Vorgeblättert

Michael Maar: Warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte, Teil 2

14.03.2002.
Harry Potter lebt in einer märchenhaften Welt, und das tun auch die Helden Nabokovs, dessen Werk von Märchenmotiven strotzt. Besonders vertraut war ihm die Verwandlung Cinderellas. Professor Pnin, der den falschen Zug zu nehmen pflegt und Visionen von seinen toten Eltern hat - Pnin, der als russischer Emigrant in Amerika lehrt, wo er trotz moralischer Noblesse als leicht lächerliche Figur gilt, hält bei seiner Einweihungsparty nicht zufällig ein Privatissimum über Cinderellas Schuhe. Harry Potter als Aschenputtel, der im Schrank unter der Treppe wohnt und in dem sich ein bedeutender Zauberer verbirgt, hätte beim Mentor Pnins immer einen Stein im Brett.

Wie bei Rowling hindert die Märchentönung auch bei ihm nicht die luzideste Beobachtung der Wirklichkeit. Nabokov hatte wenig übrig für Prosa, die bemaltem buntem Glas gleicht, durch das man nichts mehr sehen kann, wie es in einer seiner Erzählungen heißt. Solche Prosa war ihm sogar ausgesprochen verhaßt: Jener Dichter, dessen bösem Zauber sein Erzähler nicht lange verfällt, trägt nachgerade Züge eines Voldemort. Zerschlüge man sein buntes Glas, schreibt er, fände sich die schaudernde Seele einer vollkommen schwarzen Leere gegenüber. Gerade das ist bei Harry Potter anders, und gerade das hätte Nabokov an ihm geschätzt: man sieht durchs Märchenprisma genauer auf die Welt.

Der Blick selbst ist bei beiden Autoren ein ethischer. Beide nehmen sie das Böse auf bedrückende Weise ernst. In Nabokovs Gelächter im Dunkel quält der satanische Axel Rex einen Blinden. Im Bastardzeichen wird der Sohn des Helden als lebender Punchingball benutzt und zu Tode verstümmelt. Er wird das zufällige Opfer einer Macht, bei deren Schilderung Nabokov eine ähnliche Allegorie durchschimmern läßt wie Joanne Rowling mit D-Day und SS - Nazismus und Stalinismus, nach Galtons-Art übereinander kopiert. Gefoltert wird auch in Rowlings Jugendbuch. Die Eltern Nevilles und viele andere verlieren durch die Cruciatus-Folter ihren Verstand.

Auf subtilere Art gequält werden in Hogwarts alle Abweichler und Außenseiter. Auch hier ist Nabokov Harry Potter ganz nah. Keine Rüstung der Arroganz, keine Mandarin-Attitüde konnte je seine Verwundbarkeit durch das Mitleid mit den Nevilles und Myrtes dieser Welt verbergen. Wie Myrte wegen ihrer Brille gehänselt wird und in der Toilette zu Tode kommt, geht die häßliche Tochter des Schriftstellers Shade in Fahles Feuer ins Wasser und stürzt sich in Ada die immer störende Dritte, Lucette, über die Reling eines Schiffs. Das brillante, egoistische Liebespaar ist mit schuld an ihrem Tod. Wie bei Rowling sind bei Nabokov das Gute und das Böse ineinander verschlungen. Das Eden, in dem Ada lebt, hat seine satanischen Flecken; der Grund nicht nur dieses Romans ist gnostisch unterströmt.

Nabokovs Gegen-Fundament ist eine unbigotte Moral, kahl und hart wie ein Felsen, und auch sie hätte er in Harry Potter gefunden. Schon in seinem frühen Drama Der Pol über Scott, der sich weigert, seine erfrierenden Kameraden allein im Zelt zurückzulassen, zeigt sich der Cambridge-Student beeindruckt von den britischen Tugenden. England ist das letzte Wort des Stücks, sein Motto endet mit dem Wort "gentleman". Genau solche britischen Tugenden werden sieben Jahre lang in Hogwarts gelehrt, auch wenn sie kein Stundenplan als Hauptfach ausweist. Nicht zuletzt darum gibt es Quidditch; ein Sport, der dem früheren Boxtrainer und nicht Seeker, aber Keeper gefallen hätte. Die höchste Tugend sah er im Mut. Harry, der sich beim Friedhofsduell im Bewußtsein des sicheren Todes weigert, vor Voldemort zu knien - das wäre, wie Nabokov bei anderer Gelegenheit sagt, ein Bursche nach seinem Herzen, "a fellow after my heart".

Der sichere Tod wurde dann allerdings doch umgangen. Einmal wird er selbst bei vollzogener Exekution rückgängig gemacht. Diese Szene aus Harry Potter, die Schein-Hinrichtung des Hippogreifs Seidenschnabel, hätte Nabokov wieder an ein eigenes Werk erinnert. Auch in seiner Einladung zur Enthauptung fällt zum Finale das Beil des Henkers auf den Richtblock nieder, und das Opfer entflieht in eine parallele oder jenseitige Welt. Die Frage nach jener Welt, nach der möglichen Rückkehr oder Geheimpräsenz der Verstorbenen, treibt Nabokovs Werke ebenso drängend an, wie sie die Gedanken des Waisenkinds Harry bewegt.

Es gibt noch einen letzten Grund, warum Nabokov Harry Potter gemocht hätte. Zugegeben, es ist ein schlechter Grund, aber selbst ein Nabokov wäre nicht gegen ihn gefeit. "Wen ich wirklich liebe", sagt Rowling in einem Interview mit Thomas Bodmer,
Wen ich wirklich liebe ist Nabokov. Lolita ist wahrscheinlich mein liebster Roman des zwanzigsten Jahrhunderts: Er hat alles, er ist komisch, tragisch - es gibt zwei Bücher, deren letzte Seite mich zum Weinen bringt, ohne daß ich die vorhergehenden Seiten zu lesen brauche. Eines davon ist Lolita, es klappt immer.

Dies auch abschließend zu der Frage, welche Art von Literatur Harry Potter beeinflußt hat. Hanni und Nanni sind definitiv unschuldig.Wie bei Professor Trelawneys zwei erfolgreichen Prophezeiungen, von denen nur eine verraten wird, ist man nun aber neugierig auf die andere. Was wäre das zweite Buch, das auf Joanne Rowling den Effekt Lolitas nicht verfehlt? Es ist The Tale of Two Cities von Charles Dickens. Der Nabokovianer seufzt erleichtert auf: Der Mann hat den Segen des Meisters. Nabokov hat ihm eine Vorlesung gewidmet und ihn darin einen "superben Zauberer" genannt. Seltenes Bild, bei diesem dickköpfigen Volk - zwei Zauberer, vereint im Applaus für einen dritten. Selbst in Hogwarts passiert das nicht jeden Tag.

3. Teil