Literatur
Emma Clines Debütroman "The Girls" erntet nur zwei Wochen nach seinem
Erscheinen in Amerika auch hierzulande viel Lob: Selten waren sich die
Rezensenten so einig wie bei diesem Roman einer jungen kalifornischen
Autorin um eine junge Frau, Evie, die auf ihre Teenager-Zeit bei einer Sekte im Sommer 1969 zurückblickt. In der FAZ schaut Sandra Kegel gern darüber hinweg, dass das Buch sicher von dem nicht enden wollenden Hype um Charles Manson und seine "Blumenkinder" profitiert. Kegel ist viel zu hingerissen von dem psychologisch intensiven Drama über die Verführbarkeit junger Menschen durch
eine Ideologie. Evie sucht fünfzig Jahre nach ihrem Ausbruch aus dem
bürgerlichen Elternhaus in eine Sekte in "bedrückender Innenschau"
geradezu "manisch" in ihrer Erinnerungen nach dem Moment, an dem sie den
brutalen Höhepunkt hätte vorhersehen können, so Kegel, die das subtil
und pointiert beschrieben findet. Franziska Wolffheim lobt in der SZ
neben Clines Vermögen, den Kontrollverlust des Mädchens "plausibel",
aber ohne endgültige Antworten zu beleuchten, vor allem die "poetischen
Bilder" und die verschiedenen Spannungsebenen dieses "thrillerartigen"
Romans. Spiegel-Kritiker Christian Buß betont
mit Blick auf die jüngsten Attentäter des IS die Aktualität des Buches,
das den pubertären "Willen zur Destruktion" und den Wunsch nach einem "Fanal der eigenen Existenz" nachzeichne. Und Richard Kämmerlings bewundert in der Welt
nicht nur die faszinierenden Schilderungen der "Girls" zwischen
"Freundschaft, Liebe, Anbetung und homoerotischem Begehren", sondern
erschrickt während der Lektüre des zeitlosen, "dunkelleuchtenden" Romans
gar vor sich selbst.
Buch bestellen
In Julia Kissinas zweitem virtuos übersetzten Roman "Elephantinas
Moskauer Jahre" sprudeln die "bunten, poetischen und grotesken Bilder", schwärmt Katharina Granzin in der FR. In diesem wunderbar "eigensinnigen Gegenentwurf" zum realen Sowjetalltag im Moskauer der achtziger Jahre
stürzt sich die Kritikerin mit Kissinas junger Heldin aus der Provinz
Kiews in die Moskauer Literaten- und Künstlerboheme und bewundert, wie
die "neue Achmatova" noch in der existentiellen Verzweiflung
zwischen Armut, Wohnungslosigkeit und animalisch übergriffigen Männern
das Schöne und Absurde entdeckt. Stefanie Peter mag in der Welt zwar kaum glauben, dass es damals so witzig und skurril vor sich ging und fühlt sich in dem Pointen-Feuerwerk
bald, als hätte sie "das entscheidende Stück Torte Napoleon" zu viel
gegessen, Kissinas Sinn für Tragikomik und ernste, herzerwärmende
Momente bewundert sie allerdings ebenfalls. Ganz verliebt in die
zwischen Tizian-Madonna und Jane Birkin oszillierende junge Frau, die
vor "heroischem Übermut" überschäumt, liebestoll und hemmungslos glühend die Avantgarde aufmischt, ist auch Meike Fessmann in der SZ.
Gelegentlich wird ihr auf dem "Analogie-Karussell", auf dem sich
russische Literaten wie Chlebnikow oder Bulgakow ebenso drehen wie
Ginsberg, Lady Gaga oder zen-buddhistische Haikus, ein wenig
schwindelig. Doch ist sie, wie die anderen Kritiker bei so viel Wahnsinn
und Temperament gespannt auf den letzten Teil der Trilogie.
Buch bestellen
Für FAZ-Kritiker Niklas Bender ist Vincenzo Latronicos zweiter
Roman der Beweis für die Meisterschaft des jungen italienischen Autors,
dessen Talent auf jeder Seite wie "Champagner sprudelt". Wie Latronico
in dieser Erzählung um zwei ungleiche rivalisierende Freunde -
den gierigen italienischen Firmenerben Alfredo und den intelligenten
albanischen Arbeitersohn Donka - sprachlichen Anspruch, Spannung und
psychologischen Feinsinn in eine kluge Handlung verwebt, findet Bender
"ambitioniert" und brillant. Dass der Autor dazu leichthändig und
humorvoll Spieltheorie und Ethnologie zu verbinden weiß, verschlägt dem Kritiker vollkommen den Atem. Maike Albath kann dem in der SZ
nur zustimmen: Sie liest einen "rasanten" Finanzthriller, der die
"Psychopathologie der Nullerjahre mit archaischen Motiven" verknüpft und
zugleich ein präzises Porträt der verlorenen Generation der Berlusconi-Ära zeichnet.
Dass Latronico die "Kain- und Abel-Konstellation" um weitere mit
"soziologischer Raffinesse" geschilderte Figuren anreichert, sich mit
Michel Houellebecq, David Foster Wallace, Roberto Bolaño und Antonio
Moresco ebenso gut auskennt wie mit Autofiktion, Metafiktion und dem
Erzählton des neunzehnten Jahrhunderts und dabei auch noch Ironie
beweist, ringt Albath größte Anerkennung ab. Und in der Welt bewundert Marc Reichwein, wie der Autor "macchiavellistische Intelligenz mit Bourdieu-Gespür für die feinen Unterschiede" paart.
Buch bestellen
Nur wenige Besprechungen hat dieser so wunderbare wie traurige
Debütroman der Österreicherin Friederike Gösweiner bisher erhalten.
Erzählt wird von der dreißigjährigen Hannah, die sich aus ihrer
Beziehung mit einem angehenden Kinderarzt löst und nach Berlin zieht, um
endlich ihre Karriere als Journalistin in Gang zu bringen und als studierte Arbeitslose zwischen zahllosen Absagen und Liebesenttäuschungen immer weiter in eine Lebenskrise schlittert. Zeit-Kritikerin Ursula März lobt die großartige Darstellung einer persönlichen Krise, die aus zu langem Zögern resultiert. Im rbb-kulturradio ist
Manuela Reichert tief beeindruckt, wie klug, "kühl in Ton und Blick"
und ganz ohne Larmoyanz die Autorin den Abstieg ihrer traurigen
Verliererin und die "modernen Fröste der Freiheit" beschreibt. Für Standard-Kritikerin Christa Gürtler ist
der Roman eine eindringliche Fallstudie über die "prekären
Verhältnisse" einer verlorenen Generation, deren
Selbstoptimierungsstrategie an den neoliberalen Arbeitsverhältnissen
scheitert. Während Gürtler in Gösweiners "präzisen" und "berührenden"
Schilderungen lernt, wie "traurig Freiheit jenseits aller Sicherheiten"
sein kann, liest Karl-Markus Gauß in der Presse eine "unerbittliche" Studie über Einsamkeit, die ganz nebenbei auch die "Herrschaftstechniken" bei Vorstellungsgesprächen beleuchtet. Auf kulturnews.de spricht
die Autorin, die über "Einsamkeit in der jungen deutschsprachigen
Literatur der Gegenwart" promoviert hat, über die Probleme der
Generation Praktikum.
Buch bestellen
Dass sich Szeczepan Twardoch selbst wie ein "polnischer Hemingway"
inszeniert, nehmen ihm die Kritiker nicht übel. Auf die Idee, die
geschundene Erde als allwissende mitleidlose Erzählstimme auftreten zu
lassen, muss man auch erst einmal kommen. Für SZ-Kritiker Helmut
Böttiger ist das schlicht eine "ästhetische Meisterleistung". Mehr noch:
Drach scheint laut Böttiger auf einer "teuflischen Klaviatur" zu
spielen, wenn er über vier Generationen von einer schlesischen Familie
erzählt, zwischen Erstem Weltkrieg und Gegenwart Ereignisse spiegelt und
ungeahnte tiefsinnige Assoziationen freilegt, "derbe" Schlachtszenen
mit humor- und lustvollen Liebeszenen verknüpft und dabei auch noch das
als "Wasserpolnisch" bezeichnete Deutsch-Polnisch der Schlesier
wiedergibt. In der FAZ ist Katharina Teutsch hin und weg von der virtuosen und rasant rhythmischen Text-Montage
über den jahrhundertlangen Kampf um Schlesien - von den Aufständen der
Zwanziger über die Zwangspolnisierung nach 1945 bis zur
"turbokapitalistischen Phase" nach 1945 und zurück ins Mittelalter.
Twardoch hat hier auch einen gewaltigen Recherche-Aufwand betrieben,
erklärt sich beeindruckt. Während Teutsch der Roman als Antwort auf
Maria Janions These vom "westöstlichen Bewusstsein" der Polen erscheint,
scheut Jurek Skrobala im Spiegel
nicht den Vergleich mit Thomas Manns "Buddenbrooks". Ein
tragisch-schönes Buch über Identität, "Sinn und Vergänglichkeit" meint
Skrobala, ein furioses, mit "fotografischer Genauigkeit" entworfenes und
auf jeder Seite bebendes "Monumentalgemälde" voller Schicksale und Geschichten, lobt Paul Jandl in der Welt.
Buch bestellen
Sachbuch
Mit Ulrich Drüners Biografie kommt das beste Buch über Richard Wagner erst drei Jahre nach dem Wagner-Jahr 2013, konstatiert Manuel Brug in der Welt
und bereut doch keine Minute des Wartens. Denn Drüner, 33 Jahre
Bratschist im Staatsorchester Stuttgart, schreibt souverän und
kenntnisreich, akribisch und klug, zugleich in flüssigem und witzigem
Erzählton, informiert über Musikhistorie, Ideengeschichte und
Kunstideologie des 19. Jahrhunderts, fasst die bisherige Forschung
brillant zusammen, liefert "luzide" Werkanalysen und verfügt bei aller
Liebe zu Wagner doch über den nötigen kritischen Blick für Wagners Ambivalenzen,
lobt Brug. Kurz: ein neues Standardwerk, denn egal ob Drüner den
Antisemiten, Luxus-Liebhaber, Nietzsche- und Liszt-Freund, die
Hochbegabung oder das Verhältnis zu Frauen untersucht - stets räumt er
faktengesättigt mit Mythen, Beschönigungen und Selbstinszenierungen
auf und umkreist den "kleinen Mann, der vor seinen Gläubigern
flüchtete, einem König politische Anweisungen gab, witzig und egoistisch
war, schroff und schmeichelnd, abstoßend und gewinnend", so der Welt-Kritiker. In der FAZ
kann sich Eleonore Büning dem nur anschließen: Insbesondere freut sie
sich, dass Drüner "mit überraschendem Bildmaterial und mit apokryphen
Textquellen", etwa mit einer Wagner-Karikatur von Franz Lenbach, neues
Licht auf "scheinbar Bekanntes" wirft und bei aller Schonungslosigkeit
Wagners Musik nicht denunziert.
Buch bestellen
Der pakistanische Autor und Journalist Mohsin Hamid ist vor allem als Romancier bekannt, informiert NZZ-Kritikerin
Claudia Kramatschek. Dass er sowohl den Anschlag auf das World Trade
Center als auch den Bombenanschlag in der Londoner U-Bahn 2007 vor Ort
miterlebte, mag ihn in besonderer Weise dafür prädestinieren, über islamistischen Terrorismus zu
schreiben, und doch verspricht diese Essaysammlung mit Artikeln aus den
letzten fünfzehn Jahr noch mehr, fährt Kramatschek fort: Sie liest in
den Texten, die in die Themenbereiche Leben, Kunst und Politik
unterteilt sind, ein ausgewogenes Plädoyer gegen Vereinheitlichungen und Pauschalisierungen, die sich etwa im Begriff "der Islam" niederschlagen, und für Pluralismus und
das Recht auf Diversität, das beispielsweise in Hamids Heimatland
Pakistan tagtäglich bedroht ist. Auch wenn die Beiträge laut Kramatschek
in Qualität und Aussagekraft variieren, lohnt der Band schon allein für
die schönen Texte über Pakistan, in denen Hamid etwa erzählt, wie er
als Student trotz der damals initialisierten Islamisierung des Landes
die "vitale Gegenwelt der Kunst" entdeckte und wie die Lektüre von
Antonio Tabucchis "Erklärt Pereira" seine eigene Poetologie der Mehrdeutigkeiten beeinflusste.
Während Kramatschek Hamids erhellende und deutliche Kritik an seinem
Land im Bezug auf die sozial getrennten Ethnien, Klassen und Religionen
lobt, vermisst Zeit-Kritiker Leo Schwarz bei aller Sympathie für den Autor Originalität, "harte Thesen und augenöffnende Formulierungen".
Buch bestellen
Pünktlich zum achtzigsten Jahrestag der Olympischen Spiele in Berlin
1936 liegt Oliver Hilmes Buch vor und die Rezensenten sind überwiegend
zufrieden: "Skrupellos" gut findet FR-Kritiker
Harald Jähner das Buch des Historikers, das er zwar keinem Genre
zuordnen kann, aber der "raffinierten" Mischung aus Gesellschaftsroman
und Tagebuchzitaten, Zeitungsartikeln und anderen Quellen sowohl Authentizitätsanspruch als auch Unterhaltungswert
attestiert. Fasziniert streift Jähner mit Hilmes durch ein "bizarres"
Berlin, das von Hitler als Mischung aus "rigider Massendressur" und
ausschweifenden Partys inszeniert wurde, begegnet einem "dichten Strom
unterschiedlichster Menschen" wie Jesse Owens oder der
deutsch-amerikanischen Fechterin und Jüdin Helene Mayer, wohnt den
"konkurrierenden Gartenfesten" von Göring und Goebbels bei und streift
mit Ernst Rowohlt und dem amerikanischen Schriftsteller Thomas Wolfe
durch das Berliner Nachtleben, das in diesen sechzehn Tagen den Rassismus mit aller Macht zu verbergen versuchte. Auf literaturmarkt.info lobt
Christoph Mahnel nicht nur Hilmes "sehr gute Händchen bei der Wahl
seiner 'Snapshots'", sondern auch das finale Kapitel "Was wurde aus...".
SZ-Kritiker Jens Bisky kann sich dem Lob seiner Kollegen nicht anschließen: Während Hans Joachlim Teichler in der FAZ noch hervorhebt, dass Hilmes "die Gleichzeitigkeit von Repression und feierlicher Präsentation fassbar"
macht, moniert Bisky "Klatsch und Tratsch" über Mode, Rezepte, Drinks
und Alkoholprobleme und vermisst handfeste Informationen.
Buch bestellen
Der französische Ethnologe und Anthropologe Marc Augé ist vor allem
durch seine Theorie der "Nicht-Orte" bekannt geworden. Dass er sich nun
dem "Pariser Bistro" widmet, ist für die Rezensenten ein Glücksfall,
denn Augé gelingt es, sich in seinem wunderbar melancholischen Buch dem
"rasenden Verwehen der Zeit" entgegenzustellen und an das "Wunderbare im Alltäglichen" zu erinnern, wie Klaus Bittermann in der taz schreibt. Während für Bittermann Augés Bistro als eine "Form von Widerstand" gegen seelenlose Imbissketten erscheint, erlebt Cornelius Wüllenkemper in der SZ
einen "Ort der sozialen Distinktion und kollektiven Identität", den der
Autor in "kursorischen, locker aneinandergereihten, oft autobiografisch
illustrierten Betrachtungen" skizziert. Dass Augé gleichermaßen als
kenntnisreicher Wissenschaftler und leichthändiger literarischer
Geschichtenerzähler auftritt, wenn er von den Komödien und Tragödien der "romanesken" Orte erzählt, gefällt Wüllenkemper gut. In der NZZ freut sich Oliver Pfohlmann vor allem über Erinnerungen an das Bistro der fünfziger Jahre, als Gäste wie Sartre, Hyppolite, Althusser und de Beauvoir dort diskutierten und tranken. Im Dradio Kultur flaniert
Barbara Wahlster mit Marc Augé durch die Pariser Bistros der Gegenwart.
Lesern, die noch mehr Lust auf Pariser Flair bekommen, sei außerdem Sarah Bakewells "Café der Existentialisten" und Michael Matveevs Roman "Das Viertel der Maler" empfohlen.
Buch bestellen
Für Zeit-Kritiker Thomas Groß ist Jens Balzer, stellvertretender Kulturressortleiter der Berliner Zeitung, der "Frontberichterstatter unter den Popkritikern". Wer könnte also besser für eine derartige "Tour d'Horizon" durch die Welt des Pop
geeignet sein, als der Mann, der sich auf Konzerten von Rihanna und
Lady Gaga ebenso in die Menge wirft wie im Berghain, sich mit
Neo-Rock-'n'-Roll, Freak Folk, oder Drone Metal genauso auskennt wie mit
R'n'B und Hiphop - und nicht mal vor der "semiotischen Katastrophe"
einer Helene Fischer zurückschreckt. Und es bleibt bei keinem Best of
der Balzer-Kritiken, versichert Groß: Der "Ist-Zustand" des Pop werde
ohne historische Herleitungen, aber in scharfsinnigen Analysen
durchkämmt, die ehemals männlich trieb-dominierte Pop-Musik unter postpatriarchalen Verhältnissen
untersucht und die längst zu "postkoitaler Tristesse" verkommene
Darstellung von Sex und Männlichkeit im Pop zugunsten von starken
Frauenfiguren wie Amy Winehouse oder Adele verabschiedet. Während Groß
dem Autor seine männliche "Deutungshoheit" doch ankreidet, ist Jens-Christian Rabe in der SZ
restlos glücklich über die endlich geschlossene Lücke in der jüngsten
Vergangenheit der Pop-Geschichte. Wie witzig, sprachgewaltig, fundiert,
voller Ironie und mit einem würzigen Spritzer Insider-Arroganz sich Balzer zwischen Mainstream und sämtlichen Sub-Subgenres bewegt, erscheint dem Kritiker als Riesenvergnügen. Im Tagesspiegel amüsiert
sich Gerrit Bartels nicht nur über "hermaphroditische Backenhörnchen
auf Metamphetamin" und boshafte Seitenhiebe auf Justin Bieber oder
Rammstein, sondern dankt dem "Anti-Diederichsen" auch dafür, dass er zeigt, wie aktuell Pop immer noch ist.
Buch bestellen
|
Büchersuche
Das Buch beim Perlentaucher
|
|