Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.10.2004. In der Zeit erklärt Bruce Nauman, wie man zum großen Künstler wird: Abwarten und Kaffee trinken. Die FR prangert antisemitische Tendenzen beim arabischen Buchmessenschwerpunkt an. Die NZZ führt uns in die Welt des Zouk. Aber Ereignis des Tages ist Oskar Roehlers neuer Film "Agnes und seine Brüder", der allenthalben gefeiert wird.

Zeit, 14.10.2004

Hanno Rauterberg führt ein schönes und hoch seltenes Gespräch mit dem Künstler Bruce Nauman, der jedem, der es wissen will, ganz genau erklärt, wie man ein großer Künstler wird: "Wissen Sie, als ich mit der Kunstschule fertig war, hatte ich mir fest vorgenommen, nun ein Künstler zu sein. Doch ich wusste nicht, wie. Und je mehr ich versuchte, es herauszufinden, desto aussichtsloser wurde die Sache. Das Atelier war eigentlich leer, weil ich mir kaum Material leisten konnte. Vor allem habe ich damals Kaffee getrunken, zwischendurch habe ich mich immer wieder gefragt, was ich machen sollte."

Weitere Artikel: Im Aufmacher werden Reaktionen auf den Tod Jacques Derridas gesammelt. Richard Rorty etwa prophezeit: "Heute lesen wir die Schriften von Hume, Kant und Hegel, als bildeten sie eine dialektische Abfolge. Genauso wird es mit Nietzsche, Heidegger und Derrida geschehen." Iris Radisch reagiert recht misslaunig auf den Nobelpreis für Elfriede Jelinek ("Ihre Bücher sind leer. Und wollen es sein. Leer an Erfahrung., leer an Gefühlen, leer an Poesie"). Thomas Groß besucht Moslems in den USA vor den Wahlen, die sich nun alle als Opfer erhöhter Aufmerksamkeit fühlen. Katja Nicodemus singt eine Hymne auf Oskar Roehlers neuen Film "Agnes und seine Brüder" und hier besonders auf Katja Riemann, "die in ihrer Chromküche wie eine brennende Dynamitstange umherläuft".

Besprochen werden außerdem Jacques Offenbachs Operette "Die Großherzogin von Gerolstein" in Paris und zwei Inszenierungen von Stücken Theresia Walsers in Stuttgart.

Aufmacher des Literaturteils ist - exklusiv! - Michael Naumanns Laudatio auf Peter Esterhazy. Und Judy Gerlach sah den Dialog der Kulturen auf der Buchmesse eher als Dialog der Araber unter sich.

Im Aufmacher schimpft Jens Jessen auf die öffentlich-rechtlichen Sender, die sich über eine zu geringe Gebührenerhöhung beschweren, indem sie mit Abschaffung von Sinfonie-Orchestern und Rückzug aus "kulturellen Engagements" (so nennt das Fritz Pleitgen) drohen: "Keine der ARD-Anstalten hat, wohl gemerkt, mit dem Ende von Unterhaltungsshows oder teuren Sportübertragungen gedroht".

Im Leben unterhält sich Jürgen von Rutenberg mit Tom Hanks unter anderem über den amerikanischen Wahlkampf. Und im Dossier beschreibt Johannes Voswinkel "Das verrohte Land" Russland, in dem die Gewalt immer mehr um sich greift.

TAZ, 14.10.2004

Katrin Bettina Müller kommentiert die Entscheidung des Berliner Kultursenators Thomas Flierl, den Schriftsteller Christof Hein als neuen Intendanten des Deutschen Theaters einzusetzen: "... das Bild des zurückhaltenden Intellektuellen entspricht so wenig der Hoffnung auf einen Intendanten, der Bewegung in das Ritual von Feindbildern bringen könnte, mit denen sich zum Beispiel Castorf von der Volksbühne und Peymann vom Berliner Ensemble angreifen und in ihren Rollen bestätigen. Er ist kein Herausforderer, der auch den anderen ein neues Nachdenken über ihre Funktion nahe legen würde."

Weiteres: Claudia Lenssen denkt darüber nach, warum man im Film so selten Bilder über die Realität der industriellen Brotproduktion sieht. Besprochen werden Oskar Roehlers neuer Film "Agnes und seine Brüder", der Animationsfilm "Shark Tale" ("Große Haie - Kleine Fische") , Claude Nuridsanys und Marie Perennous Insektendokumentation "Genesis" und eine Retrospektive mit Filmen von Tanaka Kinuyo im Rahmen der Kölner Feminale.

Schließlich Tom.

FR, 14.10.2004

Jochen Müller, Leiter des Berliner Büros des Middle East Media Research Institute, geht in einem Gespräch mit Thomas Medicus scharf mit dem arabischen Länderschwerpunkt der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ins Gericht. Nicht nur, dass Bücher ausgestellt waren, die "erkennbar an Titeln, Umschlägen oder Vorworten antisemitisch waren". Auch einige Personen hätte man sich vielleicht etwas genauer ansehen sollen. Al-Salmawi, Chefredakteur von Al-Ahram Hebdo, der im Beisein des Bundeskanzlers die Grußworte von Magib Nachfus vorlas, "hat offen Holocaust-Leugner wie Roger Garaudy und David Irving verteidigt. Er hat zum Beispiel in einem Artikel mit der Überschrift 'Suche den Juden' behauptet, zur Lewinsky-Affäre sei es in dem Moment gekommen, als Bill Clinton eine israelkritische Haltung eingenommen habe." Oder "Salim Al-'Awa. Er hat während der Messe eine Podiumsdiskussion im Rahmen des Veranstaltungsprogrammes der Arabischen Liga mit dem Titel 'Arabisch-Islamische Kultur und die Idee des Fortschritts' moderiert. Al-'Awa ruft in seinen Artikeln dazu auf, in den Medien sowie dem Erziehungswesen der arabischen Gesellschaften den Hass auf Israel zu fördern. Darüber hinaus tritt er für die atomare Bewaffnung der arabischen Länder ein und ruft zum Atomschlag gegen Israel auf." Statt sich mit den Ideologien der arabischen Welt auseinanderzusetzen, hat die Buchmesse es zugelassen, dass ein "überwiegend unkritisches Abbild der in der arabischen Öffentlichkeit gängigen stereotypen Diskurse" präsentiert wurde, meint Müller.

Weitere Artikel: Peter Iden begutachtet in Mailand Anselm Kiefers 27 Meter hohe 'Himmlische Paläste': "Gebilde sind das, deren Ästhetik mehr eine des Schreckens als der erlösenden Befreiung von den Zwängen und Leiden des Irdischen ist." Und Julian Nida-Rümelin schreibt über den Willen als Phänomen zwischen Philosophie und Neurowissenschaft.

Besprochen werden Oskar Roehlers Film "Agnes und seine Brüder", E. Elias Mehriges Thriller "Suspect Zero" mit Ben Kingsley, Danny Leiners Teeniekomödie "Harold and Kumar", der Animationsfilm "Shark Tale" ("Große Haie - Kleine Fische"), ein Status-Quo-Konzert in Offenbach, Jacques Offenbachs Operette "La Duchesse de Gerolstein" im Pariser Theatre du Chatelet, eine Werkschau des Schweizer Architekturbüros Diener & Diener in der Münchner Pinakothek der Moderne und ein Konzert des Jazz-Trios "Medeski, Martin and Wood" in Mannheim.

SZ, 14.10.2004

"Die unwürdigen Szenarien, in denen sich Bürgermeister und Betriebsräte wie vor Angst schlotternde Schulkinder am Zeugnistag fühlen müssen, werden sich einprägen", schreibt Gerhard Matzig angesichts der drohenden Schließung von Karstadt-Kaufhäuser, die ihn zu weitreichenderen Überlegungen inspiriert hat. "Die Städte sind - im Blick mancher Strategen - schon längst zu aufkündbaren Miet-Optionen degradiert worden. Groteskerweise dürfen sich die Unternehmen aber gleichwohl, ja, wie nie zuvor, aus dem nur 'vor Ort' auffindbaren Fundus geografisch-kultureller Zuschreibungen bedienen (...) Früher waren sich Städte und Unternehmen, Gemeinden und Unternehmer in besonderer Weise zugetan. Häufig hat sich nur das eine entwickelt, weil sich auch das andere entwickeln durfte. Solidität und Wachstum, Innovation und Blüte waren gemeinsame Bedingungen und gemeinsame Ziele. Davon künden noch so angenehm bieder erscheinende Firmen-Schilder wie 'in München seit 1894'. Das gehört der Vergangenheit an."

Weitere Artikel: Christine Dössel erläutert uns die Gretchenfrage der neuen Theatersaison: "Wie hältst Du's mit der Religion?" Jörg Häntzschel berichtet von der letzten Entscheidung im Kampf um die Neugestaltung von Ground Zero: Frank O. Gehry und das norwegische Büro Snohetta werden das neue Kulturzentrum bauen. Sonja Zekri nennt neue Stimmen im Anti-Bush-Chor: amerikanischeWissenschaftler, Veteranen und Rockstars. Der Herdecker Philosoph Jürgen Werner warnt vor der Beschneidung der Hochschulautonomie im Allgemeinen und speziell der Geisteswissenschaften, die er durch Pläne des Hamburger Kultursenstors, die Universitäten Hamburg und Kiel zur Zusammenarbeit zu verpflichten, gefährdet sieht.

Andrian Kreye ist enttäuscht, dass der amerikanische Supreme Court es abgelehnt hat, das Urteil eines Revisionsgerichtes zur Jagd auf die Nutzer von Internettauschbörsen zu prüfen. Renate Klett berichtet von den Theaterfestivals Pilsen und Nitra, die einmal die wichtigsten Theaterfestivals der Tschechoslowakei gewesen sind und heute, in zwei Ländern gelegen, so unterschiedlich sind, wie Kunstfestspiele nur sein können. Tom Hanks gibt im Interview Auskunft zu seinem Film "Terminal". Anke Sterneborg porträtiert die Filmschauspieler Ben Stiller und Vince Vaughn und hat außerdem die Dreharbeiten zu Dominik Grafs neuem Film über die DDR vor dem Mauerbau beobachtet. "Der rote Kakadu" heißt er.

Besprochen werden Lutz Hübners Urlaubsalptraumstück "Hotel Paraiso" in der Inszenierung von Barbara Bürk am Staatstheater Hannover, Achim Freyers Beckett-Abend "FR3Y3R3" in der Bonner Bundeskunsthalle, eine David- Claerbout-Ausstellung im Münchner Lenbachhaus, der Animationsfilm "Shark Tale", die Ausstellung "Phonorama" im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Edward Elgars Violinkonzert mit der 21-jährigen Geigerin Julia Fischer als Solistin in München ("Julia Fischers Spiel war wie ein Seiltanz über den Untiefen des Stücks... Hiermit reiht sich Fischer unverwechselbar in die Reihe der ganz großen Violinisten/innen der Gegenwart", schwärmt Kritiker Reinhard Schulz) und Bücher, darunter Elias Cannettis posthum erschienenes Buch "Über die Dichter" und das Larry-Sultan-Fotobuch "The Valley" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 14.10.2004

Frank Wittmann führt uns in die Welt des Zouk, jener auf Guadeloupe und Martinique entstandenen Musik, zu der offenbar bereits die halbe Welt tanzt - nur nicht der Westen: "Als Erfinder des Zouk und als kommerziell erfolgreichste Gruppe gilt Kassav'. Ihren Mitgliedern ging es darum, karibische Stile wie Biguine, Cadence und Compas so zu mischen, dass sie trotz den komplexen Rhythmen für ein internationales Publikum zugänglich wurden... In Brasilien rücken Sängerinnen und Tänzerinnen wie Anna Torres den Zouk in die Nähe des Lambada. Auf der anderen Seite des Atlantiks wird die sinnliche Seite des Zouk betont. Unter dem Namen Cabo Love hat der Zouk auf den kapverdischen Inseln eine zweite Heimat gefunden. Wer beispielsweise eine Diskothek auf der Insel Santiago besucht, die zur Gruppe der Inseln unter dem Wind gehört, wartet vergeblich auf Pop oder Salsa. Hier wird stundenlang eng und sinnlich zur Musik der lokalen Stars wie Cely Dias, Philip Monteiro oder Gil Semedo getanzt.

Weiteres: Angela Schader berichtet von einem "arabisch-deutschen Gespräch", zu dem die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung im Anschluss an die Frankfurter Buchmesse geladen hatte. George Waser erzählt die Geschichte von Vermeers Bild "Das Mädchen mit der Perle", dem nun zugleich ein Roman und ein Film gewidmet sind.

In der NZZ Global amüsiert sich Andrea Köhler über die amerikanische Buchbranche, die recht konsterniert auf Elfriede Jelinek reagiert. Knut Henkel feiert außerdem das "Debütalbum" des Youngsters des Buena Vista Sozial Club - des nur 71-jährigen Trompeters Manuel "Guajiro" Mirabal.

Besprochen werden Philippe Bessons Roman "Eine italienische Liebe" und ein aufwändiger Reprint von William Hamiltons legendärer Vasensammlung (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 14.10.2004

Ereignis des Tages ist ganz eindeutig Oskar Roehlers neuer Film "Agnes und seine Brüder", ein "Bastard von einem Film: Familiendrama und Komödie, Melodram und Farce, nichts davon richtig und doch irgendwie alles gleichzeitig", schreibt Michael Althen und feiert den "Furor, der sich von den ewigen Diskussionen um den deutschen Film auf keinen Fall die Laune verderben lassen und sich aus lauter Versatzstücken fröhlich etwas eigenes zusammenbasteln will. So gesehen ist Oskar Roehler Frankenstein - und dieser Film sein Monster."

Weitere Artikel: FAZ-Mitarbeiter aus der ganzen Welt sammeln Reaktionen zum Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek. Jürg Altwegg würdigt Jacques Chirac als jenen französischen Politiker, der nicht nur eine historische Bitte um Pardon für die Kollaboration aussprach, sondern jetzt auch in Zeremonien in Toulon erstmals wirklich den Beitrag von Soldaten der ehemaligen Kolonien zur Befreiung Frankreichs anerkannte. Heinrich Wefing beklagt in pathetisch bewegten Worten die Mentalität deutscher Kulturpolitiker, die nicht geschlossen herbeieilen, um die Anna-Amalia-Bibliothek zu restaurieren (warum lanciert diese Zeitung, die doch der Wirtschaft nahe steht, nicht mal einen Appell an die beiden Aldi-Brüder?) Brita Sachs freut sich über die Wiedereröffnung einer bayerischen Schatz- und Wunderkammer auf der Burg Trausnitz. "Rh" fragt sich, warum eine hochrangig besetzte Tagung über den Beutekunststreit zwischen Russland und Deutschland, die in Weimar geplant war, in letzter Minute abgesagt wurde. Paul Ingendaay schreibt zum Tod des Anglisten Helmut Winter. Joseph Hanimann untersucht in seinen "lexikalischen Grenzgängen" zwischen Deutschland und Frankreich den Ausdruck "la berezina", der in Frankreich als Metapher für Niederlagen aller Art steht. Ulrich Olshausen gratuliert dem Irish Folk Festival, das zur Zeit durch Deutschlands Städte tourt, zum Dreißigsten.

Auf der Filmseite sammelt Andreas Kilb Impressionen vom Filmfestival in Tunis. Friedemann Beyer erinnert daran, dass Fritz Langs "Frau im Mond" vor 75 Jahren Premiere feierte. Und Peter Körte glossiert Bill Gates' Visionen von der Vernetzung aller Medienangebote unter dem Zeichen von Windows.

Auf der Medienseite meldet Michael Hanfeld, dass zwei Premiere-Redakteure entlassen wurden, weil sie zuließen, dass in einer "Big Brother"-Übertragung Judenwitze erzählt wurden. Hanfeld meldet auch, dass Springer in Ungarn eine neue Zeitung gründet, Reggel.

Auf der letzten Seite studiert Frank-Rutger Hausmann das Gästebuch des Schweizer Bücherfreunds William Matheson. Patrick Bahners fragt sich, ob nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig Nonnen im Habit nun Schulunterricht geben dürfen oder nicht. Und Lorenz Jäger zitiert Äußerungen der frisch gebackenen Friedensnobelträgerin Wangari Maathai, die im kenianischen Standard behauptete, dass Aids durch ein vom Westen entwickelten biologischen Kampfstoff entstanden sei.

Besprochen wird Debussys "Pelleas et Melisande" an der Deutschen Oper Berlin.