Vorgeblättert

Bill James: Tote schreien nicht, Teil 2

In der Ecke hatte sie einen eigenen Tisch, an dem sie immer saß und einen Rum and Black vor sich stehen hatte, zum Zeichen, dass das Geschäft geöffnet war - so wie Priester vor dem Beichtstuhl das Licht anknipsen. Die Geschäftsleitung hielt diesen Tisch für sie frei - egal, wie voll der Laden war -, denn Eleri war hier als Markenzeichen anerkannt und brachte viele Esser und wohlhabende Trinker herein. Das Ding war, dass einige ihrer Kunden tatsächlich dieses berühmte College, Eton, besucht hatten, oder es behaupteten, und die typische Krawatte trugen. Sie waren mit diesem ?Boating Song? groß geworden, so wie Keith mit ?Tom, Tom, the Piper?s Son? und ?Eskimo Nell? groß geworden war.
Manchmal ging Eleri nach der Arbeit zu sich nach Hause, manchmal zu einem Freund. Die Männer mussten sehr verständnisvoll sein, wenn es ihnen nichts ausmachte, dass sie um drei oder vier in der Früh auftauchte und mit von Rum and Black schwerem Atem zu ihnen ins Bett stieg. Vine hatte ihre Gewohnheiten studiert. Das machte er bei jedem, mit dem er geschäftlich zu tun hatte. Solche Informationen konnten sich als entscheidend erweisen. Wenn Eleri kam oder ging, nahm sie ein Taxi. Auf dem Hafengelände gab es auf halbem Weg zwischen dem Eton und Magenta, der neuen Disco, einen Nachttaxi-Stand. Wenn Eleri fertig war, ging sie zu Fuß zum Taxi. Das führte sie zwischen einem früheren Zollhaus und den ehemaligen Gebäuden der Seemannsgewerkschaft hindurch. Inzwischen waren beide mit Brettern vernagelt und besaßen kein Dach mehr, ein trauriger Anblick, fand Keith, aber einige der Bretter waren vom Wind oder von Vandalen abgerissen worden, und da konnte er auf sie warten. Heute Nacht war er bewaffnet. In dem Schulterhalfter, das er selbst angefertigt hatte, steckte ein .38er-Revolver. In seiner Tasche befand sich ein Schalldämpfer, der unmittelbar vor dem Schuss aufgesetzt werden musste. Wenn er sie in eines der Gebäude ziehen konnte, würde er die Leiche danach an einen anderen Ort verfrachten - sie in ein anderes verlassenes Gebäude oder eine Werkstatt im Hafengelände bringen. Es wäre ein Fehler, Eleri so nahe beim Eton liegen zu lassen, nachdem er dabei gesehen worden war, als er sich mit ihr unterhalten hatte. Was diese Details der Entsorgung betraf, so hätte er gern Detective Chief Superintendent Colin Harpur um Rat gebeten, einen Bullen, der von Vines Firma üppige Vorschüsse bezog. Col würde sich in solchen Angelegenheiten bestens auskennen, wenn auch natürlich von der anderen Seite her. Um bei Harpur in der Arthur Street vorbeizuschauen, war allerdings keine Zeit. Und wenn Vine um diese Zeit anrief, würde wahrscheinlich niemand abnehmen, da Harpur mit dieser kleinen Studentin, die seit dem grässlichen Tod seiner Frau halb dort wohnte, im Bett liegen würde, die Ohren schalldicht zwischen ihren Schenkeln eingeklemmt.
Vine ging die Gangway des Eton hinab, schlenderte hinüber zu dem alten Zollhaus und suchte sich eine passende Nische in einem der Eingänge, die keine Türen hatten oder nicht verbarrikadiert waren. Er horchte. Obwohl diese Orte ab und an von Säufern und/_oder Nutten benutzt wurden, hörte er kein Flaschenklirren oder Schnarchen oder Stöhnen. Vine löste den Knopf am Schulterhalfter, holte den Revolver aber noch nicht heraus. Mit aufgesetztem Schalldämpfer war sie zu groß für das Halfter oder die Hosentasche, und er wollte sie beim Warten nicht in der Hand halten. Das würde doch verflucht bedrohlich wirken. Er fand es komisch, so auf der Lauer zu liegen, hier in den Überresten eines Gebäudes, das jahrelang im Dienst von Recht und Ordnung gestanden hatte, darauf zu warten, jemanden umzulegen. Wenn man sie nur zu hören wusste, dann hatte dieser alte Kasten wahrscheinlich jede Menge wunderbarer historischer Geschichten zu erzählen. Jemand sollte einmal ein Buch über das Zollhaus schreiben.
Kurz vor 3 Uhr früh sah er Eleri kommen, in ihrem sehr beschwingten, geschäftsmäßigen Schritt, der für sechzig so hinreißend war. Bei seinem Besuch hatte er ihre Beine nicht verletzt. Er berührte die offene Klappe seines Halfters; und dann, als sie vorbeikam, streckte er den Arm aus und packte Eleri an Kinn und Mund, damit sie nicht schreien konnte. Er zerrte sie in den Eingang. Es war ganz einfach. Das hatte er gewusst, sie war ja so leicht. Möglicherweise waren ihr ihre neuen Zähne immer noch fremd, so dass sie ihn nicht einmal biss. "Ich bin verdammt enttäuscht von dir, Eleri", sagte er, den Mund an ihrem Ohr.

                                                   Zwei

Zur Sicherheit von Polizeibeamten, die als verdeckte Ermittler in kriminellen Vereinigungen arbeiteten, war eine ausführliche Liste kluger Regeln aufgestellt worden, und Harpur verstieß gegen alle. Als sich daher das Gefühl bei ihm einstellte, er sei zum Ziel geworden, stellte sich auch das Gefühl ein, es verdient zu haben. Jeder Kollege hätte ihm das Gleiche gesagt. Aber das konnte keiner, denn keiner wusste von seiner Lage. Vor allem anderen wurden verdeckte Ermittler angewiesen, insgeheim ständigen Kontakt mit jemandem zu halten, der nötigenfalls für rasche Unterstützung sorgen konnte. Dies galt, nachdem es zu einer oder zwei Tragödien gekommen war. Das heißt, einem oder zwei Todesfällen. Harpur hielt zu niemandem Kontakt. Wie auch? Keiner seiner Vorgesetzten wusste, was er machte. Dies schloss auch Assistant Chief Constable Desmond Iles ein, den Vorgesetzten, der die schnellste und effektivste Rettung hätte in die Wege leiten können. Das heißt natürlich, sofern es Iles in den Kram gepasst hätte, ihn zu retten.
Als Harpur zum ersten Mal auf den Gedanken gekommen war, er könne beschattet werden, war er mit seinen beiden Töchtern zusammen gewesen. Leute, die einem gelegentlich Angst einjagen wollten, gingen so vor: Sie wiesen nicht nur darauf hin, dass es einen selbst treffen konnte, sondern dass man auch die Angehörigen kannte und dass es diese ebenfalls treffen konnte. In gewisser Weise konnte das gut sein, da es bedeutete, dass nicht mehr als Einschüchterungen und Drohungen beabsichtigt waren. Tu einfach, was wir wollen, und dann geschieht dir und den Deinen nichts.
Aber vielleicht war es ja reiner Dusel gewesen, dass dieser hübsch gepflegte Typ aufgetaucht war, als die Kinder dabei waren. Seit dem Tod seiner Frau war Colin Harpur allein erziehend und fühlte sich verpflichtet, mit seinen Töchtern das zu verbringen, was im Fachjargon ?quality time? hieß. Das stank ihnen ganz offensichtlich, aber es hieß, dass jeder, der sich in letzter Zeit an Harpur wandte - und sei es auch nur an Harpur alleine -, diesen mit ziemlicher Sicherheit in Gesellschaft seiner beiden Töchter antraf.
Jetzt empfand er so etwas wie ein süßes, mütterliches Bedürfnis, sich zwischen die Kinder und diesen Fremden zu stellen, wie eine Löwin oder eine Ratte, die ihre Brut beschützt. Harpur widerstand der Regung. Eine solche rasche Schutzbewegung würde verraten, dass er wusste, was hier im Gange war. Es war klüger, vorläufig zumindest, scheinbar ahnungslos zu bleiben. Er schaute den Mädchen in die Gesichter, um zu sehen, ob sie etwas gemerkt hatten. Seine Töchter waren schlau. Wenngleich sie es natürlich verabscheuten, einen Bullen in der Familie zu haben, waren sie auch um ihn besorgt und sensibel für Gefahren im Umkreis von Harpur. Gefahren gegenüber hielten sie ihn für blind und blasiert. Das war er nicht, ließ aber zu, dass Hazel und Jill es glaubten. Das hielt sie wachsam und sogar fürsorglich und verschaffte ihm zwei zusätzliche junge Augenpaare, zwei junge Schnüffelnasen und ein paar gute, junge Antennen. Aber eben hatten sie offenbar nichts Beunruhigendes bemerkt. Auf diesen Späher, diesen Verfolger, sprachen sie möglicherweise nicht an. Er besaß den wissenden Blick und den harten Schwung Londoner Elitegangster, und die entsprechende Garderobe.
Die elegante Ökonomie seiner Bewegungen jedoch war das Erste, was Harpur aufgefallen war. Er hatte eine begnadete Fassadenklettererin in Untersuchungshaft so in ihrer Zelle auf und ab tigern gesehen. Er hatte einen genialen Geldtransporträuber auf diese Weise direkt von der Anklagebank zur Arbeit huschen sehen, als sein Fall wegen eines Verfahrensfehlers, wieder einmal, eingestellt worden war. Dieser Typ heute war urplötzlich und doch ganz geschmeidig zwischen langen, sanft sich bauschenden, cremefarbenen Spitzengardinen aufgetaucht. Eine halbe Sekunde lang hatte er dagestanden, scheinbar ohne Harpur und die Kinder zu beachten, aber Harpur und die Kinder durchaus beachtend, und war dann nach links abgegangen, wobei er eine Hand leicht an einer Gardine hatte hinabgleiten lassen. Die Gebärde war ganz flüchtig gewesen und trotzdem ohne Hast und voller Schönheit. So manchen hätte sie zu Tränen gerührt. Wäre er lediglich eine Frau gewesen, hätte einen die Eleganz des Anblicks im Geiste vielleicht in einen gut gemachten Fernsehwerbespot für eine kostspielige Gesichtsmaske versetzt. Wäre er eine Frau gewesen, hätte er allerdings diesen wunderschönen, zweifellos maßgeschneiderten, grauen Anzug nicht getragen, der so herrlich locker und wie angegossen saß, und doch nicht herrlich locker und angegossen genug, um die leichte Beule eines Schulterhalfters an dessen idealem Kuschelplatz genau über der linken Brustwarze zu verbergen.
"Wie wär?s damit?", fragte Hazel.
"Verrückt", sagte Jill.
Harpur und die Mädchen befanden sich in der Gardinenabteilung bei Debenham?s, um etwas auszusuchen, das zu der neuen Einrichtung in ihrem Wohnzimmer passen würde: Seit Megans Tod hatte sich viel verändert. Der Verfolger hatte die Abteilung durch den Eingang mit den Spitzen betreten, zwischen denen er so großartig zur Geltung gekommen war - viel besser als auf jedem Verbrecherfoto in irgendeiner Kartei. Eine fröhliche Sommerbrise von zwei halb geöffneten Fenstern war in bezaubernd trägen Wirbeln in die leichten Stoffe gefahren, und das Material schien sich huldigend ausgestreckt zu haben, als sehne es sich danach, einen solch wundervollen Anzug und seinen würdigen Träger liebevoll zu umfangen. Harpur seinerseits sehnte sich danach, den Arm auszustrecken, um die Waffe an sich zu nehmen und dann die Taschen des wundervollen Anzugs nach Munition, Ausweis und allem Sonstigen zu durchsuchen. Wenn man selbst unbewaffnet war, wie es für britische Polizisten, die mit ihren Töchtern einkaufen gingen, natürlich Vorschrift war, wurde man bei Schulterhalftern etwas nervös.
Hazel hielt das gleiche Muster noch einmal hoch: "Ich glaube, das würde mit der übrigen Farbgestaltung wundervoll harmonieren", sagte sie.
"Harmonieren! Farbgestaltung! Mann oh Mann", antwortete Jill.
"Was meinst du, Dad? Alles, was die kann, ist doch nur meckern, die kleine Zicke."
Harpur konnte ihn nicht mehr sehen. Wenn er zurückkam, würde er wahrscheinlich einen anderen, weniger dramatischen Weg in die Abteilung wählen. Es gab deren zwei. Er beobachtete beide, warf aber auch einen Blick auf das Muster. "Hübsch. Wieso gefällt es dir nicht, Jill? Welches hättest du denn lieber?"
"Ach, gar keins", sagte Hazel. "Kein einziger konstruktiver Beitrag. Die kann doch nur kritisieren. Total kindisch."

Teil 3
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