9punkt - Die Debattenrundschau

In Blau-Weiß-Rot gemalt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.04.2015. Der Bundestag wird den Völkermord an den Armeniern beim Namen nennen, wenn auch mit einem Satz, den Spiegel online spitzfindig findet. Der New Yorker erkennt Fortschritte in der Türkei bei diesem Thema. Großen Ärger hat François Hollande mit dem Satz ausgelöst, Marine Le Pen klinge wie ein kommunistisches Flugblatt von 1970. Libération gibt ihm recht. Heute startet politico.eu mit Artikeln gegen Austerität und pro Google. Die taz fordert eine Evakuierung der libyschen Flüchtlingslager.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.04.2015 finden Sie hier

Geschichte

Auch die Bundesregierung schließt sich dem Resolutionsentwurf der CDU zum Völkermord an den Armeniern an, immerhin. Severin Weiland inspiziert den Satz, mit dem sie das tut, in Spiegel Online und staunt über die "hohe Schule der Spitzfindigkeit". Statt einfach zu sagen: "Der Bundestag verurteilt den an den Armeniern begangenen Völkermord", steht nun das Schicksal der Armenier "beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen und der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist". Aber weiter als Barack Obama ist man schon mal: "Als US-Senator hatte er einst versprochen, den Fakt des Genozids an den christlichen Armeniern anzuerkennen, als US-Präsident aber ließ er von seinem Ziel ab."





(Via Tablet Mag) Dieses sehr seltene Foto Sergei Prokudin-Gorskiis stammt aus einer Reihe von Farbfotos, die der Fotograf am Vorabend der Russischen Revolution von verschiedenen Ethnien im Zarenreich machte. Es zeigt zwei armenische Frauen in den Jahren unmittelbar vor dem Völkermord in der Türkei. (Sergei Mikhailovich Prokudin-Gorskii Collection at the Library of Congress)

Durchaus Fortschritte in der Türkei erkennt Raffi Khatchadourian im New Yorker: Zum ersten Mal in Jahrzehnten ist es möglich, das Wort "Völkermord an den Armeniern" auszusprechen, ohne gleich mit Strafverfolgung rechnen zu müssen. Liberale Türken in immer größerer Zahl brechen alte Tabus, und viele Kurden in der Türkei sprechen mit Traurigkeit über die Komplizenschaft ihrer Vorfahren."

Weiteres: Während die Armenier des Völkermords gedenken, der vor hundert Jahren begann, erinnern die Türken an die Schlacht von Gallipoli, berichtet Joseph Croitoru in der FAZ - und zwar ebenfalls am 24. April, dem Gedenktag des Völkermords.

In der taz weist außerdem Romani Rose - siebzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus - auf die in Europa immer noch verbreiteten Ressentiments gegen Sinti und Roma hin: "Vertreter der Politik und der Kirchen wiesen auf den wachsenden Antisemitismus hin, doch keiner der Redner erwähnte den gleichfalls virulenten Antiziganismus auch nur mit einem Wort."
Archiv: Geschichte

Kulturmarkt

Die Filmproduzentin Manuela Stehr plädiert im Gespräch mit Hanns-Geord Rodek in der Welt nicht nur gegen eine Liberalisierung von Kultur im Zeichen der TTIP-Verhandlungen, sondern auch gegen die Schaffung europäischer, statt nationaler Lizenzen für die Auswertung von Filmen. Allzu sehr ist ihr der Europudding mit den vielen Töpfen ans Herz gewachsen: "Die große Mehrheit aller europäischen Filme sind Koproduktionen: Jeder holt aus seinem Land einen Teil der Finanzierung. Das kann er nur, weil sich diese Rechte national und exklusiv lizenzieren lassen."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Filmförderung, TTIP

Internet

Einen rätselhaften Vorschlag macht in der FAZ der CDU-Politiker Axel Wintermeyer mit Blick auf eine Reduzierung der Marktmacht von Internetgiganten wie Facebook oder Google: "Auch die anstehende politische Debatte, welche heute noch linearen Medienangebote, also Hörfunk und Fernsehen, zukünftig in welchem Umfang im Internet stattfinden dürfen, bietet Ansatzpunkte für eine Diskussion mit der Internetwirtschaft über die Frage, wie viel Entgegenkommen für ein Mehr oder Weniger staatlicher Regulierung sie zu zahlen bereit ist."
Archiv: Internet

Politik

Kaum ist das Atom-Abkommen mit dem Iran geschlossen, liefert Russland dem Iran Raketen, mit dem das Regime israelische oder amerikanische Angriffe auf Atomanlagen abwehren könnte, staunt Richard Herzinger in seinem Blog: "Der Kreml rechtfertigt die Raketenlieferung an den Iran in dem ihm eigenen dreisten Zynismus. Die russischen Raketen seien ja "reine Defensivwaffen" und bedrohten daher niemandem, auch nicht Israel, ließen Wladimir Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow verlauten. Und das, während die Kreml-Propaganda doch stets sofort Zeter und Mordio schreit und mit Drohungen bis hin zu einem Nuklearkrieg um sich wirft, wenn im Westen die Lieferung defensiver Waffen an die von Russland überfallene Ukraine auch nur in Erwägung gezogen wird."
Archiv: Politik

Europa

Großer Ärger in Frankreich. François Hollande hat gesagt, Marine Le Pen spreche "wie ein Flugblatt des Parti communiste" aus den Siebzigern. Zwar hat er das nur auf wirtschaftspolitische Aussagen Le Pens gemünzt, trotzdem fordern die Überreste des PC eine Entschuldigung. In Libération präsentiert Baptiste Bouthier ein Plakat des PC aus den Siebzigern und findet "verstörende Entsprechungen zum FN von heute: Frankreich in Blau-weiß-rot gemalt, die Kritik der "Monopole" und der "kapitalistischen Profite", für die das "nationale Interesse" geopfert werde, und die Glorifizierung des PCF als Partei "des Volkes" und "der Nation"."

Den Kern der französischen Problematik getroffen sieht Rudolf Balmer in der taz von Charbs postum erschienenem "Brief an die Schurken der Islamophobie, die den Rassisten in die Hände spielen": "So legitim oder notwendig es für ihn ist, im Land der Aufklärung den Islam oder jede andere Religion oder Ideologie zu kritisieren, so eine grundverschiedene Sache ist es, Gläubige wegen ihrer Religion oder Herkunft zu diskriminieren oder zu attackieren. Das ist die entscheidende Differenz zwischen Blasphemie und Rassismus, die übrigens auch die französische Justiz in ihrer Rechtsprechung stets macht."

Mit Blick auf die brutale Behandlung der Flüchtlinge in Libyen fordert Dominic Johnson in der taz, die Menschen aus dem Griff der Milizen zu befreien: "Nötig ist jetzt eine sofortige, international koordinierte Evakuierungsaktion für die Insassen der libyschen Transitlager, in denen Flüchtlinge unter Kontrolle von Schmugglern interniert sind und auf den Befehl zur Abreise warten. Es geht um klare Gruppen mehrerer Tausend Menschen in höchster Lebensgefahr. Die Lager, in denen sie leben, sind bekannt, ihre Insassen reisefertig."

In der SZ stellt Daniel Brösler klar, dass das richtige Mittel gegen Zynismus nicht Zynismus sein kann."
Archiv: Europa

Gesellschaft

Etwas wehleidig, aber vor allem ziemlich unpolitisch findet Verena Mayer in der SZ die Klage ihrer Zeit-Kollegen Marc Brost und Heinrich Wefing über die Unvereinbarkeit von Kindern und Karriere: ""Capitalism kills love", schreiben die Autoren. Ein wunderschöner Satz, den man sofort sharen, liken, twittern möchte. Andererseits ist der Kapitalismus ja irgendwie an allem schuld. Oder wie die Punkrockband The International Noise Conspiracy mal sang: "Capitalism stole my virginity!" Wenn aber der Kapitalismus an allem schuld ist, dann heißt das im Umkehrschluss, dass das Individuum an nichts schuld ist. Und das hat erst recht eine kapitalistische Logik, weil dann ja alles so bleiben kann, wie es ist."
Archiv: Gesellschaft

Medien

Das neue europäische Politico.eu ist online gegangen. Erste Artikel plädieren gegen deutsche Austeritätspolitik (hier) und - auffällig im Medium des Lobbyisten Springer - pro Google (hier).



In der NZZ hält Niklaus Nuspliger das Konzept von Politico vor allem ökonomisch für erfolgversprechend: "Hinter einer Bezahl-Schranke finden sich Insider-Informationen zum EU-Gesetzgebungsprozess in ausgewählten Polit-Bereichen. Da Brüssel nach Washington die weltweit größte Zahl von Lobbyisten aufweist, hofft "Politico" auf zahlungswillige Kunden. Die allgemeine News-Seite ist hingegen frei zugänglich."

In der SZ empört sich Johannes Boie, dass Mark Zuckerberg mit seinem Projekt Internet.org den Armen der Welt Internet versprochen (Menschenrecht! Bildung! Mobilität! Aufstieg!), aber nur Facebook geliefert hat. Ob die Nutzer andere Dienste nutzen dürfen, hängt von Zuckerbergs Gnaden ab: "Hätte Facebook je vom kleinen Uniprojekt zum weltweiten Tech-Giganten wachsen können, wenn größere Firmen kontrolliert hätten, wer wo Facebook aufrufen darf?"

Landlust-Magazine wie Country Living, Birds & Blooms oder Modern Farmer sind auch in den USA der Renner, meldet Tobias Feld in der NZZ, Slow Living ist gerade sehr trendy, besonders bei Leuten, die ihre Milliarden mit Klickmaschinen im Internet gemacht haben.

Weiteres: (via turi2) Hier die neuesten (eher sinkenden) Auflagenzahlen der Tageszeitungen. Hier die ganz aktuelle Liste der Pulitzer-Preise deses Jahrs, die unter anderem an Fotografen aus Ferguson und Saint Louis gehen.
Archiv: Medien