Außer Atem: Das Berlinale Blog

Innenleben einer Äffin: Nicolas Philiberts 'Nenette' im Forum

Von Anna Steinbauer
15.02.2010.
Angeblich reden Orang-Utans nur deshalb nicht, damit sie nicht arbeiten müssen. Ob sie nun nicht können oder nicht wollen - auf jeden Fall traut man den Menschenaffen eine gehörige Portion Klugheit zu. Umso mehr, wenn man Nenette, die Orang-Utan-Dame aus der Pariser Menagerie im Jardin des Plantes so betrachtet. Die Äffin verfügt durchaus über ein gewisses Maß an Lebenserfahrung, im Vergleich zu ihren Artgenossen hat sie schon ziemlich viele Jahre auf dem haarigen, rötlich-schimmernden Buckel. Nenettes 40. Geburtstag nahm der Dokumentarfilmer Nicolas Philibert zum Anlass, ihr Leben in dem Pariser Affenhaus zu porträtieren.



Geboren in der Freiheit der tropischen Regenwälder Südostasiens lebt Nenette mit ihren drei Kindern nun schon seit 37 Jahren im Pariser Affenhaus - gefangen in einer kleinen Welt hinter Glas und Gitter. Drei Orang-Utan-Männer und eine schwere Krankheit hat sie überlebt und fristet nun ihr Dasein mit einer Mischung aus Lethargie und Ironie - so hat es den Anschein. Zumindest für den Zoobesucher, dessen Blick in das Gehege zugleich auch der des Zuschauers ist. Das Affenhaus wird zum Raum der Betrachtung, wobei man nie ganz sicher ist, wer hier wen durch die Glasscheibe betrachtet. Und der Film über eine gefangene Äffin und ihre Beobachter wird zum Film über das Filmemachen. Über das Einfangen von Bildern, Augenblicken: "Zu filmen bedeutet immer auch, andere einzusperren, sie in einem bestimmten Rahmen festzuhalten, sie in Zeit und Ort einzufrieren", wie Nicolas Philibert selbst sagt.

Sowie die Antithese Freiheit - Gefangenschaft von Anfang an den Film bestimmt, erlebt der Zuschauer auch Bild und Ton nur als zerrissene, anonyme Gegenstücke. Während das Bild ausschließlich die Affen, insbesondere Nenette, zeigt, von denen man beinahe keinen Laut hört, kommt der Ton in Form von Kommentaren der Zoobesucher und Wärter ausschließlich von Personen, die jedoch nie zu sehen sind. Durch diese strikte Trennung, die beide Seiten nur unvollständig zeigt, betont Philibert die Unmöglichkeit des Austausches zwischen menschlicher Perspektive und Tierwelt. Er zeigt zwei nebeneinander existierende Welten, die nicht miteinander kommunizieren können.

Während der Fokus stets auf Nenette gerichtet ist, die oft nur gelangweilt in der Ecke sitzt und beobachtet, hört der Zuschauer Bemerkungen, Belehrungen, Erklärungen und philosophische Gedanken der Besucher und Wärter. So ergeben sich erstaunliche Parallelen zwischen Tier- und Menschenwelt. Beispielsweise teilt eine Kinderstimme seiner Mutter mit, dass die Orang-Utan-Dame genauso alt sei wie sein Vater, andere Besucher psychologisieren das Innenleben der Äffin und erkennen in Nenettes lethargischem Verhalten eine Trauer über das Leben in Einsamkeit und Gefangenheit. Es gibt Zoobesucher, die jeden Tag vorbei schauen. Ein Wärter erklärt, es sei für diese Menschen dasselbe, "wie Schwester oder Bruder im Gefängnis zu besuchen".

Unaufdringlich eröffnet der Film dem Zuschauer einen Reflexions- und Projektionsraum für seine eigenen Wünsche und Erfahrungen. Nenette fungiert als Spiegelbild menschlicher Vorstellungen. Über sie zu reden, bedeutet, in Wirklichkeit über uns Menschen zu reden. Besonders deutlich wird dies in einer Sequenz, in der die Orang-Utan-Dame verschiedene Tücher umlegt und diese immer wieder anders drapiert und verwirft, ganz so, wie es Frauen tun, wenn sie wieder einmal nicht wissen, was sie anziehen sollen. Vielleicht ist es gerade diese erstaunliche Nähe zu menschlichen Verhaltensweisen, die den Zuschauer immer wieder aufs Neue anrührt. Hinzu kommen außerdem die verblüffenden anatomischen Ähnlichkeiten zwischen Menschen und den Menschenaffen, die uns dazu anstoßen, uns mit unserer eigenen Herkunft zu beschäftigen.

Ganz sicher ist man sich nie, ob Nenettes Verhalten vielleicht nur bloße Interpretation seitens der menschlichen Perspektive ist. Zum Beispiel wenn die Orang-Utan-Dame ihre Schnauze zu einem Grinsen verzieht, während im Hintergrund eine Demonstration stattfindet, bei der Proteststimmen gegen Video-Überwachung laut werden. Oder vielleicht doch nicht? Der Blick aus den braunen, eng zusammen liegenden Augen flackert unruhig hin und her, bis er aus irgend einem Grund plötzlich innehält und dem Betrachter ganz unvermittelt geradewegs in die Augen sieht. Ein erstaunlich menschlicher Blick ist es, mit dem Nenette uns fixiert. In ihm liegt so viel waches Verständnis und Mitgefühl, dass dieser Blick mehr auszusagen vermag, als jedes gesprochene Wort.

Nicolas Philibert: "Nenette". Frankreich 2010, 70 Minuten (Vorführtermine)