Mord und Ratschlag

Showbiz für Studierte

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
09.05.2019. Kate Atkinsons Roman "Deckname Flamingo" tarnt sich als Parodie auf den Spionageroman, um seine Heldin bis zum Schluss vor der Gegenseite zu schützen. Liza Cody macht die Detektivin zur Autorin ihrer eigenen Biografie und besingt in ihrer "Ballade einer vergessenen Toten" die Heldinnen der Popmusik.
Cover: Deckname FlamingoKate Atkinson gehört zu den versiertesten Autorinnen des britischen Kriminalromans, kaum jemand spielt mit dem Genre so raffiniert, vergnüglich und abgründig. Mit ihrem Spionageroman "Deckname Flamingo" bekommt eine Meisterin der Tarnung ihren großen Auftritt. Das hellblaue Cover mit dem rosa Flamingo, der aufgekratzte Ton und die überschwänglichen Gesten hüllen eine bittere Geschichte in die harmlos erscheinende Form der Frauenliteratur.

Wie immer arbeitet Atkinson mit geschickt platzierten Informationen und vielen zeitlichen Sprüngen, die beim Lesen spielend nachzuverfolgen sind, aber die Nacherzählung zu einer heiklen Angelegenheit machen. "Deckname Flamingo" beginnt im Jahr 1981, in dem die sechzigjährige Julia Armstrong von einem Auto angefahren, schwer verletzt am Boden liegt. Waren es alte Feinde? Ihre Gedanken schwirren umher, sie denkt an die Jahre des Krieges, an England, an ihren Sohn, der in Mailand lebt. Sie nennt ihre Liebe zu ihm ein Wunder. Ob er sie auch liebt, erfahren wir nicht. Der Vater, ein italienischer Musiker, spielte keine Rolle in Julias Leben, das eher unglücklich verlaufen zu sein scheint. Die früh verstorbene Mutter, erfahren wir an anderer Stelle, war der einzige Mensch, der sie je geliebt hatte. Für eine Schmonzette wäre das eine mickrige Bilanz.

Zunächst führt die Geschichte zurück ins Jahr 1950. Julia arbeitet wie so viele ehemalige MI5-Agenten für die BBC, in der Mittagspause begegnet sie einem früheren Kollegen, dem legendären Godfrey Toby, der sich weigert, sie wiederzuerkennen. Ein anderer Mann scheint sie dagegen umso aufmerksamer zu beobachten. Julia bleibt als Person rätselhaft, sie ist klug, aber ein wenig unecht, fast unsympathisch. Sie pflegt ein etwas gespreiztes Faible fürs Mediterrane, isst al fresco oder wünscht sich ein déjeuner sur l'herbe. Mit ihren Kollegen geht sie ruppig bis boshaft um, nur ihrem Chef gegenüber macht sie es sich einfach: Ja ist für sie die viel einfachere Antwort als Nein. Und sie trägt die Perlenkette, die sie einer toten Frau abgenommen hat.

Der ominöse Mr. Toby hatte 1940 für den MI5 die "Operation Godfrey" geleitet: die Überwachung der Nazi-Sympathisanten, die sich in der Nordischen Liga, dem Right Club, der British Union of Fascists oder der Imperial Fascist League tummelten. Er selbst gab sich als deutscher Agent aus, während Julia im Nebenzimmer saß und endlose Abschriften von Treffen verfasste, bei denen die Nazi-Sympathisanten ihre Gehässigkeiten austauschten. Julias größte Bewunderung gilt jedoch ihrem Chef Peregrine Gibbons, dem Inbegriff des gelehrten Engländers. Der Tweed, die Verantwortung und all die Geheimnisse, die er trägt, verleihen ihm natürlich ungeheuren Sex-Appeal. Ideologische Irritation weiß der weltgewandte Gibbon mit einem Bonmot auszuräumen: "Das Markenzeichen eines guten Spions ist, dass man nicht weiß, auf welcher Seite er steht." Nur,  wer ist er: Ein Rochester oder ein Heathcliff?

Auch Julias Freundin Clarissa ist ein Prachtexemplar der snobistischen Geheimdienstwelt. Blass und elegant wie ein Schwan: "Papa ist ein Herzog". Julia hat sie bei der Ausbildung im ehemaligen Gefängnis von Wormwood Scrubs kennengelernt, sie trifft sie allerdings auch bei den vornehmen Soireen des Right Clubs. Denn Papa ist rechts und prodeutsch. "Wir haben Hitler getroffen. 1936 bei den Olympischen Spielen." Gemordet wird in diesen Zirkeln mit einem Halstuch von Hermès.

"Deckname Flamingo" ist keine Parodie auf den Spionageroman, er tarnt sich nur so. Es ist auf allen Ebenen ein Roman der Maskeraden und der Täuschungsmanöver. Atkinson hat ihm ein Zitat von Winston Churchill vorangestellt, das der Strategie der Verstellung Noblesse verleiht: "In Kriegszeiten ist die Wahrheit so kostbar, dass man immer mit einer Leibgarde aus Lügen schützen sollte." Momente der Aufrichtigkeit lassen sich in "Deckname Flamingo" an einer Hand abzählen, doch selbst sie bleiben mehrdeutig. Vordergründig erzählt Atkinson die durchaus witzige Geschichte einer naiven Sekretärin, die ihren schwulen Chef anhimmelt und immer dann auf Äußerlichkeiten ausweichen muss, wenn es politisch und moralisch brenzlig wird. Doch dahinter verbirgt sich eine Erzählung um Ideale, Wahrhaftigkeit und Landesverrat, deren ganze tragische Dimension Atkinson erst auf den letzten Seiten enthüllt. Sie trifft einen wie ein Schlag.

Kate Atkinson: Deckname Flamingo. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. Droemer Verlag, München 2019, 321 Seiten, 19,99 Euro (Bestellen).

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Cover: Ballade einer vergessenen TotenLiza Cody ist ebenfalls nicht nur eine fantastische Krimi-Autorin, sondern auch sehr innovativ. Mit ihren Romanen um die Detektivin Anna Lee oder die Catcherin Eva Wylie hat sie den feministischen Kriminalroman nach Britannien gebracht und mit "Gimme More" einen der besten Romane über das Musikgeschäft geschrieben. In der "Ballade einer vergessenen Toten" verbindet sie ihre Talente zu einer kriminalistisch-biografischen Ermittlung zum Leben und Sterben der Musikerin Elly Astoria, die wir uns in derselben Liga vorstellen müssen wie die großen Heroinen der achtziger und neunziger Jahre: Kate Bush, Joni Mitchell, Patti Smith, kd Lang.

Treibende Kraft der Untersuchung ist die nicht mehr ganz junge Amy, die von ihrem erfolgreichen Mann den Laufpass bekommen hat und nun beschließt, die Biografie der von ihr stets bewunderten Elly Astoria zu schreiben. Nicht mehr ausrangiertes Opfer eines Schriftstellers sein, sondern Autorin einer eigenen Biografie werden. Sie recherchiert die Geschichte dieser vergessenen Musikerin, die mit ihrer Power und ihrem Charisma ihrem - weiblichen - Publikum die Angst nahm: "Elly brüllt 'Rape' und 'Murder' mit solch gellender Kraft, dass die tanzenden Frauen es zurückschreien und laut lachen." Das Ende dieser unwahrscheinlichen Karriere ist so brutal wie voraussehbar: Mit nicht einmal achtzehn Jahren wurde Elly grauenvoll misshandelt, vergewaltigt und ermordet. Der Fall wurde nie aufgeklärt. "Das Schlimme an den Leuten vom Showbiz ist', sagt einer der ermittelnden Polizisten zwanzig Jahre später, 'dass sie einen Skandal mehr fürchten als einen Mord'."

Amy interviewt Lehrerinnen und Nachbarn von einst nach dem musikalischen Wunderkind, das zwar keine Noten lesen konnte, aber das absolute Gehör besaß und sich mit sieben Jahren das Klavierspielen beibrachte. Elly Astoria war reines Talent. Und die vernachlässigte Tochter einer Junkie-Mutter, die unaufhörlich behauptete, Elly sei die Tochter von Jimi Hendrix. Wahrscheinlicher ist, dass die Mutter von ihrem eigenen Vater missbraucht wurde und Elly die Tochter ihres Großvaters war.

Und natürlich befragt Amy die anderen Frauen der Band SisterHood, die Elly von der Straße holten und dann auf ihrem Kometenschweif in den Pophimmel düsten. Die mütterliche Briony mit ihrem verrückten Mann unterm Dach, die alle so großzügig in ihrer Wohnküche umsorgte. Die stets zu kurz gekommene Finn, die in ihrer einfachen Familie nie die Finesse gelernt hat, Neid und Eifersucht zu verbergen. Die erfolgreiche Ayisha, die sich perfekte Distanzierungstechniken für alle Lebenslagen angeeignet hat. Und die wunderschöne Maddie, die den Mut aufbringt, ihren Ehrgeiz mit allen Mitteln zu verfolgen: "Es ist der Heldenmut einer Rampensau, dachte Amy, aber immerhin ist es wahrer Heldenmut." Maddie weiß sich bei der Autorin zu revanchieren, die Wert darauf legt, "seriös" zu sein: "Seriös? Das ist doch bloß Showbiz für Studierte."

Cody gönnt all ihren Figuren eine gewisse Klasse. Oder zumindest fast. Manche sind auch nur erfolgreich, so wie Ellys Manager Tom Prank, der zusammen mit seiner neurotischen Zwillingsschwester Carol die Band und vor allem Elly ausnimmt wie eine Weihnachtsgans. Wenn er sieht, wie wild sie auf der Bühne ihr Honky-Tonk-Piano bearbeitet und den Konzertsaal zum Rasen bringt, strotzt er vor Selbstgerechtigkeit: "In dem Moment wurde ihm unerschütterlich klar, dass sie ihm etwas schuldig war. Immerhin hatte er sie entdeckt. Was wäre sie schon ohne ihn?" Tom weiß auch, dass er damit durchkommen wird: Den Leuten ist Glück wichtiger als Bildung und Geschäftssinn. Sie setzen nicht auf ehrliche Menschen, sondern auf Siegertypen.

Aber hätte er auch getötet? Er hasste Elly nicht, dafür brachte sie ihm viel zu viel Geld ein. Es gab aber jede Menge geprellte Geschäftspartner, Neider und Psychopathen, die Elly verfolgten. Amy, die eigentlich vom Leben erzählen will, muss auch den Tod aufklären. Sie kann nicht nur Biografin bleiben, sie muss auch Detektivin werden.

Liza Cody lässt in ihrer Ballade gattungsgerecht die unterschiedlichsten Stimmen erklingen: die Musikerinnen, die missgünstige Schwester, den großherzigen Vater, die Polizei, den Friseur, den gruseligen Stalker und den Experten vom Royal College of Music. Das macht den Roman ein wenig repetitiv, aber in Harmonie löst sich hier nichts auf. Im Gegenteil. Groß ist, wie Cody das Musikbusiness auseinandernimmt, das eigene Schreiben in Frage stellt und dem Sterben von Frauen in der Popmusik das Glamouröse austreibt. Man liest den Roman auch als Gegenstück zu Nick Caves Mörderballade "Where the Wild Roses Grow", für die Kylie Minogue so bereitwillig in Schönheit starb. Hübsch sind auch die Seitenhiebe gegen Musikjournalisten, die ihre Karriere mit "trendiger Häme und kultigen Gehässigkeiten" befördern. Am Ende dieses klugen, berührenden und witzigen Romans wünschte man sich, die Musik der Elly Astoria sei Teil der eigenen Musikbiografie. "Die Ballade der vergessenen Toten" gehört in jede gute Playlist.

Lizy Cody: Ballade einer vergessenen Toten. Roman. Ariadne, Hamburger 2019, 411 Seiten, 22 Euro (Bestellen).