Mord und Ratschlag

Letzte Küsse

Die Krimikolumne. Von Michael Schweizer
18.07.2003. Die Krimikolumne. Heute: In Jan Costin Wagners Krimi "Eismond" tötet ein sanfter Verrückter, um den Tod zu besiegen. Vorgestellt von Michael Schweizer
Sanna stirbt im Schlaf. Ihr Mann, der finnische Polizist Kimmo Joentaa, auch er noch keine dreißig Jahre alt, bleibt bei ihr. Dann zieht er sie an sich, küsst und beißt sie, verlässt das Krankenhaus. Sanna war Kimmos Platz auf der Welt. Als sie noch gesund war, hatte er nicht den geringsten Zweifel, dass er immer mit ihr zusammen sein würde. Der Tod war ein abstraktes Wissen, Kimmos Herz hielt Sanna für unsterblich. Nun scheint es nichts mehr zu geben außer Betäubung und würgendem Verlassensein. Manchmal möchte Kimmo fremden Menschen, die ihn an Sanna erinnern, von ihr erzählen; die ihn kennen und ihm helfen wollen, lässt er nicht an sich heran. "Niemand war etwas, wenn Sanna nicht mehr lebte."

In Turku werden zwei junge Frauen und ein schwedischer Student im Schlaf erstickt. Die Opfer hatten nichts miteinander zu tun, aber etwas gemeinsam: Sie waren freundlich, sympathisch, hatten keine Feinde, niemand kann sich vorstellen, wer ihnen Böses wollte. Joentaa glaubt, dass er nicht drei Täter suchen muss, sondern einen, und dass er ihn verstehen wird. Eine der Toten "sah aus, als schlafe sie, wie Sanna": Auch dem Mörder muss der Tod so begegnet sein, dass er ihn nicht irgendwann hinnehmen konnte. Er muss ein stiller, sanfter Mensch sein, der sich verstecken und einschleichen kann, den niemand sieht, wenn er es nicht will. Zu sehr in sich eingeschlossen, als dass ihn jemand heilen könnte.

Joentaa hat Recht, aber dass seine Theorie auf den jungen Museumsführer passt, den er nach dem zweiten Mord kennen lernt, kapiert er erst nach dem dritten. Vesa Lehmus hat früh seine Eltern verloren und seither Panik vor der Endlichkeit: Alles, was schön ist, kann abrupt zerbrechen und ihn noch einsamer zurücklassen. Um nicht wieder so verletzt zu werden, muss er selbst bestimmen, wer wann stirbt. Das gilt vor allem für die Einfühlsamen, Liebevollen, die ihm nicht weh tun. Auch für Jaana Ilander, das dritte Opfer, die erste Frau, die ihn geküsst und mit ihm geschlafen hat. Lehmus tötet, um den Tod seiner Eltern rückgängig zu machen, so wie Joentaa alles gäbe, um Sanna wieder in die Welt zu holen. In einem finsteren Winkel seiner Seele will der Polizist, dass der Mörder weitermacht: So kann er ihn verfolgen, hat zu tun und ist nicht pausenlos der Leere ausgeliefert.

Am Anfang glaubt man sogar, Joentaa selbst sei der Täter. Danach aber ist Jan Costin Wagners "Eismond" kein Rätselkrimi mehr, dessen Hauptreiz in der Wer-war's-Frage liegt, sondern bezieht im Gegenteil seine Spannung daraus, dass der Leser den quälend geschickten Mörder viel früher kennt als Joentaa.

Der 1972 geborene Wagner, der für seinen ersten Roman "Nachtfahrt" den Marlowe-Preis für den besten Kriminalroman des Jahres 2001 erhielt, hat auch "Eismond" sehr gekonnt konstruiert. Er traut sich zum Beispiel mehrmals, über Seiten hinweg viele Sätze, die sich auf Lehmus beziehen, mit "Er" beginnen zu lassen. Der Verrückte ist auf sich selbst beschränkt und kann keine anderen Subjekte zulassen. Dasselbe macht Wagner mit Joentaa, den sein Schmerz gefangen hält und isoliert, und schließlich auch mit Daniel Krohn, für den Jaana ein Urlaubsvergnügen und der für sie eine Liebe war.

Durchdacht verteilt Wagner auch Innen- und Außensicht: Die meisten handelnden Personen sieht und hört der Leser bloß. Nur von den vier Männern, denen jemand gestorben ist, erfährt er auch die Gedanken. Das Buch fragt nach dem Tod, und wie mit ihm zu leben sei.

Hin und wieder, vor allem auf den ersten etwa achtzig Seiten, stören Sachbearbeiterwendungen mit Ausschlag ins Therapeutische: "auf seine Anfrage hin", "den Eindruck hatte", "offensichtlich", "langfristig", "Probleme thematisiert", "Gefühle offenlegen", "vorauszuplanen" - geht's auch hinterher? Um diese Inseln herum ist vieles schön formuliert.

"Eismond" ist ein Viel-Personen-Roman. Wäre es ein Film, hätten nicht wenige Akteure eine Chance, den Preis für die beste Nebenrolle zu gewinnen. Zum Beispiel Joentaas Chef Ketola: Er trinkt, brüllt, hat einen drogensüchtigen Sohn und tritt eine Verdächtige - da denkt man an viele skandinavische Krimis, in denen das Kommissariat einen Schmerzensmann enthält, der in nicht zu knapper Auswahl die wichtigsten gesellschaftlichen Probleme erduldet. Wenn Wagner das zitiert, dann verfremdet er es zugleich: Ketola ist nämlich auch sensibel, fürsorglich und findet zur rechten Zeit das rechte Wort. Die Übergänge sind abrupt und grundlos.

Man erfährt in Wagners Buch viel über Finnland. Dem wichtigsten Thema aber weicht nirgends einer aus: Wo Liebe ist, wird Tod sein; und manchmal umgekehrt.


Jan Costin Wagner: "Eismond". Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2003, 306 Seiten, gebunden, 19,90 Euro