Literatur

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex. Roman

Für die französischen Kritiker ist sie der neue Balzac, für die deutschen Kritiker mindestens der weibliche Houellebecq: Virginie Despentes - französische Punkrockerin, ehemalige Prostituierte und Schriftstellerin. Ihr neuer Roman erzählt vom gnadenlosen Abstieg eines Ex-Plattenladenbesitzers und führt durch alle gesellschaftlichen und sozialen Schichten Frankreichs: In der FAZ begegnet Martin Halter hier etwa marxistischen Hell's Angels, postfeministischen Porno-Queens, "Pussy-Tussis" und "sanften" Banlieue-Machos. Despentes' Sprache ist schroff, ihr Witz ist böse und ihre Wut auf Kapitalismus und Männlichkeitsattitüden ist scharf, echt und analysefrei, schwärmt er. Spiegel-Kritikerin Hannah Pilarczyk liest nicht nur die "popkulturelle Ergänzung" zu Didier Eribons "Rückkehr nach Reims", sondern gleich ein "Abgebrüll auf die Grand Nation". In der Welt lobt Hannah Lühmann den Roman als intelligentes Sittengemälde der französischen Gesellschaft, Alex Rühle hebt in der SZ die überzeugenden Charaktere hervor, und im Tagesspiegel lobt Gerrit Bartels die "geschmeidige, glitzernde Nüchternheit" der Sprache Despentes. Im Zeit-Interview spricht die Autorin über Pornografie, Prostitution und Prüderie. Für weitere Einblicke in die französische Gesellschaft sei Leila Slimanis ebenfalls von der Kritik gepriesener Roman "Dann schlaf auch du" (bestellen) empfohlen.
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Thomas Lehr: Schlafende Sonne. Roman

Welt-Kritiker Richard Kämmerlings kürt Thomas Lehr gleich zum deutschen Thomas Pynchon. Warum? Weil Lehr mit "Schlafende Sonne" einen Universalroman vorlegt, Literatur, die zum "Erkenntnisinstrument" wird, jubelt der Kritiker, der vor allem staunt, wie viel (Geistes-)Geschichte der Autor an nur einem einzigen Tag zu erzählen vermag. An einem Sommertag des Jahres 2011 spielt die Geschichte um die in der DDR aufgewachsene Künstlerin Milena Sonntag, aber hier geht es um nicht weniger als um das gesamte 20. Jahrhundert, angefangen beim Kriegsausbruch 1914, über die Judenverfolgung, den Mauerfall bis hin zur israelischen Gegenwart, erzählt der Kritiker, der in geschickt eingeflochtenen Erzählsträngen auch vom Geistesleben in Göttingen und Freiburg, von Husserls Phänomenologie oder der Solarphysik unter den Nazis liest. In der SZ staunt Helmut Böttiger, wie Lehr Fiktives, Wissenschaftliches und Historisches im Text montiert und in seinem poetischen Epos voller "suggestiver, rauschhafter Prosapassagen" auf Schreibschulentechniken pfeift. In der NZZ ist Paul Jandl zwar ein wenig geblendet von dem "Adjektiv- und Metapherngerammel", der Sogkraft dieser "plastischen" Sozialstudie über die DDR kann er sich allerdings auch nicht entziehen.
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Zadie Smith: Swing Time. Roman

Der Vergleich mit Elena Ferrantes neapolitanischer Saga liegt nahe: Zwei Freundinnen starten unter ähnlichen Bedingungen im Londoner Nordwesten der Achtziger, sie haben jeweils ein Elternteil mit schwarzer und weißer Hautfarbe, die Liebe zum Tanz verbindet beide und doch könnten ihre Lebenswege unterschiedlicher nicht sein: Während die namenlose Ich-Erzählerin als persönliche Assistentin für eine erfolgreiche australische Popsängerin arbeitet und durch die Welt jettet, gelingt ihrer Freundin Tracey eine passable Tanzkarriere, sie wird Mutter zweier Kinder und verlässt das Viertel nie. In der Welt lobt Richard Kämmerlings den Roman als gelungenes Experiment, das vor allem durch die unkonventionelle Perspektivik überzeugt: "Swing Time" meint auch die Geschichte des Identitätswechsels, erklärt er. FAZ-Kritikerin Sandra Kegel lässt sich von Smith's assoziativen Erinnerungsströmen mitreißen, befindet sich mal im London der Achtziger, dann im New York der Gegenwart oder in einem westafrikanischen Dorf. Für Spiegel-Kritikerin Eva Thöne ist der Roman gar hochaktuelle und "ideale Begleitliteratur für den liberalen Kosmopolitismus". Weitgehend einig sind sich die RezensentInnen nicht nur in ihrem Lob, sondern auch in ihrer Kritik: Einen "Hang zum episodischen Überströmen und Ausufern in Nebenthemen" attestiert etwa Sigrid Löffler auf Deutschlandfunkkultur der Autorin.
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Colson Whitehead: Underground Railroad. Roman

Weltweit wird Colson Whiteheads Roman "Underground Railroad" gefeiert und auch die deutschen Kritiker setzen zu einstimmigen Lobeshymnen an: Whitehead ist mit diesem Buch über die Geschichte der Sklaverei im 19. Jahrhundert auf der Höhe seines Schaffens, meint etwa FR-Kritiker Christoph Schröder und lässt sich in ein "Universum aus Unmenschlichkeit, Ungerechtigkeit und Gewalt" ziehen. Im Spiegel staunt Anne Haeming über das unglaubliche Timing der deutschen Veröffentlichung: Whitehead erzählt am Beispiel der jungen Sklavin Cora, die von einer Plantage in Georgia über South Carolina mit der berüchtigten Underground Railroad nach North Carolina flieht, von der Vorgeschichte jenes Rassismus, der sich nun in Charlottesville Bann brach, erklärt sie. in der taz bewundert Julian Weber die nüchterne Präzision und Faktizität und ist insbesondere beeindruckt, wie der Autor Handlungsstränge dirigiert und ungeschminkt und gänzlich frei von Paternalismus schreibt. Zeit-Kritiker Burkhard Müller attestiert dem Roman zwar Spannung, Gefühl, eingehende Recherche. Gelegentlich geht ihm der Autor allerdings zu willkürlich mit der Historie um, wenn er etwa aus der Underground Railroad, eigentlich ein Netzwerk der Abolitionisten, eine echte Eisenbahn macht. Für den Guardian hat sich Emma Brockes mit Colson Whitehead getroffen.
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Milijenko Jergovic: Die unerhörte Geschichte meiner Familie. Roman

Nur langsam sind die Kritiker auf Milijenko Jergovics bereits im Frühjahr erschienenen Roman aufmerksam geworden, aber ihr Jubel macht die Verspätung wett: Weltliteratur, ruft etwa NZZ-Kritiker Andreas Breitenstein angesichts der unvorstellbaren Recherche-Leistung, "der enormen thematischen Breite, der atemberaubenden gedankliche Tiefe; der ausgeklügelten Organisation des vermeintlich chaotischen Draufloserzählens und der stupenden Fülle der Stilarten und Tonregister" und staunt nicht zuletzt über die "Synästhesie der ästhetischen Mittel". Für Zeit-Kritiker Sasa Stanisic ist das Buch gar ein "aberwitziges Naturereignis von einem Roman": Denn die Geschichte, die der kroatisch-bosnische Autor hier von seiner Familie erzählt, ist auch die Geschichte der Stadt Sarajewo, der Jugoslawen, ja, der Europäer insgesamt, wie der Rezensent beteuert. FR-Kritiker Norbert Mappes-Niedek gehen die familiären Schilderungen, aber auch die Erzählung der politischen und geschichtlichen Umbrüche so nahe, dass er dem Autor am liebsten sofort schreiben möchte. Im Deutschlandfunkkultur würdigt Martin Sander das Werk als "Opus magnum", das die Geschichte Jugoslawiens neu erzählt.
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Salman Rushdie: Golden House. Roman

Diese Geschichte um den New Yorker Immobilienhai Nero Golden und seine Familie zeigt Salman Rushdie in Hochform - oder im "maximalen Tourette-Modus", wie in der Welt Jan Küveler spottet, der sich dem Sog des Romans dann aber doch nicht entziehen kann: wegen seiner Aktualität (Golden erinnert nicht nur von Ferne an Donald Trump), seiner "vollendeten Altherrengeilheit", den wunderbar eigensinnigen Figuren und einer Sprache, die ihn an Nabokov erinnert. Auch den Kritikern von FAZ, FR, NZZ, taz und SZ schwirrt der Kopf bei all den Personen, Verwicklungen und vor allem der Unmenge literarischer Anspielungen. Aber warum auch nicht, begehrt Arno Widmann in der FR auf: Dieser Autor kann alles, erklärt er, literarisch versteht sich, und er macht in seinem neuen Roman hemmungslos davon Gebrauch, assoziativ, detailliert, witzig und furchtlos. Der FR-Kritiker hat dafür nichts als Bewunderung.
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Sachbuch

Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz, Joachim Seng: Monsieur Göthe. Goethes unbekannter Großvater

Über Goethes Großvater mütterlicherseits, den mächtigen Schultheiß Textor, ist einiges bekannt, der Schneider und Gastwirt Friedrich Wilhelm Göthé galt seinen Nachfahren hingegen als nicht standesgemäß genug, um ihn weitergehend zu würdigen. Pech für Goethe, aber Glück für uns, wenn man den Kritikern Glauben schenken mag, dass sich die Literaturwissenschaftler Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz gemeinsam mit dem Leiter der Bibliothek im Freien Deutschen Hochstift, Joachim Seng, unter Berücksichtigung noch so entlegener Quellen daran gemacht haben, der Lebensgeschichte des sozialen Aufsteigers nachzuspüren, informiert FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen. Der Rezensent liest mit großem Interesse, wie sich Göthé nach Jahren der Wanderschaft in Frankfurt niederließ und sich einen Ruf als "Karl Lagerfeld von Frankfurt" erarbeitete. Vor allem aber bewundert Spreckelsen, wie kenntnis-, anekdoten- und überraschungsreich das Autorentrio über die historischen Hintergründe, etwa zur Frankfurter Gesellschaft jener Zeit, informieren. Goethe-Forscher werden hier zwar keine "substanziell neuen Funde" machen, meint Eckart Goebel in der Welt, als "farbiges und schön illustriertes Buch zur europäischen Kulturgeschichte um 1700" hat er das Werk allerdings gern gelesen.
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Sarah Hermanson Meister (Hg.): Arbus, Friedlander, Winogrand. New Documents 1967

Fünfzig Jahre nach der legendären, von John Szarkowski kuratierten New Yorker Schau "New Documents" mit Arbeiten von Diane Arbus, Lee Friedlander und Garry Winogrand erscheint nun doch noch dieser Katalog, für den damals schlicht kein Budget mehr vorhanden war. Die Mühe, die sich das MoMA gemacht hat, um die Ausstellung en Detail zu rekonstruieren, hat sich in jedem Fall gelohnt, versichert FAZ-Kritiker Freddy Langer: Viele der im Band gezeigten vierundneunzig Schwarz-Weiß-Motive sind heute längst Ikonen, an Wucht haben die sozialdokumentatorischen Bilder aber nichts eingebüßt, verspricht Langer. Noch spannender findet der Kritiker aber die im Band enthaltenen Analysen zu den Werken und ihren drei Schöpfern sowie die Dokumente zur Ausstellung und ihrer Eröffnung, Einladungs- und Ausgabenlisten, Schnappschüsse und Zeitungsartikel: Stoff für einen "epochalen Roman", der vor allem dort besticht, wo "die Poesie der Fotokunst auf die Prosa des Kassenwarts stößt", meint er. Und im New Yorker schaut Philip Gefter besonders fasziniert auf Szarkowskis wegweisende Begleittexte neben jedem Bild.
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Thomas Wagner: Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten

Thomas Wagners Studie über die "Neuen Rechten" ist das Buch zur Stunde, jubeln die Kritiker. Dass der linke Soziologe und Publizist das Gespräch mit maßgeblichen Vertretern der Szene wie Henning Eichberg, Götz Kubitschek, Ellen Kositza, Benedikt Kaiser oder Alain de Benoist sucht, dabei neugierig bleibt, aber nie entlarven will, findet Zeit-Kritiker Adam Soboczynski nicht nur reizvoll, sondern auch mutig. Auch FAZ-Kritiker Stefan Locke lernt bei Wagner, dass die pauschale Stigmatisierung von Pegida, AfD und Co. nicht weit führt und lobt, dass der Autor statt auf Abgrenzung auf Erkenntnisgewinn gesetzt: Nicht alles, was er hier hört, ist harmlos, aber auch selten so brisant, dass man es nicht diskutieren könnte, meint er. Noch ein weiterer Punkt hebt das Buch aus der Vielzahl von Erscheinungen zum Thema hervor: Die Konsequenz, mit der Wagner die Neue Rechte auf 1968 bezieht, ist neu, meint Mladen Gladic im Freitag. Auch Soboczynski liest überrascht, dass viele klassisch linke Positionen - etwa Medienkritik, Religionskritik, Kapitalismuskritik oder Kritik am Establishment -  von den Rechten übernommen wurden und sich bereits während der Zeit der Studentenrevolten rechte Zirkel bildeten und einen sogenannten "Ethnopluralismus" propagierten. In der Welt lobt Marc Reichwein, dass Wagner auch die Versäumnisse der Linken anspricht. Im NDR-Interview mit Jürgen Deppe spricht der Autor über sein Buch.
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Deborah Feldman: Überbitten. Eine autobiografische Erzählung

In "Unorthodox" erzählte Deborah Feldman von ihrem Ausstieg aus einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde in New York, im Nachfolger "Überbitten" schildert sie nun die Jahre danach, die sie nach verschiedenen Stationen in den USA und Europa schließlich nach Neukölln führen, wo Feldmann heute lebt. In der FAZ lässt sich Katharina Teutsch von Feldmans "faszinierender Lebensmitschrift" auf eine Spurensuche nach jüdischen Identitäten in Europa mitnehmen, erlebt philosemitische Begeisterung in Deutschland, Antisemitismus in Ungarn oder jüdische Folklore in Paris und erkennt, wie unmöglich die Realisierung eines globalen Judentums in Europa noch immer ist. Auch SZ-Kritiker Cornelius Wüllenkemper staunt über den Mut, die Offenheit und die Frische, mit der die Autorin in diesem fesselnden "Erlebnisbericht aus dem Maschinenraum der Seele" das Verhältnis zwischen orthodoxem Judentum und dem europäischen Erinnerungsdiskurs diskutiert. Im Deutschlandfunk lobt Florian Felix Weyh das Buch als sarkastisch-lockere und zugleich "intellek­tuell-refle­xive Auseinandersetzung mit der individuellen und kollektiven jüdischen Identität" und nicht zuletzt als Geschichte einer persönlichen Befreiung. In der Zeit und der Jüdischen Allgemeinen spricht Feldman über ihr Buch, Berlin als Ort der Freiheit und Intoleranz in der jüdischen Gemeinde.
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