Mord und Ratschlag

Hoffnungsloses Unglück in Bari

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
07.05.2007. In seinen Krimis lässt Gianrico Carofiglio, eigentlich Staatsanwalt in Bari, das Unglück ganz unspektakulär, aber "Im freien Fall" auf seine Figuren herniedersausen. Weiß der Himmel, woher sie noch die Kraft nehmen, dem Geld und der Macht zu trotzen.
Wie wohltuend ist es, auf einen Autor wie Gianrico Carofiglio zu stoßen, der Staatsanwalt in Bari ist und bisher nebenbei vier Kriminalromane verfasst hat. Vor kurzem in deutscher Übersetzung erschienen ist sein zweiter Roman um den ebenfalls in Bari lebenden und arbeitenden Rechtsanwalt Guido Guerrieri, "In freiem Fall". Der Titel ist ein wenig irreführend, denn in freiem Fall befand sich Protagonist Guerrieri sehr viel eher im vorzüglichen ersten Band der Serie, "Reise in die Nacht" (vor kurzem als Taschenbuch erschienen). Seine Frau hatte ihn verlassen, er leidet unter Schlaflosigkeit und Depressionen - und Carofiglio lässt das seinen Ich-Erzähler ungeschönt und genau schildern. Ohne falschen Trost, nämlich im vollen Bewusstsein der prekären Gründe allen Glückens und Glücks, setzt Carofiglio dann eine doppelte Erlösung ins Werk. Guerreri übernimmt einen scheinbar aussichtslosen Fall und verteidigt einen bei erdrückender Beweislage des Mordes bezichtigten senegalesischen Immigranten. Daneben lernt er eine Frau kennen, die nach schwierigen Jahren dabei ist, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Im zweiten Roman hat sich die Lage des Helden dann zunächst stabilisiert. Er kann seinem Beruf wieder nachgehen, ohne ständig den Zusammenbruch fürchten zu müssen. Und sein Gerechtigkeitssinn ist intakt - nicht ohne Furcht, aber doch ohne großes Zaudern übernimmt er die Nebenklage gegen einen einflussreichen und angesehenen Bürger der Stadt, den seine Frau bezichtigt, sie geschlagen, sie nach ihrer Flucht verfolgt und bedrängt zu haben. Guerreri ist, als selbst angeschlagener Charakter mit melancholischem Blick aufs Leben, ein Spezialist für angeschlagene Figuren. Es geht, etwas allgemeiner gesagt, bei Carofiglio um die Wehrhaftigkeit der Schwächeren, der Erniedrigten, Geschlagenen, Beleidigten. Darum, denen zu trotzen, die die Macht und das Geld haben. Darum, diesen Trotz aufzubringen in eher aussichtsloser Lage.

Das klingt so pathetisch wie hoch moralisch, aber in der Figur des Guido Guerrieri wird dieses Pathos zu seltsam unspektakulärer Selbstverständlichkeit entfaltet. Er ist ein Held um die vierzig, ein beruflich halbwegs erfolgreicher Mann, der zweifelt, der zögert, der nicht weiß, ob er für sein Leben die richtigen Entscheidungen getroffen hat, der dennoch oder gerade tut, was ihm für den Moment das Richtige scheint, und zwar, weil er mit sich im Reinen bleiben will. Anders als etwa in den Romanen Scott Turows geht es hier nicht um das Pathos der Gerechtigkeit - und der Unmöglichkeit, sie auf Erden zu erlangen -, sondern um das zum melancholischen Alltag kleingearbeitete Pathos der Gefährdetheit der Existenz.

Für in der ersten Person erzählte Romane sind die Carofiglios dabei erstaunlich perspektivreich. Immer wieder werden Begegnungen Guerrieris mit alten Bekannten und neuen Freunden episodisch eingelegt; die narrative Verknüpfung mit dem Fall vor Gericht bleibt dabei meist sehr lose. Es geht eher um motivische Variationen, um Geschichten, die schlecht ausgehen, um Unglück, das hereinbricht und nicht im Mindesten gutzumachen ist. Eine wichtige Rolle spielt in "Im freien Fall" das Schicksal einer Nonne, die nun ein Haus leitet, in dem missbrauchte und verfolgte Frauen Zuflucht finden. Sie fühlt sich nach anfänglicher Distanz ebenso zum Frauenversteher Guerrieri hingezogen wie er zu ihr. Außerdem wird, fast wie nebenbei, von einem alten Freund Guerrieris erzählt, der mit Mitte Dreißig seine Frau verloren hat, arbeitslos wurde, jetzt, zurück in Bari, wieder Fuß zu fassen hofft. Es gelingt nicht, und wie Carofiglio aus diesem rettungslosen Unglück kein großes Drama macht und aus dem großen Drama um eine gequälte Frau ein sehr schlichte, sehr traurige Geschichte ohne glücklichen Ausgang, das zeugt von einem seltenen Sinn für den richtig dosierten Einsatz der Mittel.

Lassen Sie mich schließlich noch von zwei enttäuschenden Büchern berichten. Das eine hat James Crumley geschrieben, ein Autor, der ganz zu Recht als Klassiker der Kriminalliteratur gilt. Mit seinen beiden Serien-Detektiven C.W. Sughrue und Milo Milodragovitch hat er zwei Helden der wenig heroischen Sorte in die Welt der Hardboiled-Literatur gesetzt. Drogen, Promiskuität, Gewalt, nichts Menschliches ist ihnen fremd. Einige von Crumleys Romanen gehören zum Bösesten, Geistreichsten, Respektlosesten, das in den letzten dreißig Jahren im Genre veröffentlicht wurde. Über das nun vom kleinen Shayol-Verlag eigentlich verdienstvollerweise in deutscher Übersetzung veröffentlichte jüngste, wenn auch schon sechs Jahre alte Werk "Land der Lügen" um Milodragovitch kann man das leider nicht sagen. Vielmehr handelt es, wogegen ja zunächst nichts einzuwenden ist, um das Porträt des finanziell gut versorgten Detektivs als alternder Mann. Crumley macht daraus aber einen ziemlich misogynen Altmännerroman, an dem nicht nur die Unwiderstehlichkeit des Helden fürs andere Geschlecht die Grenzen des Glaubwürdigen überschreitet.

Milo Milodragovich geht auf die sechzig. Da ist eine Frau, derentwegen er nach Texas gezogen ist, wo es ihm nicht gefällt, er sehnt sich nach den kühlen Bergen von Montana zurück. In Texas aber läuft ihm gleich zu Beginn dieses Romans ein Hüne über den Weg, der aus dem Weg räumt, was ihm missfällt. Die Schießerei in einer Bar endet mit einem Toten. Der Hüne verschwindet und Milo setzt sich in den Kopf, ihn vor der Strafverfolgung zu beschützen. Damit aber mischt er sich in Dinge, von denen Leute mit Geld und Macht glauben, dass sie ihn nicht das Mindeste angehen. Sie machen ihm also das, was man so Schwierigkeiten nennt. Und noch mehr Schwierigkeiten. Und Milo setzt sich zur Wehr, begeht aber auch Fehler über Fehler. Schnupft Kokain ohne Ende. Geht mit der falschen Frau ins Bett. Sticht in Wespennester und wird lebensgefährlich verprügelt.

Das geht sehr lange so, ziemlich bald verliert man den Überblick über die komplexen Zusammenhänge, fast noch schneller aber die Lust daran, ihn behalten zu wollen. "Funny crimes" heißt die Reihe des Verlags, aber sehr lustig ist das alles gleich doppelt nicht. Zum einen ist das Weltbild, das Crumley mit seinem Helden mutmaßlich teilt, mit "finster" noch vorsichtig umschrieben. Zum anderen aber reizen die müden Scherze und zotigen Grobheiten, an denen Crumley nicht spart, eher selten zu großem oder kleinem Gelächter. Es bliebe, als Versuch einer rettenden Betrachtung dieses Alterswerks, nur die Annahme, dass der Roman sich an der Mimesis an seinem fast bankrotten Helden versucht. Zu befürchten ist aber, dass der Elan bei Crumley wirklich weg ist, dass hier ein einst unwiderstehlicher Autor zum schwachen Epigonen seines früheren Selbst geworden ist.

Die zweite Enttäuschung stammt von Harlan Coben, der sich in den letzten Jahren im angelsächsischen Raum zum Bestseller-Autor entwickelt hat. Spannend und intelligent und ein internationaler Riesenerfolg war sein jüngster Thriller "Kein Sterbenswort", eine Geschichte über Verlust und wundersame Wiederkehr, eingelagert in einen Spannungsplot, der erst gegen Ende unterm Aufklärungsbedürfnis des Genres zu leiden beginnt. Coben wechselt zwischen solchen im Kritikerjargon "Standalone" genannten Thrillern und seiner Serie um den einstigen Basketball-Star und jetzigen Sportler- und Schauspieler-Agenten Myron Bolitar sowie eine Riege wenig originell typisierten wiederkehrenden Begleitpersonals. "Ein verhängnisvolles Versprechen" verbindet nun leider die generell problematischen Seiten solcher Serienschreiberei mit den speziellen Schwächen, die dieser Serie sowieso eigen sind. Zum einen passiert manches in dem Buch offenbar nur, um den in den Vorgängern eingeführten Figuren - Bolitars Eltern zum Beispiel, die er ohne tieferen Grund in Miami besucht - einen Auftritt möglich zu machen. Zum anderen aber versucht sich Coben in den Bolitar-Romanen an einem witzelnden Ton, den auch Gunnar Kwisinski nicht aus dem Zotig-Enervierenden ins Geistreiche übersetzen kann. Die Geschichte um eine verschwundene Teenagerin aus Bolitars Bekanntschaft mäandert sich durch Manhattan und New-Jersey-Suburbia, bringt eher lustlos Verdächtige ins Spiel, lässt sie für private Plänkeleien wieder aus den Augen und schwingt sich zuletzt zu einem Showdown auf, der angesichts des gemächlichen Plätscherns zuvor eher outriert als aufregend wirkt. Cobens offenbar unerschöpfliches, seinem Ich-Erzähler Bolitar in den Mund geschobenes Reservoir an platten Lebensweisheiten gibt dem Roman den Rest.


Gianrico Carofiglio: "In freiem Fall". Goldmann Verlag, München 2007. 224 Seiten, gebunden, 17,95 Euro

James Crumley: "Land der Lügen". Shayol Verlag, Berlin 2007. 344 Seiten, kartoniert, 14,90 Euro


Harlan Coben: "Ein verhängnisvolles Versprechen". Goldmann Verlag, München 2007. 450 Seiten, kartoniert, 8,95 Euro
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