Bücherbrief

Taumel im Tiefwasser

12.12.2022. Zum Ende nimmt das Bücherjahr nochmal ordentlich Fahrt auf: Mohamed Mbougar Sarr schreibt eine funkelnd poetische Satire über Identität und den französischen Literaturbetrieb, Alexei Salnikow taumelt fiebernd durch das postsowjetische Jekaterinburg, Mariette Navarro verliert die Kontrolle auf hoher See, und Chelsea Manning erzählt in ihrer Autobiografie von einer doppelten Befreiung. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Dezember.
Willkommen zu den besten Büchern des Monats! Sie wissen ja: Wenn Sie Ihre Bücher in unserem Buchladen eichendorff21 bestellen, ist das nicht nur bequem für Sie, sondern auch hilfreich für den Perlentaucher, denn eichendorff21 ist unser Buchladen.

Den Bücherbrief in seiner vollen Pracht können Sie auch per E-Mail betrachten. Dazu müssen Sie sich hier anmelden. Weiterempfehlen können Sie ihn natürlich auch.

Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Gunilla Palmstierna-Weiss
Eine europäische Frau
Erinnerungen
Verbrecher Verlag. 600 Seiten. 39,00 Euro

(bestellen)

Erst vor wenigen Wochen ist Gunilla Palmstierna-Weiss im Alter von 94 Jahren gestorben. Eine glückliche Fügung, dass sie die hymnischen Besprechungen, die ihre kürzlich erschienene Autobiografie erhielt, noch mitbekam. Eines betonen alle KritikerInnen: Gunilla Palmstierna-Weiss war weit mehr als die Frau von Peter Weiss. In der Schweiz als Tochter einer jüdischen Mutter in eine adlige Familie hineingeboren, verbrachte sie ihre Kindheit in vielen europäischen Ländern, sprach fließend vier Sprachen und arbeitete als Bühnenbildnerin und Theaterdramaturgin. taz-Kritikerin Michaela Maria Müller liest das Buch denn auch als "Sozial-, Kultur-, Theatergeschichte und Bildungsroman" in einem. Denn in Palmstierna-Weiss' Biografie spiegelt sich das europäische 20. Jahrhundert mit allen Katastrophen wider, erzählt sie: Antisemitismus, Krieg, Flucht, Neuanfang im Großen - Bühnenkarriere, (gescheiterte) Experimente mit offenen Beziehungen im Kleinen. Beeindruckt liest Müller auch von den Begegnungen, anhand derer die Autorin ihr Leben erzählt: etwa Peter Brook, Ingmar Bergman, Anna Seghers, Agnès Varda. Dem SZ-Kritiker Helmut Böttiger erscheint ihr Leben wie ein "Bühnenstück" - und doch ist alles wahr, versichert er.

Mohamed Mbougar Sarr
Die geheimste Erinnerung der Menschen
Roman
Carl Hanser Verlag. 448 Seiten. 27,00 Euro

(bestellen)

Mohamed Mbougar Sarrs mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman hat uns Angela Schader bereits zwei Wochen vor dem Erscheinungstermin in ihrer Perlentaucher-Kolumne "Vorworte" ans Herz gelegt. Nun liegt das Buch endlich in der Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller auf Deutsch vor und die KritikerInnen sind hingerissen: In der FR ist Cornelia Geißler überwältigt von diesem "funkelnden Werk". Der französisch-senegalesische Schriftsteller erzählt von Diégane Latyr Faye, einem senagelesischen Autor in Paris, der den Spuren von T.C. Elimane, einem anderen - malischen - Schriftsteller folgt, der im Jahr 1938 mit "Das Labyrinth der Unmenschlichkeit" zunächst große Erfolge feierte. Bald wurde er des Plagiats bezichtigt, viel wurde über die Identität des "schwarzen Rimbaud" diskutiert und der Autor schließlich vergessen. Wie Sarr aufbauend auf dieser Geschichte sein Werk entfaltet, in Tagebuchnotizen, Briefen und Monologen, poetisch und szenisch zugleich, das haut Geißler um. FAS-Kritikerin Annabelle Hirsch bewundert vor allem die Selbstironie, mit der Sarr Fragen nach Identität und Kolonisierung stellt. Dlf-Kultur-Rezensent Dirk Fuhrig lobt das Buch als "glänzende Satire auf den französischen und frankophonen Literaturbetrieb".

Joshua Groß
Prana Extrem
Roman
Matthes und Seitz Berlin. 301 Seiten. 24,00 Euro

(bestellen)

Es hat ein wenig gedauert, bis die Kritiker den neuen Roman von Joshua Groß zur Kenntnis nahmen. Dann aber hat er sie offenbar mit voller Wucht gepackt: Ein geradezu rauschhaftes, Grenzen sprengendes Leseerlebnis stellt uns etwa taz-Kritiker Valentin Wölflmaier in Aussicht. Und zwar nicht nur, weil Groß von Entspannungsexperimenten mit Elektroden am nackten Körper im Garten und Süßkram-Exzessen in einem Skisprunggebiet in Tirol erzählt. Nein, auch die Sprache schlägt Purzelbäume zwischen Fantasie-Slang, Rap-Codes, Poststrukturalismus und altertümlichen Ausdrücken, verrät Wölflmaier. Einen "neuen Ton in der deutschen Gegenwartsliteratur", vernimmt er. Auch Dlf-Kultur-Kritiker Maximilian Mengeringhaus wird von dem "trashigen Sog" der Geschichte mitgerissen. Für FAZ-Rezensent Tobias Lehmkuhl ist der Roman eine "schöne" Dystopie, in der zwar die Umwelt dem Untergang geweiht ist, dabei aber immer noch betört.

Mariette Navarro
Über die See
Antje Kunstmann Verlag. 160 Seiten. 20,00 Euro

(bestellen)

Einen so schmalen wie besonderen Debütroman legt die französische Dramaturgin Mariette Navarro vor. Sie erzählt uns von einer Kapitänin, die sich mit einem Frachter und zwanzig Mann (!) Besatzung auf den Weg nach Guadeloupe macht. Als sie der Crew einen Badeausflug genehmigt, ist Schluss mit der Harmonie zwischen der freundlichen Chefin und ihren folgsamen Jungs. Das wird vor allem durch die Fantasien der Protagonisten klar, von denen die auktoriale Erzählstimme berichtet. Wenig mehr lässt sich über den Roman erstmal nicht verraten, schreibt eine hingerissene Marie Schmidt in der SZ. Und wenn es in diesem "charismatischen" Roman an Bord plötzlich noch einen Mann mehr gibt, steht die Kritikerin vor einem "surrealistischen Rätsel". Im Dlf-Kultur ist auch Rezensentin Sigrid Brinkmann gefesselt, wenn ihr Navarro von mentalem Kontrollverlust auf hoher See erzählt. Die Geschichte beginnt technisch, bald aber berichtet die Autorin vom existenziellen Taumel im Tiefwasser mit Poesie, mit Verweisen auf Mythen und Legenden, zugleich aber präzise genug, um Brinkmann anzuregen und aufzuwühlen.

Alexei Salnikow
Petrow hat Fieber
Gripperoman
Suhrkamp Verlag. 364 Seiten. 24 Euro

(bestellen)

Dieser Roman verlangt uns einiges ab, warnt FR-Kritikerin Katharina Granzin vor, die das Buch dennoch verschlungen hat. Der in Tartu geborene Schriftsteller Alexei Salnikow erzählt von Petrow, einem Automechaniker und Comiczeichner, der sich im postsowjetischen, von einer Epidemie heimgesuchten Jekaterinburg mit Kumpel Igor in einem Leichenwagen ordentlich mit Wodka betrinkt. Selbst an Grippe erkrankt, kehrt er zu seiner Exfrau zurück, die ihn aus den besten Gründen verlassen hat: Sie tendiert dazu, ihre Männer zu ermorden, erfahren wir. Dem gemeinsamen Sohn zu Liebe müssen die drei aber zum jährlich zu Neujahr in Russland stattfindenden Jolka-Fest. Wenn Salnikow schließlich noch Erinnerungen an eine Kindheit in der Sowjetunion einflicht, hat Granzin durchaus Mühen, die verschiedenen Handlungs- und Zeitebenen zu überblicken. Aber Salnikows "surrealer Humor" und der Witz, mit dem er postsowjetische Absurditäten aufs Korn nimmt, nehmen sie gefangen. Auf Dlf-Kultur-Kritiker Jörg Plath wirkt der Text wie ein Fiebertraum. Aber interessant ist er auch als Parabel auf das chaotische Gesellschaftsleben Russlands, verspricht er.


Sachbuch

Patrick Radden Keefe
Imperium der Schmerzen
Wie eine Familiendynastie die weltweite Opioidkrise auslöste
Carl Hanser Verlag. 640 Seiten. 36 Seiten

(bestellen)

Ein besonderes Kapitel der amerikanischen Skandal-Geschichte erzählt uns Patrick Radden Keefe, Reporter des New Yorker. Mit dem Schmerzmittel OxyContin, das stärker als Heroin ist, stürzte die Industriellenfamilie Sackler die USA in die Opioidkrise, Millionen Menschen weltweit wurden süchtig, zehntausende starben. Die Sacklers wurden als Kunst-Mäzene gefeiert - bis die amerikanische Künstlerin Nan Goldin, die selbst abhängig von OxyContin war, eine Kampagne gegen das Sackler-Imperium startete, in deren Folge sich die Museen von der Familie distanzierten. Diese Geschichte erzählt Keefe mit der dramatischen Tragweite und moralischen Kraft eines viktorianischen Romans, schreibt Andrew Anthony im Guardian. Vor allem aber sei das Buch eine packende Geschichte des Kapitalismus in seiner rücksichtslosesten Form, die der Autor mit meisterhaft Kenntnis erzählt. FAZ-Kritiker Claudius Seidl ist geradezu betäubt von der Überfülle der Fakten, mitunter wird es dem Rezensenten auch zu romanhaft, wenn sich Keefe in die Herzen und Köpfe seiner Protagonisten hineinversetzt. Im Dlf-Kultur liest Susanne Billig das Buch als Geschichte eines moralischen Niedergangs, obwohl ihr Keefe auch deutlich macht, dass Sacklers Unternehmen Purdue-Pharma dasselbe Prinzip - starke Drogen gegen kleinste Wehwehchen - schon mit Valium in den sechziger Jahren durchexerziert hatte. In der ARD-Mediathek steht ein Gespräch mit dem Autor online.

Ben Wilson
Metropolen
Die Weltgeschichte der Menschen in den Städten
S. Fischer Verlag. 592 Seiten. 34 Euro

(bestellen)

Durch sechstausend Jahre Stadtgeschichte, von Uruk und Babylon, über Athen, Rom und Alexandria bis Lissabon, London und Lagos führt uns der britische Historiker Ben Wilson. "Ordnung ist anti-urban", lernt SZ-Kritikerin Laura Weissmüller auf diesem faszinierenden Streifzug durch die Weltgeschichte der Metropolen, bei dem sie mit Freude verfolgt, wie Wilson die Stadt als Ort der Verdichtung besingt, in dem die "Konzentration der Gehirne" zuverlässig Ideen, Erfindungen und Fortschritt hervorbringt. "Famos" findet sie auch, wie Wilson sich durch die urbanen Kulturen schlägt, von der niederländischen Genre-Malerei bis zum Gangsta-Rap von Compton. Klug und anschaulich erscheint dem Dlf-Kultur-Rezensenten Wolfgang Schneider, wie Wilson die Stadt als Laboratorium der Zukunft begreift, in dem sich Arbeitskraft, Intelligenz und Kultur ballen. Michael Mönniger lobt in der FAZ, dass der britische Journalist auch mit Blick auf die Mega-Cities des globalen Südens die Stadt als Zivilisationsfortschritt betrachtet. Er vermisst im Buch allerdings eine konsistente Theorie.

Chelsea Manning
Readme.txt - Meine Geschichte
Harper Collins. 336 Seiten. 22,00 Euro

(bestellen)

Knapp dreizehn Jahre ist es her, dass Chelsea Manning Dokumente über den Irakkrieg leakte und in Folge zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde. Von Barack Obama im Jahr 2017 begnadigt, wurde die Whistleblowerin 2020 aus der Haft entlassen. Nun liegt ihre Autobiografie auch auf Deutsch vor und SZ-Kritiker Philipp Bovermann liest sie als Dokument einer doppelten Befreiung. Manning erzählt vom Aufwachsen bei ihren alkoholsüchtigen Eltern in Oklahoma, von ihrer Flucht ins Militär, vom Gefangensein im männlichen Körper und der Haft nach ihren Leaks. Es ist aber vor allem das Gefühl der Inkongruenz, das den roten Faden des Buches bildet, klärt uns Bovermann auf: Die innere Distanz, die sie in Bezug auf ihre geschlechtliche Identität spürte, erlebte sie auch mit Blick auf die Bilder des Irakkriegs, die in den Nachrichten gezeigt wurden. Nicht nur die Bilder des Kriegs, die Manning beschreibt, hallen lange bei Bovermann nach. Mit Interesse liest er auch von der "Queerness des Militärs", das, so der Kritiker, zum männlichen Körper ein "ähnliches abstinentes Verhältnis pflegt wie der Katholizismus zum weiblichen". Guardian-Kritiker Stuart Jeffries liest das Buch auch als packenden Bericht einer Transaktivistin.

Ed Yong
Die erstaunlichen Sinne der Tiere
Erkundungen einer unermesslichen Welt
Antje Kunstmann Verlag. 528 Seiten. 34,00 Euro

(bestellen)

Wer weiß schon, wie Feuerkäfer mithilfe ihrer himbeerartigen Wärmeorgane Waldbrände aufspüren, wie Schlangen mit ihrer gespaltenen Zunge Gerüche über weite Entfernungen wahrnehmen oder dass Elefanten Infraschall über ihre Füße spüren? Davon erzählt uns der amerikanische Wissenschaftsautor Ed Yong in seinem neuen Buch und nicht nur FAZ-Kritikerin Pia Heinemann ist fasziniert. Selbst kundige LeserInnen werden Neues erfahren, wenn Yong insgesamt elf verschiedene Sinne erklärt und das alles ohne jemals in Wissenschaftsjargon zu verfallen, versichert sie. Auch laut Dlf-Kultur-Kritiker Volker Wildermuth gelingt Yong etwas Erstaunliches: Die Dringlichkeit bei der Rettung der Artenvielfalt zu vermitteln, etwa. Indem der Autor mit der Infrarotkamera das Jagdverhalten der Fledermäuse beobachtet, fragt, wie Jakobsmuscheln und Kraken empfinden und sehen, oder die Reizerkennung im Auge beschreibt, macht er neugierig und sensibilisiert für fremde Perspektiven, lobt Wildermuth.

Andreas Beyer
Künstler, Leib und Eigensinn
Die vergessene Signatur des Lebens in der Kunst
Klaus Wagenbach Verlag. 320 Seiten. 36,00 Euro

(bestellen)

Dieses Buch scheint kunsthistorisch Interessierte ebenso an die Hand zu nehmen wie junge Influencer. Denn dem Kunsthistoriker Andreas Beyer gelingt das Kunststück, seine fußnotensatte Studie zur alteuropäischen Kunstgeschichte auch einem größeren Publikum schmackhaft zu machen, staunt SZ-Kritiker Peter Richter. Sex war Michelangelos Sache nicht, die von Raffael umso mehr, erfährt er in diesem, wie er findet, "sehr schönen" und gut lesbaren Buch. Er liest hier etwa vom Durchfall des Jacopo Pontormo, von Dürers "exaltiertem Outfit" oder Donatellos "pinkem Kaupzenmäntelchen". Die porträtierten Genies der Renaissance lassen Richter unweigerlich an heutige Influencer denken. Vor allem aber entnimmt der Kritiker dem klugen Buch, wie eng die "Ästhetik der Existenz" schon in der Renaissance mit dem ästhetischen Werk verknüpft war. "Erhellende Querbezüge" entdeckt auch NZZ-Kritiker Philipp Meier, wenn Beyer beispielsweise von Albrecht Dürers Aktbildnis schreibt, dass die "kreative Potenz" sowohl geistig als auch geschlechtlich verankert sei. Nur in der FAZ kann Karlheinz Lüdeking Beyers Ausführungen über Künstler mit Darmbeschwerden oder Albträumen wenig abgewinnen. Handelt es sich nicht einfach um Tratsch, fragt er.