Efeu - Die Kulturrundschau

Sehr boshaftes Missverstehen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.08.2020. Die nachtkritik lässt alle Hoffnung auf Utopie fahren im Theater im Bunker. Die FAZ freut sich über Kammermusik beim Young Euro Classic. Im NDR hat Lisa Eckhart ein Problem mit dem hohen Ross, dass wir sittlich überlegen seien. Die SZ feiert die visionäre Kunst des texanischen Fischers und Malers Forrest Bess. Epd Film und FAZ bewundern den italienischen Schauspieler Pierfrancesco Favino als Mafioso auf Sparflamme.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.08.2020 finden Sie hier

Kunst

Forrest Best, Untitled (#6), 1957. Private Collection. Courtesy Modern Art, London. Foto: Robert Glowacki


So wichtig wie die Entdeckung von Hilma af Klint findet der tief beeindruckte SZ-Kritiker Till Briegleb die Retrospektive zum Werk des texanischen Fischers und Malers Forrest Bess im Fridericianum in Kassel. Ähnlich wie Klint hatte Bess Visionen, die er in seine Kunst einarbeitete: "In Rahmen aus Treibholz malte der 1911 geborene Bess in einer ärmlichen Hütte am Golf von Mexiko seine Prophezeiungen aus dem Traumland zwischen Schlafen und Wachen. Seit der Kindheit hatte Bess 'Visionen' am Ende der Nacht, die er nach traumatischen Erlebnissen in der Armee, wo er wegen seiner Homosexualität brutal verprügelt wurde, Mitte der Vierzigerjahre zunächst als therapeutische Maßnahmen zu malen begann. Es sind Abstraktionen mit wenigen Elementen und Symbolen, starken Farben und Kontrasten, die sich in hunderten Erscheinungen zu einer eigenen Bildsprache entwickeln. Diese stark zeichenhaften Kompositionen entwickeln sich auf der Grenze zwischen gegenständlich und abstrakt, also in einem Gebiet, in dem auch die meisten Alphabete und Buchstaben ihren Ursprung haben."

Der Martin Gropius Bau versucht mit seiner Ausstellung "Down to Earth. Klima, Kunst, Diskurs unplugged" zu zeigen, wie klimaschädlich die Produktion und Präsentation von Kunst sein kann, erklärt im Interview mit der SZ Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele. Nun versucht man es besser zu machen, indem man für die Ausstellung weitgehend auf Strom verzichtet. Aber es ist keine Klimaausstellung geworden, verspricht er: "Wir zeigen 2000 Quadratmeter Kunst. Die Basis ist ein großes Kunstprojekt mit Werken von Agnes Denis, Tino Sehgal über Yngve Holen oder Kirsten Pieroth. Nur fügt sich das zu einem zeitbasierten System, an dem während der vier Wochen etwa 200 Experten, Praktiker, Aufführungskünstler und das Publikum mitwirken."

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Natur & Symbol" in der Albertina (Standard) und die Ausstellung "The Last Unicorn. Das Einhorn im Spiegel der Popkultur" im Museum im Prediger in Schwäbisch Gmünd (Welt).
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Literatur

Die Kabarettistin Lisa Eckhart bei einem Auftritt 2018 (Bild: Richard Huber, CC BY-SA 4.0, Zuschnitt)

In der Kontroverse um Lisa Eckhart fehlte von der Kabarettistin und Roman-Debütantin selbst die letzten Tage jede Spur. Jetzt meldet sie sich in zwei Interviews zu Wort: Sie sei außer Landes gewesen und das Handy aus, sagt sie dem NDR. Die Vorwürfe, sie würde bei ihren Auftritten mit antisemitischen Klischees hantieren, federt sie ab: "Wissen Sie, es gibt nichts Lächerlicheres als einen Unschuldigen, der krampfhaft versucht unschuldig zu wirken. Deswegen auf so etwas einzugehen, wäre schon höchst dubios. Das ist etwas, dem ich mit großer Verwunderung zuschaue, aber mir fehlt da ehrlich gesagt der Anknüpfungspunkt bei diesem - wie ich doch unterstelle - sehr boshaften Missverstehen." Der kabarettistische Blick aufs rechte Spektrum sei wichtig, sagt sie im Standard, aber der Markt dafür auch sehr gesättigt: "Ich möchte deshalb lieber bei denen, bei denen ich davon ausgehe, dass sie wie ich keine Unmenschen sind, schauen, in welche moralische Dilemmata sie sich verstricken. Und die sind vielseitig. Etwa das hohe Ross, dass wir sittlich überlegen seien." Sie verstehe zudem "auch nicht, wieso man jetzt wieder mit der Identitätspolitik eine Partikularbehandlung von Gruppen beginnen muss, wo ein Universalismus doch immer das Ziel der Linken war. Das halte ich für bevormundend, und es befördert letztendlich eine neoliberale Ich-Verseuchtheit."

Auf SpOn kommentiert Margarete Stokowski die Debatte der letzten Tage und erstellt ein FAQ "Cancel Culture". Unter anderem geht es um die Wortwahl in den teils drastischen Reaktionen auf die linken Drohungen, die sich dann als "besorgte Warnungen aus der Nachbarschaft" entpuppt haben: "Fällt Ihnen was auf? Quasireligiös, Furor, ausrotten, brandmarken, Panzer? Wer Menschen, die Diskriminierungen kritisieren, so beschreibt, bietet Rechtsextremen alles Futter, das sie brauchen, um sich gegen eine imaginierte Bedrohung zu wehren." Im Dlf Kultur äußert sich Stefanie Sargnagel: Die in Hamburg veranstalterseitig abgesagte Lesung "hätte man stattfinden lassen können, aber man hätte auch mit den Protesten umgehen müssen und darüber Diskussionen führen sollen."

Besprochen werden Roberto Bolaños "Cowboygräber" mit drei Erzählungen aus dem Nachlass (Standard), Sayaka Muratas "Seidenraupenzimmer" (Berliner Zeitung), Nana Kwame Adjei-Brenyahs Erzählband "Friday Black" (taz), ein Gesprächsband von Alexander Kluge und Joseph Vogl (SZ), Stephen Kings "Blutige Nachrichten" (ZeitOnline), neue Bücher aus dem Nachlass von Lars Gustafsson (NZZ) und Iris Hanikas "Echos Kammern" (FAZ).
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Bühne

Für den Szenenreigen "Utopia" schickt Regisseur Bruno Max die Zuschauer, darunter nachtkritikerin Gabi Hift durch 18 Stationen in den Nischen und Röhren des Theaters im Bunker in Mödling. Alle Hoffnungen auf Verbesserung der Welt sind am Ende, erlebt Hift: "Die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren. In einer düsteren Bar saufen sich gescheiterte Utopisten ins Koma: Thomas Morus, Lenin und Berta von Suttner. Im Dschungel lehrt 'Earthboi' (aus der Kult-Graphic-Novel 'Unfollow' von Lukas Jüliger) seine Jünger die Rückkehr zur Natur via Massenselbstmord. 'Kosmisten' propagieren die Abschaffung des Todes und die Verschmelzung mit dem Kosmos - am Vorabend des zweiten Weltkriegs. Ein Zukunftsforscher prognostiziert, die Corona-Krise werde die Menschheit auf eine höhere Stufe der Zivilisation heben. Die versunkene Ruinenlandschaft um ihn herum ignoriert er - bis er von vertierten Überlebenden angefallen wird." Bei Hift hatte die Schwarzmalerei immerhin eine therapeutische Wirkung.

Manuel Brug schickt der Welt eine kleine Reportage aus dem unter seinen Masken schwitzenden Salzburg: "Die stilbewusste Pressechefin hat zur hellblauen Maske den korrespondierenden Seidenschal und Ton-in-Ton-Ohrgehänge angelegt. Da weiß ich, dass ich da bin.
Archiv: Bühne

Film

Der italienische Jean Gabin: Pierfrancesco Favino in "Il Traditore"

Der Mafiafilm krankt oft an der Romantisierung seines Sujets, schreibt Ursula Scheer in der FAZ. Eine wohltuende und dennoch bildgewaltige Ausnahme dazu stellt für sie Marco Bellocchios "Il Traditore" dar. Der handelt von dem in Brasilien untergetauchten Mafioso Tomasso Buscetta, der schließlich gegen seine Leute in Sizilien aussagt: "Mitleid jedoch mit diesem von Pierfrancesco Favino in bemerkenswerter Vielgesichtigkeit und mit außergewöhnlicher Präsenz verkörperten Mafioso" lasse er "nur kontrolliert auf Sparflamme aufflackern. Raffiniert führt er vor, wie der sich selbst stets als 'Ehrenmann' Titulierende, den der Römer Favino im Original mühelos vom Sizilianischen ins Italienische, Englische und Portugiesische wechseln lässt, jedem die Geschichte auftischt, die er oder sie hören soll." Umwerfend fand Gerhard Midding den Hauptdarsteller Pierfrancesco Favino, der in Italien ein Superstar ist, und dem Midding ein Porträt in epdFilm widmet: "Als Verkörperung nationaler Folklore könnte Favino das moderne, italienische Gegenstück zu Jean Gabin werden. Die meisten seiner Figuren tragen Kosenamen; sie besitzen eine Aura von Familiarität. Seine physische Präsenz könnte Favino aufs Actionkino festlegen. Aber sie ist wandelbar." Für Dlf Kultur spricht Patrick Wellinski mit dem Regisseur.

Außerdem: Für die Berliner Zeitung plaudert Patrick Heidmann mit dem Schauspieler Javier Bardem über dessen neuen Film "Wege des Lebens". Andreas Kilb gratuliert in der FAZ Iris Berben zum 70. Geburtstag. Dass die Schauspielerin keine Lust mehr hat, über ihr Alter zu sprechen, weiß Jenni Zylka in der taz. Dennoch unter anderem ums Alter und ums Älterwerden geht es in dem Gespräch, das Christina Bylow für die Berliner Zeitung mit der Berben geführt hat.
Archiv: Film

Musik

Fast könnte man sagen: Corona hat Young Euro Classic gut getan, meint Clemens Haustein in der FAZ, der sich nicht nur über die im Zuge des Sicherheitskonzepts zusätzlich gewonnene Beinfreiheit freut. In den letzten Jahren war das Berliner Nachwuchsfestival etwas festgefahren, doch "Orchester aus aller Welt: Das war coronabedingt nicht mehr möglich. Also wurde Kammermusik aufgeführt. ... Das Festival zeigte sich dadurch - ganz abseits der sonst hier zu erlebenden folkloristischen Buntheit - so überraschend und differenziert wie lange nicht. Auch die Abspeckung der Abendrituale tat gut: Von der schlimmen Festivalhymne, die Iván Fischer in einem Versuch mahlerscher Ironie komponierte, blieb der Besucher meist verschont, ebenso von überlangen Grußworten möglichst namhafter Konzertpaten. Länger als neunzig Minuten sollte ja keines der pausenfreien Konzerte dauern." Außerdem berichten die Berliner Zeitung und der Tagesspiegel. Einige Konzerte zum Nachhören gibt es im Konzertportal von Dlf Kultur.

Außerdem: Franziska Dürmeier schreibt in der SZ über den MeToo-Skandal rund um das US-Indielabel Burger Records, das im Zuge seine Auflösung bekannt gegeben hat. Peter Uehling wirft für die Berliner Zeitung einen Blick in Klaus Lederers Konzept, das es den Berliner Chören gestatten soll, wieder zu proben. Sensationell findet es Jens-Christian Rabe in der SZ-Popkolumne, dass Katy Perry für ihr neues Video ziemlich mir nichts, dir nichts schwanger vor der Kamera performt: "Ein Meilenstein. Ein weiteres Dokument der Zeitenwende."


 
Besprochen werden Julianna Barwicks neues Album "Healing Is a Miracle" (taz), das Konzert des Minguet Quartetts bei den Salzburger Festspielen (SZ), Gabriele Haslers "Herden und andere Büschel" (FR) und das Debüt der Postrock-Band Another Sky (Berliner Zeitung).
Archiv: Musik