Mord und Ratschlag

Maigret verschwindet

Die Krimikolumne. Von Thekla Dannenberg
14.08.2017. Graeme Macrae Burnet verbeugt sich mit seinem psychologischen Roman "Das Verschwinden der Adele Bedeau" ehrfurchtsvoll vor dem französischen Kriminalroman. Damit kann er aber nur wenig darüber hinwegtrösten, dass es Georges Simenons Romane nicht mehr auf Deutsch gibt. Der Diogenes Verlag hat die Rechte nicht mehr. Der Markt ist leergefegt.
Vor einigen Monate wurde der Schotte Graeme Macrae Burnet weidlich für seinen Roman "Sein blutiges Projekt" gefeiert. Maskiert als historischer Kriminalfall und unter Verweis auf Michel Foucault, kriminologische Pseudowissenschaft und die Konstruktion von Wirklichkeit aus dem Geist der Archivs, erzählt der Roman die durchaus berührende Geschichte eines armen Pächterjungen, der im 19. Jahrhundert in den schottischen Highlands zum Mörder aus verlorener Ehre wird. Etliche Kritiker waren vom Verlag eingeladen, zu Burnet an den malerisch-düsteren Schauplatz seiner literarischen Taten zu reisen.

"Das Verschwinden der Adèle Bedeau" ist Burnets Debütroman, den der Verlag nun in kurzer Folge nachreicht. Und auch dieser Roman ist ein literarisches und psychologisches Puzzle. Er spielt in der elsässischen Kleinstadt Saint Louis, an der Grenze zu Deutschland und der Schweiz, man kann jedoch nicht genau sagen, wann. Die Zeit scheint in hier stillzustehen, die achtziger Jahre sehen in Burnets Frankreich genauso aus wie die sechziger und die siebziger Jahre, nur noch ein bisschen farbloser. Eines Tages verschwindet die junge Kellnerin Adèle Bedeau, und Manfred Baumann ist sofort als naheliegender Verdächtige eines möglichen Verbrechens ausgemacht: Ein Einzelgänger, den man eher für einen kleinen Angestellten halten würde als für den Bankdirektor. Er ist verschroben, verklemmt, zwanghaft. Wenn er doch einmal unter Menschen will, geht er donnerstags zum Kartenspielen ins Restaurant de la Cloche, samstags zu Madame Simone in Straßburg.

Kommissar Georges Gorski macht sich daran, das Leben dieses Mannes zu ergründen, mit dem so erkennbar etwas nicht stimmt. Gorski kennt sich gut aus in solchen Dingen: Während Manfred Baumann wie eingekerkert in sich selbst sein Leben vor allem NICHT führt, lebt der Kommissar am entgegengesetzten Ende der Skala: Er muss sich gegen eine gesellschaftlich ehrgeizige Frau erwehren, die so viel wie möglich aus dem Leben ihres Mann herausholen will. Burnet verlegt sich in seinem Roman ganz auf die feinfühlige Zeichnung dieser beiden Charaktere, zweier Männer in Krise und Unfreiheit, und er bringt sie in einem psychologisch spannenden, wenn auch nicht immer plausiblen Spiel zusammen.

"Das Verschwinden der Adèle Bedeau" ist vor allem eine Reverenz an Georges Simenon. Burnet camoufliert den Roman als französischen Klassiker, der erst jetzt für den britischen Markt entdeckt wurde, doch bereits in den achtziger Jahren von Claude Chabrol verfilmt wurde. Tatsächlich fühlt man sich schon auf der ersten Seiten an die "Fantome des Hutmachers" erinnert, die ganz ähnlich unter der großen Uhr im Restaurant des Ortes beginnen: Allerdings schildert Simenon in seinem düsteren Roman von 1949 in so unaufgeregter wie unerbittlicher Dynamik nicht nur die paranoide Gedankenwelt eines Frauenmörders, sondern auch die trübe Atmosphäre in La Rochelle, die eine solche Mordserie nur mit Schulterzucken quittiert: Die Frauenverachtung schwebt so kalt und trüb über der Stadt wie der Novembernebel über den Atlantik. Von solch atmosphärischer Dichte ist Burnets Roman weit entfernt, auch die Untergründigkeit erreicht er nicht. Aus seinem Roman spricht viel Bewunderung, aber auch mehr Lese- als Lebenserfahrung.

Graeme Macrae Burnet: Das Verschwinden der Adèle Bedeau. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. Kriminalroman. Europaverlag, München 2017, 287 Seiten, 17,90 Euro.


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Eigentlich möchte man sofort zu George Simenon selbst greifen. Doch es geht nicht mehr: Simenons Romane gibt es nicht mehr auf dem deutschen Markt, weder die mit seinem humanistischen Kommissar Maigret noch ohne. Keine Maigrets und keine Non-Maigrets. Sie sind komplett vergriffen. Selbst antiquarisch bekommt man Simenon nur noch in einzelnen Exemplaren, die Preise wuchern in fantastische Höhen: Ein schmaler Maigret-Band kostet mal 37 Euro, mal 61 Euro.

Ganz klanglos ist nach vierzig Jahren eine Ära zu Ende gegangen: Der Diogenes Verlag, der seit 1977 Georges Simenons Romane herausbrachte, hat die Rechte nicht mehr. Das bestätigt der Verlag immerhin, darüber hinaus gibt er in dieser Angelegenheit kein Wort preis.

Der Verlust des belgischen Krimi-Giganten dürfte für den Diogenes Verlag schmerzhaft sein, musste er doch erst vor wenigen Jahren die Rechte am britischen Klassiker Eric Ambler dem Hamburger Verlag Hoffmann und Campe überlassen. Es ist aber auch nicht lange her, dass Diogenes alle 75 Maigret-Romane noch einmal in einer schönen Gesamtausgabe herausbrachte: In edler Schlichtheit, mit der feinen schwarzen Linie auf weißem Grund und einer Schwarzweißfotografie auf dem Cover, die sofort den Blick öffnete für Maigrets poetisch-realistisches Paris. Die Ausgabe war ein Höhepunkt in jedem Krimi-Leseleben und ein Paradebeispiel für verlegerische Herzensprojekte.

Aber geht das überhaupt? Simenon nicht bei Diogenes? Nicht mehr neben Raymond Chandler und Dashiell Hammett, Friedrich Glauser und Martin Suter, Patricia Highsmith und Margaret Millar und all den anderen Klassikern der Kriminalliteratur? Und ein Maigret ohne die Schweizer Weltläufigkeit und den Sinn für feines Handwerk? Schwer vorstellbar. Allerdings zeigt ein Blick in den Katalog der Nationalbibliothek, dass Simenon schon einmal bei deutschen Verlagen erschienen ist: In den dreißiger Jahren bei der  - man höre und staune - Schlesischen Verlagsanstalt, in den Fünfzigern bei Kiepenheuer und Witsch, in den Sechzigern bei Heyne.



Zur Zeit ist nicht auszumachen, wer die Rechte hält. Einem Hinweis zufolge ist die britische Agentur Peters, Fraser & Dunlop involviert, doch die Beteiligten hüllen sich in Stillschweigen im Fall "Maigret verschwindet". Oder war es "Maigret und die Gangster"? Immerhin geht es um die Recht an einem der weltweit auflagenstärksten Autoren, in London wird offenbar schon längere Zeit verhandelt, gestritten, versteigert. Das Spezialisten-Blog Quai des Orfèvres berichtet von einem lang andauernden Rechtepoker, an dem Georges Simenons Sohn John ebenso beteiligt ist wie Londoner Rechteverwerter, eine mittlerweile pleite gegangene Investorengruppen und ein deutsches Verlagshaus und für den immer neue Firmen gegründet werden: Die Georges Simenon Limited in London zum Beispiel oder die Georges Simenon AG in Lüttich. Die englischen Rechte für Simenon liegen bei Penguin, also bei Random House.

Maigret war ein Mann des Volkes, er hasste alle Sentimentalitäten. Und Simenon selbst sah sich natürlich als ein kommerzieller Schriftsteller. Er wollte Ruhm und Geld, und lieber mit schnörkelloser Unterhaltungsliteratur Erfolg haben als in literarischen Höhen verarmen. Aber trotzdem. Es ist fruchtbar traurig. Vielleicht helfen Sandwich und Bier, Calvados und Pflaumenschnaps.