Vorgeblättert

Leseprobe zu Josef Winkler: Mutter und der Bleistift. Teil 1

25.03.2013.
EINS

DIE KALKFLECKEN IM LEEREN WEIHWASSERBECKEN IN DER ÉGLISE LAGRASSE IN SÜDFRANKREICH UND DAS QUIETSCHENDE GERÄUSCH EINES EIN KREUZZEICHEN AUF DER IN BRUCH GEHENDEN FENSTERSCHEIBE ZEICHNENDEN FINGERS EINES MÄDCHENS


Unter der Rubrik VERMISCHTES stand in der Samstagsausgabe der Kärntner "Kleinen Zeitung" Folgendes: "Achtjähriger nahm sich das Leben. Toulouse. Ein achtjähriger Bubhat sich in Frankreich das Leben genommen, nachdem er mit seinem Bruder gestritten hatte. Der Bub hat sich erhängt. Nach ersten Erkenntnissen der Polizei in Toulouse hat sich das Kind mit seinem jüngeren Bruder wegen einer Lappalie gestritten. Er sei deshalb vom Vater in sein Zimmer geschickt worden. Dort habe er sich dann erhängt, heißt es. Der Vater versuchte vergeblich, sein Kind zu reanimieren, so die Zeitung 'Dépeche du Midi'. Auch die Rettungskräfte konnten nichts mehr für den Buben tun. Im Jahre 2009 verübten 37 Kinder im Alter zwischen 5 und 14 Jahren in Frankreich Selbstmord." "Wie Jesus einfach sagen kann, zur Witwe mit dem toten Sohn: 'Me klaie!' (Weine nicht!)", steht in den Aufzeichnungen "Gestern unterwegs" von Peter Handke.
     Auf der Fahrt von Toulouse nach Lagrasse, mit den Aufzeichnungen "Gestern unterwegs", aus dem Fenster des Autos schauend, sehe ich in einem Dorf die modernen Stromerzeuger als rotierende, den Wind köpfende Heiligenscheine. Eine Elster pickt vom Straßenrand - zwischeneiner langen Reihe Holundersträuchern stehen unzählige Büsche gelber Ginster - einen Regenwurm auf und fliegt, auch angetrieben vom Fahrtwind des vorbeirauschenden Autos, über die noch grünen Getreidefelder. Das Auto überrollt einen bereits überfahrenen Igel mit seinem aus dem Stachelfell herausgequetschten Fleisch. Vor den Zypressen, die ringsum einen Friedhof einrahmen, stehen Warntafeln, auf denen schwarze Schafe und Hirsche aufgemalt sind. Angekommen im stillen mittelalterlichen Dorf Lagrasse, unweit von den Pyrenäen, höre ich als erstes beim Aussteigen aus dem Auto einen Hahnenschrei. In der Mitte des grünen, im Sekundenabstand immer wieder aufleuchtenden Apothekerkreuzes tauchen abwechselnd Uhrzeit und Außentemperatur auf. Auf der Vitrine eines kleinen, altmodischen Gemischtwarenladens steht als Zierde ein Hahn aus Keramik, nur ein paar Stücke Käse und eine einzige luftgetrocknete Wurst liegen in der Vitrine. Der kleine, aber laut plätschernde Bach, über den eine mittelalterliche Brücke führt, trägt den Namen "L'Orbien". Am Bachufer steht ein großer Feigenbaum mit breit ausladender Krone und großen, gezähnten Blättern. Im angrenzen den Feld, das voller Mohnblumen ist, liegen auf einem runden Plastiktisch mehrere umgekippte weiße Plastiksessel. Auf einem Plastiksessel klebt ein verwittertes Heiligenbild von Giovanni Bellini mit der Madonna und dem auf einem weißen Polster mit Kordel splitternackt sitzenden Jesukind, das seine Augen zum Himmel hinaufdreht, während die Madonna mit leicht verschobener Unterlippe zur linken Seite schielt. Links und rechts von den beiden stehen die betende und jetzt schon um Jesus trauernde heilige Catarina und die heilige Magdalena, die ebenfalls in Erwartung eines Unheils ergeben die Hände gekreuzt auf ihrer Brust hält. Ein herrenloser, einen Kranz mit getrockneten Lorbeeren schief auf seinem Kopf tragender Hund mit hechelnder, Speichel verlierender Zunge irrt verloren durch die Straßen dieses stillen, kleinen Dorfes, das ungefähr 700 Einwohner zählt und in dem man kaum Jugendliche sieht. Die meisten Häuser sind aus Stein gebaut, die wenigsten verputzt, und an mehreren Straßenecken sind große, gespenstische,trichterförmige Lautsprecher angebracht. Eine Frau geht mit einem ständig grunzende Laute ausstoßenden behinderten Kind über den kleinen, überschaubauren Markt, das eine orangefarbene Kaki mit aufgeplatzter Haut vor seinen Füßen herstößt, schließlich draufspringt und sie zerquetscht, so daß ein Teil an seinen Fußsohlen kleben bleibt und die mürrisch gewordene Mutter das Kind weiter, durch den Markt zieht. Ein älterer Mann führt an der Hand einen gleichaltrigen, blinden Mann am Verkaufsstand der einzigen Gemüsehändlerin vorbei, die noch erdigen Salat, drei Bündel ebenfalls noch erdige Möhren und mehrere Büschel Petersilie und Maggikraut anbietet.
     In der Église Lagrasse, wo ich mich in einen korbgeflochtenen Stuhl setze, wieder "Gestern unterwegs" von Peter Handke aufschlage - "Schreiber, Steinmetz des Atems" -, höre ich laute Orgelmusik mit tiefem, dämonischem, mich an die Gänsehaut meiner Kindheit erinnernden Klang. Obwohl sich im Weihwasserbecken, das aus rötlich-weißem Marmor besteht, kein Tropfen Weihwasser befindet - es ist weiß ausgetrocknet wie ein Flußbett -, berührt eine Frau die Kalkreste der großen, bottichartigen Muschel und macht ein Kreuzzeichen. Auf die abgesplitterten Kalkreste schauend, sah ich meine an der alten, versenkbaren Singer-Nähmaschine mit dem gußeisernen Gestell und dem Fußpedal sitzende, gerade einen Zwirnfaden zwischen den Lippen haltende Mutter vor mir, wie sie, als ich, mit dem angeknabberten Bleistift in der linken Hand - meine Lippen schmeckten nach Blei -, meinen Kopf hob, die befeuchtete Spitze des Zwirnfadens in die Höhe hielt und begutachtete. "Seppl", sagte sie zu mir, "bring mir eine Flasche Weihwasser aus der Kirche, sie ist schon wieder leer! Und nimm den Bleistift in die Schöne Hand!" Nach der nächsten Frühmesse füllte ich in der Sakristei aus einem Kupferkessel - der kleine kupferne Wasserhahn hatte die Form eines Kruzifixes - die Glasflasche mit Weihwasser und lief mit meinem roten, schlendernden Ministrantenmantel den senkrechten Balken des kreuzförmig gebauten Dorfes hinauf und brachte ihr das geweihte, schon schal schmeckende Brunnenwasser, ehe ich wieder über die Dorfstraße hinunterlief, auf dem Friedhof an den verwahrlosten Kindergräbern vorbei, die schwere, ranzende Eisentür der Sakristei öffnete und mein Chorkleid in den schwarzen Kleiderkasten der Ministranten hängte, über die vielen halbleeren kleinen Schachteln mit den noch ungeweihten Hostien. An der Wand eines Nebenaltars in der Église, in Lagrasse, hängt ein großes schwarzes Kreuz mit einer sich zusammenkauernden Jesusgestalt mit offenem Mund, der die Zähne ausgebrochen wurden. Das runde Loch für den Kreuzigungsnagel im Fuß ist viel größer als der Kopf des Nagels, verloren und traurig schaut der Nagel aus der Fußwunde. Die Eingangstür des Beichtstuhles, die von hölzernen, wurmstichigen Weintraubenornamenten umrahmt ist, befindet sich in der Mitte des braunen Sündenkastens. Sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite des Beichtstuhls können sich die Beichtenden niederknien und ihre Sünden durch die Löcher eines hölzernen Kruzifixes flüstern, und der Priester muß nur den Kopf verdrehen, um sich dem nächsten Beichtenden zuwenden zu können. Wenn ich in der Kameringer Kirche als Kind vor dem Beichtstuhl kniete und nichts zu sagen wußte, keine Sünden aufzählen konnte,wurden mir vom Pfarrer Franz Reinthaler zu meiner Erlösung die Sünden eingetrichtert: "Du hast gestohlen?" - "Ja!" - "Du hast gelogen?" - "Ja!" - "Du hast Vater und Mutter nicht geehrt?" - "Ja!" - "Du hast geflucht?" - "Ja!" - "Und unkeusche Gedanken?" - "Ja!"

zu Teil 2