Efeu - Die Kulturrundschau

Sofa-Savanne und Weg-Champagner

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22.01.2024. Die Nachtkritik sieht bei Claudia Bauers Adaption von Luis Buñuels "Der Würgeengel" in Frankfurt die Moralfassade der Gesellschaft bröckeln. Die Jungle World ist begeistert, wie Wes Anderson mit seinen neuen Kurzfilmen den Erzähler Roald Dahl vor sich selbst rettet. Die FAZ berichtet von Marienikonen in russischen Schützengräben. Und die FAS stapft mit der Musik von Maximilian Hecker durch verschneite Großstadtnächte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.01.2024 finden Sie hier

Literatur

Schier zum Verzweifeln ist Mara Delius von der Welt zumute, wenn sie Annie Ernaux' Unterschrift auf der "Strike Germany"-Petition sieht, die zum Boykott staatlicher Kultureinrichtungen in Deutschland aufruft, um eine Abschaffung der BDS-Resolution zu erwirken. Da Ernaux BDS seit längerem zugeneigt ist, sei die Unterschrift zwar "nicht unbedingt verwunderlich. Verwunderlich ist aber, dass eine Literaturnobelpreisträgerin sich nicht anders äußert als in der maximal bequemen Form einer Unterschrift - warum stellt sie sich keiner öffentlichen Auseinandersetzung? ... Was folgt daraus, wenn sich Autorinnen, ob namhaft wie Ernaux oder eher unbekannt wie Bastašić (unser Resümee) aus dem deutschen Diskurs zurückziehen? Es ist der Ausdruck eines sehr seltsamen Verständnisses von demokratischer Öffentlichkeit. Mehr noch: Wer glaubt, durch Rückzug aus dem Diskurs Politik machen zu können, hat seine Rolle als Intellektuelle nicht richtig verstanden."

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Außerdem: Für Intellectures spricht Thomas Hummitzsch mit dem Wiener Comiczeichner Nicolas Mahler, der seinen Zyklus von Comic-Bearbeitungen literarischer Hochkultur nun mit zwei Veröffentlichungen zu Kafka fortgesetzt hat. Hugo Bettauers 1922 verfasster, zwei Jahre später auch verfilmter Roman "Stadt ohne Juden" schildert im Stil einer warnenden Kolportage ziemlich gut, was beim rechten Geheimtreffen in Potsdam an Vertreibungsfantasien diskutiert wurde, findet Bernd Noack in der NZZ. Ronald Pohl erinnert im Standard an Hugo von Hofmannsthal, der vor 150 Jahren geboren wurde.

Besprochen werden unter anderem Eliot Weinbergers Essay "Engel & Heilige" (Tsp), Ondřej Cikáns "Blühende Dämonen" (Standard), das Christine-Lavant-Lesebuch "Ich bin maßlos in allem" (Standard), Hans Pleschinskis Roman "Der Flakon" (Standard), Lena Hachs "Was Wanda will" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Philip Waechters "Weltreise mit Freunden" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jan Philipp Reemtsma über Theodor Kramers "Der alte Gelehrte":

"Für meine Schüler halt ich offen Haus;
sie kommen immer noch zu mir heraus ..."
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus "Der Würgeengel" nach Luis Buñuel am Schauspiel Frankfurt. Foto: Arno Declair. 

Nachtkritiker Leopold Lippert sieht schon bald die Anzeichen dafür, was bei Claudia Bauers Inszenierung von "Der Würgeengel" am Schauspiel Frankfurt passieren wird: "Hier wird die Moralfassade der feinen Gesellschaft gleich bröckeln". Luis Buñuel hatte 1962 im gleichnamigen Film eine mondäne Abendgesellschaft zum Ausharren in einem Salon verdammt. Die Tür ist nicht verschlossen, dennoch kann keiner der Partygäste über die Schwelle treten - schnell fallen die Masken des Anstands, so Lippert. PeterLicht und SE Struck haben den Film in ihrer Bearbeitung mit Anspielungen auf Klimakrise und Krieg in die Gegenwart gerückt. Bis dahin ist alles recht vorhersehbar, meint Lippert, aber "was den Abend aber dann doch sehr besonders macht, ist der Detailreichtum und die Präzision, mit der Text und Sound dieses Nichtstun über die Zeit hinwegdehnen. Dabei hilft es, dass die Schauspieler ... Teil eines kollektiven Klangkörpers sind, der von chorischem Sprechen über sich verhärtende Wiederholungsschleifen zu zerstückeltem Smalltalk und japsenden Eskalationsspiralen tönt. Wenn der Text, der voll mit aparten Wortgebilden wie "hineindiffundierend" "Sofasavanne", oder "Weg-Champagner" ist, an einer Stelle sehr wiederholend behauptet, 'Ja genau, es stagniert so vor sich hin!', dann hat das deswegen etwas Trotziges ..."

In der FR ist Judith von Sternburg nicht völlig überzeugt, spannend ist aber zum Beispiel die Darstellung der Hausangestellten Maria als "Rächerin der Unterschicht": "Anbieten kann sie ansonsten nur noch E-Zigaretten, auch empfiehlt sie die bodenschonenden Filznoppen unter den Möbeln, die sie allerdings, wie sich zeigt, schon selbst gegessen hat. Mit Notsituationen kommt sie aus eigener Erfahrung besser zurecht als die reichen Leute. Interessant, dass das Buñuel zu vordergründig gewesen zu sein scheint. Schillernder hingegen der Einfall, dass Maria zugleich der bei Buñuel rein surrealistische kleine Bär sein könnte, der durch die Villa streunt. Sein grausiges Brummen kommt in den sparsam eingesetzten Videos aus Preuß' Mund."

Weiteres: FAZ und SZ gratulieren der Theater- und Filmschauspielerin Angela Winkler zum Geburtstag. Die 23 Gemeinden des Salzkammerguts sind dieses Jahr Europäische Kulturhauptstadt: In der SZ berichtet Reinhard J. Brembeck von einer fulminanten Eröffnung in Bad Ischl.

Besprochen werden Claudia Bossards Inszenierung von "Der Zauberberg" am Münchner Volkstheater (nachtkritik), Lucia Bihlers Adaption von Kafkas "Verwandlung" am Burgtheater Wien (nachtkritik, SZ), Ingo Putz' Adaption von Lukas Rietzschels Roman "Das beispielhafte Leben des Samuel W." am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz-Zittau (nachtkritik, FAZ), Julia Wisserts Inszenierung von Necati Öziris Stück "Der Ring des Nibelungen. Eine Machtverschiebung" am Theater Dortmund (nachtkritik), Wu Tsangs Inszenierung von Shakespeares "Der Sturm" (in Zusammenarbeit mit Moved by the motion) am Schauspielhaus Zürich (nachtkritik, NZZ), Vera Nemirovas Inszenierung der Mozart-Oper "Don Giovanni" am Staatstheater Nürnberg (nmz) und Sapir Hellers Inszenierung von "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" nach Heinrich Böll in den Kammerspielen Frankfurt (FR), Jana Klatas Adaption von Platons "Der Staat" am Theater Krakau (SZ) und Adena Jacobs Inszenierung von "Nosferatu" am Burgtheater in Wien (SZ).
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Film

Alles ist ausgeschnitten: "Johnny & Me" von Katrin Rothe (Real Fiction)

Wolfgang Hamdorf spricht für den Filmdienst mit der Animationsfilmerin Katrin Rothe über den Collagenkünstler John Heartfield, dem sie sich in ihrem zwischen Doku und Fiction sowie zwischen Real- und Trickfilm changierendem "Johnny & Me" nähert. Gegenstand und Form passen da ganz wunderbar zusammen, immerhin ist Heartfield "ein Collagenkünstler, den man wunderbar mit Collagenanimationsfilm zum Leben erwecken kann. ... Mein Film ist handgemacht, alles ist ausgeschnitten. Ich bewege die Teile Bild für Bild einzeln via Stop-Motion unter der Kamera. Die Bilder werden dann in den Computer übertragen. Man sieht das Ergebnis sofort, man kann es kontrollieren. Der gestalterische Prozess ist intuitiver, das spürt man im Film; die Animationen sind von ganz großartigen Animatoren gemacht, die diese Pappe unwahrscheinlich lebendig werden lassen und John Heartfield dadurch ganz nahebringen. Der Film ist auch eine Einladung zu eineinhalb Stunden 'digital detox'; man sieht alte Scheren und alte Schachteln."

Hin und weg ist Marcus Hammerschmitt in der Jungle World von den vier auf Geschichten von Roald Dahl basierenden Kurzfilmen, die Wes Anderson für Netflix gedreht hat: Nicht nur, wie Anderson die Puppenstubenhaftigkeit seiner Ästhetik immer weiter dekonstruiert, imponiert ihm, sondern auch, wie der Filmemacher Dahl vor Dahl rettet: Zu sehen gibt es in den Filmen "Kritik an Klassendünkel, Rassismus und Grausamkeit", aber "wurde Roald Dahl in den vergangenen Jahren nicht vorgeworfen, er habe in seinen Geschichten und in Interviews selbst Rassismus, Antisemitismus und Sexismus verbreitet? In der Tat, und die Vorwürfe lassen sich gut begründen. Den Hass auf Israel und die Juden, den Dahl vor allem in späteren Jahren geäußert hat, kann man fast als Blaupause für die derzeit wieder einmal aufblühende antisemitische Hetze sehen. Wes Anderson ist mit seinen neuen Dahl-Verfilmungen eine schwierige Mission geglückt: Er hat den wunderbaren Erzähler vor dem hasserfüllten Schwätzer Dahl in Schutz genommen und das an Dahl gerettet, was gerettet werden konnte und sollte."

Nachdem die Grimmepreis-Jury mitgeteilt hat, dass sie zu wenig gutes Material vorliegen hatte, um ihre vollen 15 Nominierungsplätze auszuschöpfen, gibt es in der deutschen Filmbranche wieder schlechte Stimmung. Auf Welt+ kann Marie-Luise Goldmann das gar nicht verstehen: Ob in den Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen oder im Streamingangebot der kommerziellen Anbieter - selten habe es geballt so viele überzeugende deutsche Produktionen gegeben wie in den letzten Monaten. Auch künstlerisch stimme die Lage: "Wann hatten wir zuletzt eine Schauspielerin mit solch internationaler Strahlkraft wie Sandra Hüller? Wann war Deutschland bei einer Oscar-Verleihung je so präsent wie in den vergangenen zwei Jahren? So viele Probleme Deutschland aktuell auch hat - reden wir uns nicht schlechter als wir sind."

Außerdem: Matthias Lerf erzählt im Tages-Anzeiger von seiner Begegnung mit dem Schauspieler Paul Giamatti. Mariam Schaghaghi spricht für die Presse mit Willem Dafoe über dessen neuen Film "Poor Things" (unsere Kritik). Die Filmkritikerin (unter anderem für den Perlentaucher) Olga Baruk kommt als junge Mutter zwar kaum mehr zum Filmeschauen, erzählt sie auf Zeit Online, aber dafür entschädigen sie die Geräusche aus der Nachbarwohnung. Besprochen werden Roman Polanskis "The Palace" (FAZ, unsere Kritik) und Kaouther Ben Hanias Dokumentarfilm "Olfas Töchter" (FAZ).
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Musik

Mit Maximilian Heckers neuem Album "Neverheart" im Ohr macht sich FAS-Kritiker Lukas Heinser gerne auf zum schneeverwehten Nachtspaziergang durch "anonyme Großstädte", um zu "zu beobachten, wie Natur und Zivilisation miteinander käbbeln. Perlende Klaviernoten, wabernde Klangflächen, zart gezupfte E-Gitarren-Saiten, Schlagwerk, für das eigentlich ein weniger martialischer Name gefunden werden müsste, weil die Trommeln und Becken die meiste Zeit eher getätschelt werden. ... So will Hecker sein Schaffen auch unbedingt als unpolitisch verstanden wissen: 'Mein Blick geht fast immer nach innen, eine beinah autistisch anmutende Widerspiegelung meiner selbst in Musik und Roman, da gibt's keinen Raum für Politisches.' Das wirkt als Pop-Biedermeier schon fast wieder radikal."



Weitere Artikel: Karl Fluch erklärt im Standard, warum Donald Trump Taylor Swift hasst und weshalb die Republikaner wenig mehr fürchten als ein Engagement des Popstars im kommenden Wahlkampf. Im Welt-Kommentar ist Michael Pilz skeptisch, was die Pläne der EU betrifft, Spotify und Co zu regulieren. Gregor Kessler schreibt in der taz einen Nachruf auf Frank Z von Abwärts (weitere Nachrufe hier). Besprochen werden ein von Daniel Barenboim dirigierter Schönberg- und Beethoven-Abend mit dem Orchester der Barenboim-Said-Akademie (Tsp), ein Konzert des Pianisten Jan Lisiecki in Berlin (Tsp), ein von Stefan Asbury dirigiertes Konzert des Ensemble Modern in Frankfurt (FR) und eine Ausstellung in Oberhausen mit den legendären Plattencovern aus den Siebzigern der Designschmiede Hipgnosis (SZ, WDR).
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Kunst

In der FAZ beleuchtet Konstantin Akinscha die Vereinnahmung sakraler Kunst durch die russisch-orthodoxe Kirche. Unlängst ließ Putin die berühmte Ikone der "Alttestamentlichen Dreifaltigkeit" von Andrej Rubljow aus der Tretjakow-Galerie entfernen und übergab sie an die Kirche: "Das macht klar, dass sowohl der Patriarch als auch der Präsident Wunder erwarten. Die 'militärische Spezialoperation' ist Putins Kreuzzug geworden, der dabei göttlichen Beistands bedarf." Seitdem sind sakrale Symbole auch an der russischen Front in der Ukraine allgegenwärtig, so Akinscha: "Bemühungen, die religiösen Bedürfnisse der angeblich nach Christus dürstenden Truppen zu erfüllen, beförderten Innovationen wie eine aufblasbare Gummizeltkirche, die für Fallschirmjägertrupps entwickelt und auf der Rüstungsausstellung 'Army 2023' vorigen August präsentiert wurde. Die aufblasbare Kirche kann zusammen mit Priestern an jedem gewünschten Ort abgeworfen werden. Zudem nutzt man moderne Technologien wie den 3-D-Druck zur Massenproduktion von Reliefikonen aus Kunststoff, die in großer Zahl an die Front geschickt werden. Ukrainische Soldaten melden, in von den Russen zurückeroberten Schützengräben fänden sie neben Exkrementen und Müll Unmengen solcher Plastikikonen und Kreuzen vor."

In der Welt fragen sich Swantje Karich und Jan Küveler, was man von der Bespielung des deutschen Pavillons durch die israelische Künstlerin Yael Bartana und dem deutsche Theaterregisseur Ersan Mondtag (unser Resümee) zu erwarten hat. Das Ergebnis, wird sicherlich provozieren, meinen sie, aber es liegt viel Potential in dieser Zusammenarbeit: "In Erinnerung an die Ausstellung im Jüdischen Museum scheint der Deutsche Pavillon für Yael Bartana der perfekte Ort, um sich abzuarbeiten - an der Nazi-Geschichte, dem 'Germania'-Schriftzug am Architrav. Und sie wird es anders machen als alle vor ihr. Viele Künstler haben es schon mit Ablehnung versucht, ihn umgeschrieben oder ganz getilgt, den Boden herausgerissen oder nur das Dach bespielt. Yael Bartana aber wird vielleicht die erste Künstlerin sein, die keine Angst hat vor der Schuld, Propaganda, nicht vor historischen Traumata, politischen Symbolen. Und auch Mondtag scheut keine Auseinandersetzung, ist sich seiner Verantwortung aber bewusst."

Weiteres: Ebenfalls in der Welt zeichnet Tilman Krause die Geschichte der "Venus von Milo" nach.

Besprochen wird die Ausstellung "Lay down with me" von Madeleine Roger-Lacan in der Berliner Galerie "Eigen+Art" (BlZ).
Archiv: Kunst