Mord und Ratschlag

Fremdes Italien

Die Krimikolumne. Von Michael Schweizer
16.10.2002. Die Krimikolumne. Heute: Magdalen Nabbs Florentiner Maresciallo Guarnaccia wird theoriefähiger. Aber auch in "Nachtblüten", ein Krimi, der die italienischen Rassegesetze von 1938 aufs Korn nimmt, grämt sich der Mann noch über seinen langsamen Verstand.
Maresciallo Salvatore Guarnaccia hat es in Magdalen Nabbs Roman "Nachtblüten" mit drei Fällen auf einmal zu tun. Als Erstes gelingt es ihm, die junge albanische Prostituierte Dori zu einer Aussage gegen ihren Zuhälter Ilir zu bewegen, so dass dieser verurteilt werden kann. Der Maresciallo weiß aber, dass damit bestenfalls Dori gerettet ist. Andere Albaner werden Ilirs sonstige Geschäfte übernehmen, solange er im Gefängnis sitzt. Zweitens erscheint in Guarnaccias Carabinieri-Wache im Florentiner Pitti-Palast die etwa sechzigjährige Sara Hirsch. Sie wird bedroht und glaubt, jemand sei heimlich in ihrer Wohnung gewesen. Der Maresciallo verspricht, sie bald zu besuchen, muss sich aber, dritter Fall, um Sir Christopher Wrothesly kümmern, in dessen riesigem Anwesen oberhalb der Piazzale Michelangelo etwas aus der Kunstsammlung gestohlen worden ist. Wrothesly ist etwa so alt wie Hirsch, krank und einsam, schwul und von falschen Freunden umgeben.

Magdalen Nabb zeigt in ihren Guarnaccia-Romanen, "Nachtblüten" ist der zwölfte, in und um Florenz herum ein Italien, von dem zu sagen, Touristen bekämen es nicht zu sehen, teilweise untertrieben wäre. Die 1947 geborene, seit 1975 in Florenz lebende Engländerin recherchiert sich in Sonderwelten hinein, die auch vielen Italienern verschlossen bleiben, nicht unbedingt räumlich, aber sozial und atmosphärisch. Das gilt für eine kleine Töpferstadt ("Tod in Florenz", 1987) und für eine reiche Familie, die seit der Renaissance immer im gleichen Palast wohnt ("Tod im Palazzo", 1995); es trifft für die Szene der Juweliere ("Tod eines Holländers", 1982) und der Modedesigner zu ("Alta moda", 1999) und ganz besonders für die Sarden, die in den Abruzzen, von der Polizei kaum zu finden, die Opfer ihrer professionellen Entführungsindustrie verstecken ("Tod im Frühling", 1983). Mit "Das Ungeheuer von Florenz" (1996) gelang der Autorin etwas, das man für unwahrscheinlich gehalten hätte: eine Guarnaccia-Geschichte mit lauter fiktiven Carabinieri, die zugleich eine seriöse Dokumentation der acht Doppelmorde bildet, die mutmaßlich ein und derselbe Mann zwischen 1968 und 1985 in der Gegend von Florenz verübt hat. Gleich hinter den Plätzen, auf denen Einheimische und Touristen ihr Eis schlecken, beginnt ein interessantes, sehr fremdes Land. Vielleicht muss man Einwanderer sein, um seine Rätsel zu sehen.

Auch Guarnaccia kann sich jedes Milieu vertraut machen und fühlt sich doch oft als Fremder. Wie viele andere Sizilianer ist er in den Norden gegangen, weil er einen sicheren Arbeitsplatz wollte. Er ist Familienmensch, würde Teresa nie betrügen, wird immer ihre Pasta essen und sorgt sich jeden Tag um seine mittlerweile halbwüchsigen Söhne, deren Älterer den gleichen Vornamen trägt wie er. Leute, die anders leben, verachtet er nicht, hält sie aber für gefährdet. In Florenz gibt es davon viele.

Ein Maresciallo der Carabinieri, also der auch für das zivile Leben zuständigen Militärpolizei, ist, wie es in früheren Übersetzungen hieß, so ungefähr ein "Wachtmeister" und damit nicht einmal Unteroffizier. Guarnaccia traut sich die Aufstiegsprüfung nicht zu, obwohl er sie glorios bestehen würde. Er fremdelt vor dem Höheren. Einfachen Leuten seines Viertels ist der Maresciallo zu einer Vertrauensperson geworden, viele wollen, wenn sie Sorgen haben, nur mit ihm sprechen. Muss er aber unter Großbürgern und Adligen ermitteln, unter Homosexuellen, Kunstkennern und Damen, die ihn mit psychoanalytischen Scherzen über Handtaschen irritieren, dann kommt er sich dumm, langsam und noch übergewichtiger als sonst vor. Er weiß nicht, dass er ein Konkretheits- und Beobachtungsgenie ist, das alles, was es sieht, irgendwann versteht. Leitmotivisch von Buch zu Buch sind seine "großen, leicht vorstehenden Augen".

In "Nachtblüten" entdeckt er, dass seine drei Fälle in Wirklichkeit einer sind. Die von Sara Hirsch und Christopher Wrothesly haben mit den italienischen Rassegesetzen von 1938 zu tun, die zunächst als reine Propaganda gegenüber den Deutschen galten, wie überhaupt der Antisemitismus in Italien nicht verwurzelt war, so dass die Mussolini-Faschisten auch viele jüdische Anhänger hatten; dann aber wurden italienische und aus anderen Ländern geflohene Juden von Italienern in Vernichtungslager deportiert. Diese schmerzliche Wahrheit über sein Land ist nicht der einzige Grund, aus dem Guarnaccia in eine Krise gerät. Er glaubt, in allen drei Fällen versagt, Tod und schweres Leid nicht verhindert zu haben, obwohl er es gekonnt hätte. Am Ende geht es wenigstens einigen Kindern, die Furchtbares erlebt haben, besser.

Der Maresciallo trat erstmals 1981 auf ("Tod eines Engländers"). Magdalen Nabb muss sich seither überlegt haben, wie sie ihn altern lässt. Bisher tat sie das wie viele Autoren von Serienfiguren mit Hilfe äußerer Daten, zum Beispiel aus dem schulischen Fortkommen von Guarnaccias Söhnen, während dessen Persönlichkeit unverändert blieb. Jetzt aber hat sich auch seine geistige Ausstattung gewandelt: Er ist theoriefähiger geworden, redet ausführlich und auch abstrakt über Fragen der menschlichen Seele, über die er früher nicht einmal nachgedacht hätte. Nach wie vor grämt er sich jedoch über seinen schleppend arbeitenden Verstand. Das passt nicht immer zusammen, und auch gegen die Krimistruktur lässt sich Verschiedenes einwenden: Die Möglichkeit, dass ein Ermittler Entscheidendes durch eine nicht richtig geschlossene oder dünne Tür sieht oder hört, wird überstrapaziert - es geschieht dreimal. Wenn ferner jemand einmal nur mit Vornamen und dann immer nur beim Nachnamen genannt wird, so dass man mehrere hundert Seiten lang nicht weiß, dass von der gleichen Person die Rede ist, hat der Krimileser das schon zu oft erlebt. Sehr fällt das aber nicht ins Gewicht. "Nachtblüten" ist nicht Magdalen Nabbs bester Guarnaccia, aber allemal eine wohlschmeckende Einstiegsdroge.


Magdalen Nabb: "Nachtblüten". Roman. Aus dem Englischen von Christa E. Seibicke. Diogenes Verlag, Zürich 2002, 330 Seiten, gebunden, 19,90 Euro