Maluma und Takete

Lakritzschwarze Tittenkatzen

Die Kunstkolumne. Von Ulf Erdmann Ziegler
26.05.2015. Wie, es gibt keine große Kunst mehr? Etwas, wo einem der Mund vor Staunen offen bleibt? Ausflüge zu sogenannten privaten Stiftungen und zurück in die Giardini von Venedig: der zweite Teil der Begehung einer Kunst von Staaten, die es gibt, und über Staaten, die es nicht mehr gibt.
Der Künstler weint. Freunde und Freundinnen nehmen ihn nacheinander in den Arm. Sie müssen ihn nicht trösten. Sie teilen nur seine Rührung.

Vernissage: Wir befinden uns in einem gewaltigen, langen Flur eines ehemaligen Benediktinerklosters auf der Insel San Giorgio, nur einen Wasserbusstop entfernt von den berühmten Giardini, wo die Biennalepavillons versammelt stehen. Der Künstler ist sehr schmal, hat die Haare hinter seinem kleinen Kopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und deutlich kann man am linken Ohr und drumherum erkennen, dass er mal einen schweren Brandunfall gehabt haben muss. So weiß ich, dass er es ist, der Künstler, während ich vor einem schwarzen Vorhang in einer Schlange warte, um eingelassen zu werden in seine Installation, aus der religiöse Musik schallt, obwohl sie von Enrico Morricone stammt. Denn Giulia, die zur Zeit in der Stiftung Cini Dienst macht, Gäste empfängt, hat mir wenige Stunden zuvor von Giovanni Manfredini erzählt, der sich als Kleinkind am Kaminfeuer verbrannt hat, an einem Tag, an dem die Mutter ihn nicht hüten konnte. Künstler ist er geworden. Nun ist also der Abend seiner Eröffnung gekommen, und er weint.

Fondazioni sind eine grassierende Mode in Venedig. Während die staatlichen Museen vor sich hindümpeln - wertvolle Gemälde ohne Glas bei schlechter Bewachung unter Energiesparlicht -, sind Stiftungen die Eigentümer und Hüter ehrwürdiger Gebäude, die zu Paradeschauräumen umgebaut werden, mit eigenen Sammlungen und selbst bestellten Kustoden und Kuratorinnen. Zweiter Akteur auf der Insel San Giorgio ist das Officina dell"Arte Spirituale, offenbar der kunstaffine Zweig der Basilika, die, anders als das Kloster, mönchisch geblieben ist.

Die Benediktiner haben sich für ihr "kollaterales Ereignis" (zur Biennale) den katalanischen Bildhauer Jaume Plensa eingeladen. In der Kirche selbst steht ein gewaltiger, fast vollkommen transparenter Kopf, am Computer entworfen und aus Stahl geflochten, wie eine Erscheinung. Zweites Element im Kirchenschiff: Etwas solider gestrickt, nämlich aus Lettern aller möglichen Sprachen, zeigt eine schwebende Hand in die Kuppel. Ein Amalgam beider Figuren, nämlich eine Büste aus Lettern, riesig und leicht zugleich, steht auf dem neuen Frankfurter Unicampus, auch dies ein Plensa.


Jaume Plensa, "Together", Officina dell"Arte Spirituale, San Giorgio. Alle Fotos: Ulf Erdmann Ziegler.

Grad um die Ecke, in einer Klostergalerie, geht es mit diesem Künstler weiter. Schock: Man tritt in eine schmale, dunkle Raumflucht, in der fünf monumentale weiße Köpfe aufgebaut sind, hintereinander. Es sind Bilder von Mädchen mit geschlossenen Augen, Bilder insofern, als sie - sofern ich das richtig verstehe - aus Scans hervorgegangen sind, die von Abgüssen gefertigt wurden. Als Alabasterbüsten gehören sie ganz klar zur Welt der Objekte; piktorial haben sie einen Hauch von digitalem Jenseits. Merkwürdigerweise macht sie gerade das erträglich, um nicht zu sagen human. Dies ist der stärkste sinnliche Eindruck, den die Biennale bei mir hinterlassen wird.

Also zurück zum Kernstück, den Giardini. Die Herausforderung, einen Pavillon zu bespielen: Platzmäßig muss man sich das vorstellen wie etwa einen kleineren Schauraum (Pavillon Island), eine größere Galerie (Pavillon Venezuela) oder einen stattlichen Kunstverein (Pavillon Deutschland). Die Herausforderung bleibt, den Pavillon einem heimischen Könner anzuvertrauen, der, wie im österreichischen Pavillon Heimo Zobernig, den sandfarbenen Originalentwurf von Josef Hoffmann (1934) drinnen mit einigen coolen, schwarzen Einlagen konterkariert, vom Spätestjugendstil in eine Brasiliamoderne verwandelt hat - und mehr nicht. Es wird nichts als der Eingriff in das Gebäude ausgestellt. Ob das nun konstruktiv oder ikonoklastisch gemeint ist? Der Preis: Nur wenige hundert Besucher werden die Modifikation (und die Überlegung dazu) verstehen.

Die Alternative zum heimischen Könner ist die nationale Heldin, der man quasi eine Retro anbietet. Joan Jonas, New Yorkerin, fast achtzig Jahre alt, Video-Pionierin der ersten Stunde, hat das im amerikanischen Pavillon für eine Totalinstallation mit Videoscreens und Objekten genutzt, in der Kinder und Jugendliche noch einmal die Rolle spielen, die Jonas als Filmerin für sich entdeckte, etwas zwischen Spiel und Strategie. Viele Überblendungen, Fliegendes, Pastelltöne, anheimelnde Stimmen; Märchensymbole als Mobiles von der Decke. Ein perfektes Alterswerk, makellos. Aber Kitsch von A bis Z. Erkenntnisgewinn: null. (Foto: Joan Jonas vor dem amerikanischen Pavillon mit Pudel Ozu)

Zur Pavillontotalkunst (Zobernig) und dem Lebensspiegel (Jonas) gibt es eine dritte Wahl. Diese bedient sich der Künstler in der Karrieremitte, Leute, die die Kraft haben, den Pavillon einem ureigenen künstlerischen Motiv anzuverwandeln. Es geht dann darum, mit beidem zu spielen, dem eigenen Werk und der nationalen Mission, die durch das Gebäude repräsentiert ist. Dieses und nicht zum ersten Mal ist dem British Arts Council eine solche Wahl geglückt, indem er Sarah Lucas hat machen lassen. Sie gehört zu den Antitypen der Frieze-Hipsterszene, immer am Abkotzen, immer ein Klo in der Nähe.

Der britische Pavillon scheint von außen völlig unverdächtig, aber wenn man eintritt, wird man komplett überrumpelt von einem dottergelben Anstrich, der sich durch alle Säle zieht. Verteilt sind dort zwei höchst merkwürdige Repräsentationen des weiblichen Körpers, Skulpturen, Antiskulpturen. Das eine sind vielbrüstige, schwarze Horrorwesen, die an gedehntes Lakritz erinnern. Lucas nennt so eine Skulptur "black tit cat". Das andere sind helle Unterleiber aus Zement, denen (ganze) Zigaretten eingesteckt sind, wechselweise in den Arsch oder in die Möse - so hat sie"s gemeint. Lucas: "If you happen to be one of those people who feel that the sculptures would have been better without the cigarettes, well, I put them there for you too." Ehrlicher wäre gewesen: "I put them there for you." Ach England, dein Puritanismus!

Damit ist noch nicht alles beschrieben, was im dottergelben Pavillon zu sehen ist, aber die Richtung ist klar. Ob nämlich Kunst oder Antikunst, Eleganz oder deren Karikatur, den Pavillon kann immer die bespielen, die eine reife Bildsprache hat und genügend Standing, um vor der Herausforderung nicht zurückzuschrecken. Kuratoren, die auf Gruppenschauen ausweichen, sagen damit implizit, dass es eine solche Künstlerin (einen solchen Künstler) zur Zeit in ihrem Land nicht gebe. Das ist aber eher eine Frage des Muts oder des Umgangs mit eigenen, eingefahrenen Neigungen und Urteilen.

Dies sind die drei Verfahren, einen Pavillon singulär oder werkmonografisch gestalten zu lassen. Vielleicht haben meine Leser(innen) jetzt den Eindruck, ich wolle sagen, die Biennale oder sogar der ganze Kunstbetrieb sei strukturiert durch Archetypen, die alles beherrschen. Und tatsächlich fahre ich nach Venedig, um zu sehen, ob es diese Kräfte und den Willen und die Werke "noch" gibt. In Mode ist ja das Gegenteil: Kleinteiligkeit, Informationsflut, Anti-Meisterschaft, postkoloniales Kunsthandwerk. Damit würde ich weniger hadern, wenn nicht kulturtheoretisch seit Jahren der "weiße, heterosexuelle, männliche Künstler" beharkt würde, eine Fantasiegestalt, eine Schimäre. Denn schon auf den zweiten Blick zeigt sich, dass jede Biografie ihre Brüche hat und meistens die Kunst genau daraus schöpft. Diese Theorien kleben an Beispielen wie Henry Moore und Jackson Pollock, also gestisch und taktil überwältigende Kunst; aber genauso gibt es ja die flüchtigen Reliefs von Richard Tuttle oder den listigen Minimalismus Timm Ulrichs, die ironische Figuration bei Fischli/Weiss oder die schmuddelige Sinnsuche eines Mike Kelley.

Die Frage kann nicht sein, ob Kunst eher emotional oder intellektuell, angedeutet oder ausgeführt, bunt oder farblos, biografisch oder politisch, moralisch oder abgründig sein möge - und dann machen wir Kreuzchen und sagen, ja, bitte das! Entscheidend bleibt der Horizont und die Produktivkraft eines Künstlers, und dafür finden sich weitere memorable Beispiele in den Giardini: im polnischen, im serbischen und im dänischen Pavillon. Im polnischen läuft auf einer riesigen, gebogenen Leinwand ein High-Tech-Spektakel mit einem Low-Tech-Gegenstand: die Aufführung einer polnischen Oper aus dem 19. Jahrhundert auf einem heutigen Haitischen Dorfplatz (man könnte auch sagen einer Kreuzung). Eine Ziege am Pflock ist dabei; Motorräder fahren durchs Bild. Wer mehr als eine Stunde durchhält, kann miterleben, wie die Hauptdarstellerin singend "stirbt" von J.T. Jasper und Joanna Malinowska, beide in New York lebende Polen. (Foto: Der Belgrader Künstler Ivan Grubanov (links) in den Giardini)


Foto: Im serbischen Pavillon

Im serbischen Pavillon stehen kalkweiße Wände gegen extrem verwaschene, düster-schmutzige Farben am Boden. Der Kontrast strapaziert die Augen und den räumlichen Eindruck insgesamt. Wie weiße Reliefschriften verraten, geht es um den Untergang von Staaten, nämlich solchen, die auf irgendwann einmal auf der Biennale ausgestellt haben sollen, zum Beispiel: k.u.k., DDR, Südvietnam, die Vereinigte Arabische Republik, Tibet und ... Jugoslawien. Die eigentümliche Fleckung des Bodens stammt aus einer monatelange Arbeit des Entfärbens von Flaggen, die der Belgrader Künstler Ivan Grubanov geleistet hat - Trauerarbeit?, schwer zu sagen -, und die Stoffreste liegen in Haufen herum. Es wirkt, als habe er hochgeladene Symbole zurückzwingen wollen in die Natur. Ich musste an Wolfgang Laibs Rauminstallationen mit monochromen Blüten denken, die vor vielen Jahren mal sehr angesagt waren.

Danh Vo wurde am Ende des Vietnamkriegs geboren; als späte boat people 1979 von einem dänischen Handelsschiff aufgegriffen, kam seine Familie nach Dänemark. Er ist Absolvent der Frankfurter Städelschule und wohnt in Berlin. Seine Kunst besteht aus Zitaten und Fragmenten und ist auf den ersten Blick weder zeitlich noch herkunftsmäßig zu situieren. Den dänischen Pavillon hat er extrem karg bestückt; dafür aber eine externe Ausstellung kuratiert, die reichlich Gelegenheit bietet, sein Handwerk schätzen zu lernen und seinen Kunstmodus jedenfalls ansatzweise zu begreifen.

Während die Stiftung Cini kirchennah operiert, kann davon bei der Pinault Collection keine Rede sein. Zur Sammlung gehört der Abguss einer Rodinfigur, eine Tänzerin liegend mit gespreizten Beinen, ein Fragment eigentlich, weil sie keinen Kopf hat und keinen linken Arm. Dafür ist der anatomische Rest geladen mit Energie und durchaus explizit. "Sie" ist Teil einer Ausstellung, die Danh Vo mit der Kuratorin Caroline Bourgeois in der Punta della Dogana installiert hat, einem mit enormem Geschick zur Kunsthalle ausgebautem Salzlager. Das kuratorische Prinzip ähnelt dem, das Markus Brüderlin in Wolfsburg probiert hat, nämlich Vergleiche anzubieten, bei denen Objekt A und B sichtbar sind, das tertium comparationis aber nicht. Der Parcours von Vo und Bourgeois zeigt sich sogar noch offener, wilder, springend von frühen Bibelillustrationen (sogenannten "Illuminationen") des 13. Jahrhunderts über die Klassiker (wie Rodin) und unmittelbare Vorläufer (wie Paul Thek) zu den Zeitgenossen; eine Serie von Fotografien Peter Hujars aus den 1980er Jahren in New York verfehlt nicht ihre - schwul-melancholische - Wirkung. Vo als Bildhauer greift in alle Register, vom morbide Figürlichen über winzige Kommentare (wie einen goldenen Ring, der eine kleine vietnamesische Erzählung illustriert) bis zu Pop und Trash. Sein stärkster Gegenpart ist Jean-Luc Moulène, der sich mit größter denkbarer Eleganz im Ekelregister bewegt, das Menschliche ins Unmenschliche knetet. (Foto: Junge Besucher entschlüsseln ein Werk von Danh Vo, Punta della Dogana)


Foto: Auguste Rodin, "Iris messagère des dieux" in der Punta della Dogana, Pinault Collection

Die schwebende Intellektualität scheint keinerlei Nähe zur "spirituellen Kunst" auf der Insel San Giorgio zu haben, aber siehe da: Die alten Illuminationen wurden sämtlich von der Fondazione Cini geliehen. Was mich daran erinnert, wo ich eigentlich diesen Bericht begonnen hatte, nämlich im Flur (oder sagt man Säulengang?) des ehemaligen Benedektinerklosters dort auf der Insel. Und, oh!, sehr guter Rotwein wird hier ausgeschenkt zur Vernissage von Giovanni Manfredini, der nun auch nicht mehr weint, oder nicht mehr so sehr. Es öffnet sich der schwarze Vorhang, und ich werde eingelassen. Ein pechschwarzer Raum. Zur Musik von Morricone schwebt weit über Kopfhöhe ein vergoldeter Dornenkranz, ganz realistisch in der Größe, minimal beleuchtet. Vor der dunklen Nische steht eine Holzbank, auf der man knien darf, und eine Besucherin tut genau das.

Womit wir die Grenze definitiv überschritten haben von der Kunst zur Religion. Giulia (die hier arbeitet und fließend englisch und französisch spricht) kennt auch die Geschichte dahinter, die mit Giovannis aufopferungsvollen Mutter zu tun hat, die sich ihrem verunglückten Kind in einzigartiger Passion zuwandte. Aber nein: Es gibt zu viel Kunst und zu viele Geschichten dazu. Der angekokelte, weinende Giovanni Manfredi rührt mich durchaus, aber seine katholische Inbrunst, dieser blöde goldene Kranz, schwebend da oben: Das kann mir gestohlen bleiben. Doch, es gibt größere Dinge. Vielleicht sogar große.