9punkt - Die Debattenrundschau

Setzen auf den Brückenbauer

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.04.2018. Emma.de bringt ein großes Porträt über Tariq Ramadan, das auf längst verflossene Tage des Glamours zurückblendet. Die taz stellt Ärzte und Ärztinnen vor, die nach wie vor über Abtreibung informieren - in der SZ beharrt Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann weiterhin auf dem Informationsverbot. Die FAZ plädiert nach dem Echo-Skandal für mehr Jugendschutz. Die taz stellt eine Online-Datenbank vor, die über Assads Giftgaseinsätze informiert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.04.2018 finden Sie hier

Europa

Emma.de übernimmt aus der Schweizer Weltwoche ein sehr ausführliches Porträt Jürg Altweggs über den muslimischen Prediger und Medienstar Tariq Ramadan, der sich nach Vergewaltigungsvorwürfen mehrerer Frauen in Frankreich und der Schweiz in Untersuchungshaft befindet. Unter anderem scheint es nach Altwegg, dass Ramadan seine akademischen Weihen in Genf auch unter Mithilfe von Jean Ziegler (damals Soziologieprofessor in Genf) und dessen Frau Erica Deuber erhielt: "Der Doktortitel verlieh ihm einen Hauch von wissenschaftlicher und religiöser Autorität und beflügelte seine Karriere, die nach dem 11. September 2001 zum Höhenflug wurde. Die Jugendlichen in den Banlieues verehrten Bin Laden als neuen Helden. Ramadan wurde als Vermittler gebraucht. Im Fernsehen diskutierte er auf Augenhöhe mit dem damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy... Tony Blair, der ihn nach dem ersten Attentat von London in eine Task-Force holte, und Romano Prodi setzten auf den Brückenbauer..."

Anlässlich der Publikation des Romans "Rotes Licht" hat sich Achim Engelberg für die NZZ mit dem russischen Autor und Maler Maxim Kantor getroffen und Einblicke in den "Mentalitätswandel" der sowjetrussischen Intellektuellen nach 1991 geben lassen: "In den neunziger Jahren entstand in Russland ein neuer Feudalismus. Das wurde natürlich nicht transparent gemacht, es hieß: Wir bauen eine Demokratie, eine offene Gesellschaft auf. Wenige, nicht mehr als hundert Superreiche, die wussten, wie man sich am Volksgut vergreift, teilten das Land unter sich auf. Das Leben war freier als in der kommunistischen Kaserne, aber es ging schwanger mit einem künftigen Faschismus."

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Gesellschaft

Die taz stellt Ärztinnen und Ärzte vor, die auf ihrer Website weiterhin über Schwangerschaftsabbruch informieren. Der Frauenarzt Samuel Fischmann sagt: "Wir haben in unserer Praxisklinik anfangs keine Schwangerschaftsabbrüche gemacht. Aber dann kam Pro Familia auf uns zu mit der Bitte, das doch sauber und legal zu machen. Damals, vor über zwanzig Jahren, wurden solche Sachen im Rhein-Main-Gebiet teilweise in irgendeinem Keller gemacht. Mein damaliger Partner war nicht begeistert, aber ich habe gesagt, wir machen das. Die Frauen kommen heute teilweise aus über hundert Kilometer Entfernung zu mir. Das liegt unter anderem daran, dass wir recht nah an der Grenze zu Bayern liegen."

Im SZ-Gespräch mit Ronen Steinke beharrt Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann (CDU) weiterhin auf dem Paragrafen 219a. Ärzte verdienen an Abtreibungen, meint sie und: "Dass jemand sagt: Ich will abtreiben, das entscheide ich selbst, mein Bauch gehört mir - da bin ich absolut dagegen. Wir haben die Aufgabe, schwangeren Frauen zu sagen, dass auch der Schutz des ungeborenen Lebens in die Waagschale zu legen ist. Dafür gibt es die etwas umständliche sogenannte Beratungslösung. Die Verpflichtung, noch einmal nachzudenken."

Ehen zwischen Blutsverwandten zweiten Grades sind in Deutschland erlaubt, aber das Risiko für Erbkrankheiten steigt, schreibt Maritta Adam-Tkalec in der Berliner Zeitung und verweist auf eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung von 2010, die besagt, dass etwa jede vierte türkischstämmige Frau mit einem Verwandten verheiratet ist. Das Problem: "Den jungen Leuten wird das Wissen um die Risiken vorenthalten (…) Verwandtenehen werden nur ausnahmsweise freiwillig geschlossen. Meist entscheiden Familien über die Betroffenen hinweg. Wagen diese Widerspruch, stürzen sie in Konflikte. Wundert sich jemand, dass die Suizidraten türkischer Mädchen doppelt so hoch liegen wie die deutscher?"

Im FAZ-Interview mit Michael Hanfeld antwortet der Sozialarbeiter Burak Yilmaz, der Jugendliche in Duisburg über Antisemitismus aufklärt, auf die Frage, ob man KZ-Besuche für Schüler verpflichtend machen solle: "Das halte ich nicht für gut. Ich merke, dass viele Schulen die Jugendlichen nicht intensiv darauf vorbereiten und den Besuch nicht nachbereiten. Pflichtbesuche finde ich generell schwierig. Wenn man Leute zwingt, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen, kann das nach hinten losgehen. Ich würde das auch nicht als integrationspolitische Forderung stellen."

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Kulturpolitik

Einen ganz kleinen Haken gibt es bei Monika Grütters' Plänen, Benedicte Savoy an zentraler Stelle für den "Umgang mit Kulturgütern aus kolonialem Kontext" im Humboldt-Forum zu besetzen noch (unser Resümee), weiß Jörg Häntzschel in der SZ: "Savoy weiß davon nichts. 'Ich erfahre es aus der Zeitung und bin auch nicht gefragt worden', erklärt sie gegenüber der SZ. Auch beim Auswärtigen Amt und beim BKM ist von dieser angeblichen Entscheidung nichts bekannt. Und was ihre Rolle als 'Beraterin von Grütters angeht: Die sei ganz 'informell', berichtigt der Sprecher des Bundeskulturministeriums. Grütters und Savoy kennten sich eben schon lange."
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Ideen

In der NZZ skizziert der Historiker Volker Reinhardt, was auch die heutige Öffentlichkeit noch mit dem Zeitalter der Verfolgung Giordano Brunos gemein hat: "Für Bruno musste die Freiheit zu denken und zu schreiben ebenso grenzenlos sein wie Raum und Zeit, doch diese Freiheit hatte seine Zeit nirgendwo im Angebot. Stattdessen war die Reaktion selbstgerechte Empörung: Wir Menschen sind laut der Bibel die Krone der Schöpfung - und jetzt sollen wir ein verlorenes Nichts im unendlichen Weltraum sein? Mit dieser narzisstischen Gekränktheit ist die Brücke zu unserer Gegenwart geschlagen, für die genau diese Haltung so kennzeichnend ist."

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Medien

Die öffentlich-rechtlichen Sender müssen mit mageren acht Milliarden Euro im Jahr auskommen und mussten darum jüngst bekanntgeben, dass sie auf keinen Fall mehr sparen können, darum erregte es im vergangenen Jahr Aufsehen, dass beim Institut für Rundfunktechnik, das zu den Sendern gehört, angeblich mal so eben 200 Millionen Euro veruntreut werden konnten. Nach einem Prozess gibt es nun einen Vergleich, berichtet Klaus Ott in der SZ: Das Institut bekommt 60 Millionen Euro Schadenersatz von dem Patentanwalt, der es hintergangen haben soll: "Das ist weit entfernt von den 200 Millionen Euro, um die das Institut betrogen worden sein soll und die das IRT eigentlich einklagen wollte. Aber es ist immer noch ein stattlicher Betrag für ein Institut mit zuletzt rund 25 Millionen Euro Jahresetat."

Nach der Diskussion um antisemitische Deutsch-Rapper plädiert Helene Bubrowski im Leitartikel auf Seite 1 der FAZ für mehr Jugendschutz: "Gewaltdarstellungen überfordern Kinder und Jugendliche. Traumatisierungen können die Folge sein. Die Unterhaltungsindustrie will das nicht wahrhaben und argumentiert, die Jugendlichen wüssten doch, dass das alles nicht ernst gemeint sei. Doch aus Neugier, Rebellion gegen das Elternhaus oder Gruppenzwang konsumieren sie die verbale und körperliche Gewalt in Liedern, Filmen und Spielen - und machen Rapper und Produzenten damit zu reichen Leuten."

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Internet

Eine neue Online-Datenbank des in Berlin beheimateten "Syrian Archive" hat 861 Videos von Giftgasangriffen des Regimes überprüft und zusammengestellt und sich jüngst in der Stadt vorgestellt, berichtet Dominic Johnson in der taz. Hintergrund ist auch die vielfach so herbeigesehnte Internetzensur: "Als das Regime monatelang friedliche Proteste und Demonstrationen gewaltsam niederschlug, bis sich dagegen bewaffneter Widerstand mit Unterstützung von Deserteuren des Militärs entwickelte, hielten unzählige Augenzeugen die Vorgänge auf dem Smartphone fest und luden sie auf YouTube hoch. Seit YouTube aber begonnen hat, Videos mit Gewaltinhalt als gewalt- oder terrorverherrlichend zu löschen, sind große Mengen dieser Originalmaterialien aus dem Internet verschwunden. Daher die Notwendigkeit, Datenbanken einzurichten, damit Beweise für Kriegsverbrechen bewahrt bleiben."

Manipulation und Spionage sind nur das "Wetterleuchten" der digitalen Cyberkriegsführung, meint Georg Mascolo in der SZ und befürchtet, dass auch die Grenze zur Zerstörung von Wasser-, Elektrizitäts- und Atomkraftwerken bald überschritten werde: "Manche erinnert es an ein Schlachtfeld am Vorabend des Krieges. Riesige Potenziale für Zerstörung wurden aufgebaut und warten auf ihren Einsatz. Aber kaum jemand hat Angst davor. Digitale Waffen kann man nicht sehen, sie werden auf keiner Militärparade vorgeführt. Was sie tatsächlich anrichten können, gilt als Staatsgeheimnis."

Eine nicht weniger finstere Zukunft prophezeit Adrian Lobe in der NZZ. Sprachsoftware wie Alexa und Siri oder die von Banken inzwischen genutzte Stimmbiometrie zur Identitätsprüfung mögen praktisch sein, aber Stimmen verraten auch Charaktermerkmale, Krankheiten und Emotionen, schreibt er und verweist auf die Echtzeit-Stimmanalysen amerikanischer Callcenter.
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