Künstler beschäftigen und Ereignisse stillschweigend so organisieren, dass sich diese nicht von Israelis oder proisraelischen Kollegen gestört fühlen. Nach Protesten im Berliner Kulturbetrieb (4.000 Unterschriften!) zieht der Berliner Kultursenator Joe Chialo seine Antidiskriminierungsklausel zurück, meldet unter anderen die BZ Berlin. "Als Senator habe er die Argumente ernst genommen. Zudem gebe es juristische Bedenken, dass die Antidiskriminierungsklausel in dieser Form nicht rechtssicher sei. 'Wenn es berechtigte Zweifel gibt, ordne ich meinen Willen der Verfassungsmäßigkeit unter', sagte Joe Chialo. 'Die Klausel wird deshalb vorerst nicht mehr zur Anwendung kommen.'"

Für den amerikanischen Juristen Kenneth S. Stern, der für die IHRA-Definition verantwortlich zeichnet, war Chialos Klausel ohnehin "McCarthyismus", wie er im Gespräch mit Susanne Lenz von der Berliner Zeitung sagt. Überhaupt sei die Definition "oft als stumpfes Instrument missbraucht worden, um jemanden aus vielerlei Gründen als antisemitisch abzuqualifizieren, auch für Kritik an Israel. (…) Vielleicht gar nicht so sehr dafür, Kritik an Israel als antisemitisch zu disqualifizieren, sondern vor allem für propalästinensische Einstellungen. Ich mag mit manchen dieser Einstellungen oder Aussagen nicht einverstanden sein, aber sie antisemitisch zu nennen ist falsch, es ist sogar schädlich. Ich weiß, dass Deutschland eine andere Tradition hat, was Meinungsfreiheit angeht, als die USA, aber das schadet auf jeden Fall einer freien Diskussion, die in einer Demokratie so wichtig ist. Und es schadet dem Kampf gegen Antisemitismus, wenn man ihn auf diese einfachen Bedingungen reduziert, denn man verliert dann die Fähigkeit zu erkennen, was Antisemitismus wirklich antreibt."

Chialo ist "eingeknickt" und steht nun vor einem "Scherbenhaufen", kommentiert Swantje Karich in der Welt: "Die Klausel hat das Gegenteil dessen erreicht, was sie wollte. Eine späte Erkenntnis: Klauseln bekämpfen keinen Antisemitismus! Sie schränken den Austausch ein. Fatal aber wäre, wenn das Scheitern der Klausel nun auch ein Scheitern des Kampfes gegen Antisemitismus wäre. Die Museen, Theater, Institutionen müssen endlich selbst dafür sorgen, 'dass sie die Fähigkeit entwickeln, eigenständig über Antisemitismus zu urteilen'. Diese Worte hatte der Direktor des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross, in seiner Rede vor dem Abgeordnetenhaus Joe Chialo ins Stammbuch geschrieben, als draußen demonstriert wurde. Und er fügte etwas hinzu, was jetzt wirklich wichtig wird: 'Dazu gehört aber notwendigerweise auch Freiheit - auch Freiheit sich in seinem Wissen zu irren.'"

Im Tagesspiegel sekundiert Nicola Kuhn: "Es verdient Respekt, dass Joe Chialo nachgibt und die Stümperhaftigkeit seines Vorstoßes eingesteht. Lob verdient es nicht, das ihm manch Politiker im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses wohl vor allem aus Erleichterung darüber zollte, weil er Berlin damit aus der Kritik holt. Bei der anschließenden Aussprache ließ der Senator kaum erkennen, mit welchen Institutionen er sich denn nun zu beraten gedenkt außerhalb seiner Verwaltung, die ihn so schlecht präparierte."
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Medien

Seit Wochen macht ein "Zukunftsrat" von sich reden, der beitragen soll, das System der öffentlich-rechtlichen Sender zu reformieren. Zu den Ratsvorsitzenden gehört neben Peter M. Huber Julia Jäkel, die sich ihre Zukunftsqualifikation wohl dadurch erwarb, dass sie Gruner + Jahr zu Tode verwaltete - der Konzern ist inzwischen von Bertelsmann mehr oder weniger abgeschafft worden. Michael Hanfeld unterhält sich in der FAZ mit den beiden. Das Hauptproblem ist die ARD, sagt Jäkel: "Sie wird aufwendig koordiniert, sie ist schwerfällig. Sie ist reformwillig, aber nicht wirklich reformfähig. Sie hat keine klare Leitung. Der ARD- Vorsitzende hat keinen Durchgriff. Die ARD braucht Leitung. Und Aufgabenteilung."

Die SZ veröffentlichte in der letzten Woche Unter dem Rubrum "In eigener Sache" eine sich auf zwei Texte beziehende Rüge des Deutschen Presserats. Beide enthielten Falschaussagen zur Migrationspolitik. Wolfram Schütte stellt den Fall im Perlentaucher dar: "Anscheinend wollten die Redakteure der SZ, die diese Meldungen verfasst haben, Migranten vor vermeintlich übler Nachrede in Schutz nehmen - eine wohlmeinende Besorgnis, die von vielen im linksliberalen Lager geteilt worden ist. Sie hatte jedoch als Kehrseite die klammheimliche Leugnung der Realität."
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Geschichte

Noch vor der Gründung Israels kolonisierten zionistische Juden das Land, indem sie es Arabern abkauften, erzählt Dan Diner in der FAZ. Aber schon früh habe "der Schatten der jüdischen Landnahme und der Vertreibung der Palästinenser auf Israel" gelegen. Natürlich kam es zu Gewalt und zu heute absurd anmutenden Konstellationen: "Während des israelischen Gründungskrieges 1948 vertrieben linksgerichtete israelische (Para-)Militärs Einwohner arabischer Dörfer und Ortschaften. An den Kühlern der sie zur Tat befördernden Fahrzeugen prangten die Konterfeis Stalins und Titos. Dieses Ereignisbild führt in die Endphase des Zweiten Weltkrieges zurück, als unter kommunistischem Vorzeichen in Ostmittel- und Südosteuropa Vertreibungen und ethnische Säuberungen exekutiert wurden, um in rotes Tuch gehüllte homogene Nationalstaaten zu etablieren. Mit solchen Analogien und Affinitäten armiert ließ sich Derartiges im Übergang vom britischen Mandat zum Staate Israel offenbar leichter begründen."

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Auch bei den gegenwärtigen Protesten gegen Rechts liegt der Vergleich zur Weimarer Republik nahe, aber es gibt einen entscheidenden Unterschied, notiert der Historiker Karl-Heinz Göttert, aktuelles Buch "Massen in Bewegung", in der Welt. Damals waren es Kampfbünde, die auf die Straße gingen, heute ist es die Zivilgesellschaft: "Schon die beiden Revolutionen in der ehemaligen DDR, am 17. Juni 1953 und am 9. November 1989, verdankten sich keinen Bünden, sondern spontanen Aktionen der Bürger. Der erste Protest wurde militärisch erstickt, der zweite war mit knapper Not erfolgreich. Auch die Geschichte der Bundesrepublik kennt Protestaktionen von großer Härte, von Polizeiversagen und unverantwortlicher Gewalt der Protestierenden. Man muss nur an die Zeiten des SDS erinnern, dessen Aktionen auf beiden Seiten eskalierten. Auch die Regierenden verloren gelegentlich die Contenance, wenn Helmut Schmidt etwa über die Demonstranten gegen den Nato-Doppelbeschluss herzog ... Proteste gegen Flugzeuglandebahnen oder AKW-Werke, gegen Braunkohleabbau oder die Preisgabe der Klimaziele, gegen den Krieg in der Ukraine oder gegen das Vorgehen Israels in Palästina verliefen alles andere als harmonisch."
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Gesellschaft

"Polarisierung" oder "Triggerpunkte" - die Frage ist damit für die taz-Kolumnistin Isolde Charim noch nicht beantwortet: "Dissens kippt immer schneller in Feindschaft. Das Ventil für Kritik gerät immer öfter zum Dammbruch. Das, was man als Polarisierung der Gesellschaft bezeichnet, liegt also nicht so sehr an den gerade akuten Inhalten - sondern vielmehr an der Form, Meinungsdifferenzen auszutragen: unversöhnliche Konfrontationen statt Aushandeln von Positionen. Aber woher kommt diese Unversöhnlichkeit? Wir konfrontieren uns nicht mehr als öffentliche Bürger, sondern als private Einzelne. Das heißt: Jeder Konflikt wird zur Identitätsfrage aufgeladen. Die Meinungen werden zu Stellvertretern der Person. Das Ich wird zum Einsatz jeder Auseinandersetzung. Aber das Ich ist unverhandelbar. Daher rührt die Unerbittlichkeit."

Bildung ist in Deutschland eine föderale Angelegenheit. Einige Bundesländer wollen das Gendern verbieten, andere ermuntern dazu, und Heike Schmoll fast sich in der FAZ an den Kopf: "Wie sollen also die Schüler Rechtschreibregeln noch ernst nehmen? Die Kultusministerkonferenz selbst veröffentlicht sämtliche Empfehlungen der sogenannten Wissenschaftlichen Kommission in gegenderter Form. Die wissenschaftlichen Autoren verweisen auf ihre Wissenschaftsfreiheit. Professoren können gendern. Ob es auch zulässig ist, Arbeitsverträge von Mitarbeitern nicht zu verlängern, weil diese sich weigern zu gendern, steht auf einem ganz anderen Blatt."
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Ideen

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Der Philosoph Christoph Menke hatte im Jahr 2022 in seiner "Theorie der Befreiung" versucht darzulegen, weshalb Befreiungsversuche meist neue Formen von Knecht- und Herrschaft hervorbringen. Im FR-Gespräch erläutert er seine These unter anderem anhand des Nahost-Konflikts und verurteilt scharf die "identitätspolitische Aufladung" des Konflikts durch Judith Butler und Co: "In der Diskussion geht vieles auf verstörende Art und Weise durcheinander. Es treten offen islamistische Positionen zutage, die die Befreiung als imaginäre Wiederkehr eines Zustands religiöser Dominanz verstehen. Mit so etwas hat Judith Butler theoretisch überhaupt nichts zu tun - im Gegenteil. Aber gerade deshalb sollte man versuchen, hier Klarheit zu schaffen. So geht zum Beispiel der Versuch, solche Pervertierung von Befreiung in identitäre Regression aus dem Kontext von siebzig Jahren israelischer Gewaltgeschichte zu erklären, völlig in die Irre. Das hat sehr überzeugend Eva Illouz kritisiert. Es gibt demnach überhaupt keinen Kontext, aus dem heraus der Terror der Hamas begriffen werden kann. Kontext bedeutet ja: Sieh es im richtigen Rahmen und du wirst die Motive verstehen. Umgekehrt war insbesondere der deutsche Umgang mit der Position Butlers ebenfalls verstörend. Ich finde es unerträglich, wie leichtfertig von deutscher Seite Antisemitismusvorwürfe gegen linke Juden erhoben werden."
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Europa

Buch in der Debatte

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Zwei Jahre berichtete der ukrainische Journalist Stanislaw Assejew aus den besetzten Gebieten in der Ostukraine, bis er verschleppt, inhaftiert und im Gefängnis Isoljazija gefoltert wurde. Von seinen Erfahrungen erzählt er in seinem aktuellen Buch "Heller Weg, Donezk" und im NZZ-Gespräch: "'Wenn die Zellentür aufging, musste man sich sofort eine Tüte über den Kopf ziehen, mit dem Rücken zur Tür stehen und die Hände auf den Rücken halten', berichtet Stanislaw Assejew. Wer nicht innerhalb von Sekunden strammstand, wurde unter die Pritsche geprügelt und musste dort bellen wie ein Hund. Die Aufseher lachten dann, genauso wie bei der Folter mit Elektroschocks. 'Die Prozeduren', wie die Folterer ihre Methoden nennen, gehören zum Alltag im Isoljazija-Gefängnis. 'Wenn sie foltern und dabei lachen, baut das noch größeren Druck auf. Denn das heißt, dass diese Leute durch nichts aufzuhalten sind', stellt Assejew nüchtern klar und macht eine Handbewegung, als wolle er diese ganzen Schandtaten einfach wegwischen, endgültig aus der Welt räumen."

Die Proteste vom Wochenende galten nicht allein der AfD, insistiert Luisa Neubauer im Gespräch mit Daniel Bax von der taz: "Die Proteste richten sich an ganz vielen Orten nicht nur gegen die AfD, sondern gegen den Rechtsruck insgesamt. Viele sind überzeugt, dass man den Rechtsruck nicht mit einem Rechtsruck bekämpfen kann. Ich auch. Diese politische Herangehensweise schien eine Weile lang ja vorherrschend zu sein. Da sind alle politischen Parteien gefragt, sich kritisch zu hinterfragen." Gareeth Joswig berichtet in einem zweiten Titel über die Frage, was man an der AfD alles verbieten kann, die Partei selbst, die Jugendorganisation, die Parteieinfinanzierung.

Es gibt allen Grund, die AfD lautstark zu skandalisieren, und doch scheinen Thomas Schmid in der Welt (und in seinem Blog) die aktuellen Proteste "schal, bequem und wohlfeil". Die Rhetorik wende sich nicht nach außen, sondern nur nach innen, schreibt er: "Wie gedankenfaul der Konsens gegen 'rechts' in Wahrheit ist, wird daran deutlich, dass in diesen Kreisen beharrlich 'rechts' mit Faschismus in eins gesetzt wird. Am Ende der szenischen Lesung im Berliner Ensemble skandierte das Publikum minutenlang: 'Alle zusammen gegen den Faschismus!' Offensichtlich war der von sich selbst begeisterten Menge gar nicht klar, dass der Faschismus eine italienische Angelegenheit war, in Deutschland dagegen die Nationalsozialisten herrschten. Und dass die - später von der west- und gesamtdeutschen Antifa-Linken übernommene - Fokussierung auf den Faschismus ein Trick der DDR-Nomenklatura gewesen ist, um vom Spezifikum des Nationalsozialismus abzulenken: vom eliminatorischen Antisemitismus, dem sechs Millionen Juden zum Opfer fielen. In Anlehnung an einen berühmten Satz Max Horkheimers könnte man sagen: Wer aber nicht vom Antisemitismus reden will, sollte vom Rechtsradikalismus schweigen. Die große Anti-AfD-Front, die gegenwärtig Straßen und Plätze füllt, zeichnet daher ein Manko, eine Unterlassung aus. Wo waren diese Massen, nachdem am 7. Oktober 2023 das größte Massaker an Juden nach dem Holocaust stattgefunden hat?"

In der SZ begrüßt Gustav Seibt vor allem die Entspanntheit der Proteste: "Die Massenaufläufe hatten wenig gemein mit den Pegida- und Corona-Demonstrationen, in denen es 'denen da oben' mit Feinderklärungen 'gezeigt' werden sollte, in denen ein angeblich zum Schweigen gebrachtes 'wahres Volk' gegen 'Eliten' aufmarschierte. (…) Von fern erinnerten die Demonstrationen der letzten Tage an die Lichterketten, mit denen im Winter 1992 die deutsche, damals vor allem westdeutsche Gesellschaft auf die vorangegangene Welle von Gewalt gegen Ausländer und Flüchtlinge reagierte."

Auf der Liste der Herkunftsländer für Asylanträge in Deutschland steht die Türkei mit 63.000 auf Platz 2, erzählt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. In den letzten drei Jahren haben über eine Million Türken, meist Junge, das Land verlassen. Zu den Gründen gehören Korruption und Wohnungsnot, während Erdogan Bauunternehmer schmiert und immer nur verspricht, Maßnahmen gegen drohende Erdbeben zu ergreifen: "Vor den letzten Kommunalwahlen hatte Erdoğan etliche Hunderttausend illegal errichtete und marode Bauten gegen Geld legalisieren lassen. Und wer leitet die Organisation, die jetzt in Istanbul Vorkehrungen gegen ein Beben treffen soll? Die Person, die seinerzeit eine Siedlung genehmigt hatte, unter deren Trümmern im Februar 2023 beim Erdbeben im Südosten des Landes 1.400 Menschen ihr Leben lassen mussten. Das Beben im letzten Jahr kostete über 50.000 Menschenleben. Gegen keinen einzigen Verantwortlichen in der öffentlichen Verwaltung wurde Anklage erhoben."

Archiv: Europa